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Ohnmächtig vor Zorn

Ohnmächtig vor Zorn

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Sybille Kleinicke ist Rechtsanwaltsgehilfin und engagiert sich im Arbeitskreis Jura der Parkschützer. Nach mehr als zwei Jahren des Protests ist sie bitter enttäuscht und zornig. Wir haben sie gebeten, sich ihre Gedanken von der Seele zu schreiben. Herausgekommen ist ein sehr persönliches und außerordentlich zorniges Dokument aus den Tiefen des Widerstands, das zeigt, wie bei den Aktiven Parkschützern gedacht und gefühlt wird.

Sybille Kleinicke ist Rechtsanwaltsgehilfin und engagiert sich im Arbeitskreis Jura der Parkschützer. Nach mehr als zwei Jahren des Protests ist sie bitter enttäuscht und zornig. Wir haben sie gebeten, sich ihre Gedanken von der Seele zu schreiben. Herausgekommen ist ein sehr persönliches und außerordentlich zorniges Dokument aus den Tiefen des Widerstands, das zeigt, wie bei den Aktiven Parkschützern gedacht und gefühlt wird. Der Wortlaut:

"Das Projekt Stuttgart 21 mag für viele Menschen nur ein Pickel in der Weltgeschichte sein. Aber je weiter man an dem Pickel herumdrückt, je mehr Eiter herausläuft, umso mehr erkennt man die Zusammenhänge – wie in der Welt insgesamt Politik und Wirtschaft zusammenarbeiten. Es geht um Milliardengewinne für einige wenige, und bezahlen dürfen es die Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland, aber auch in der EU. Die Menschen in Stuttgart bezahlen jedoch den höchsten Preis: Sie bezahlen mit Lebensqualität und Heimatverlust durch diese Stadtzerstörung, die einzigartig in der Geschichte der Bundesrepublik ist.

Die Geschichte des Bahnhofs ist gleichzeitig auch die Geschichte unserer Welt, wie sie funktioniert, wer das Sagen hat, und sie erlaubt auch Rückschlüsse darauf, wie mit Menschen umgegangen wird, die sich die Freiheit nehmen, eine andere Sicht einzunehmen, die dies laut tun, und vor allem, die es hartnäckig tun.

Unsere deutschen Politiker überschlagen sich mit dem Lob für den Arabischen Frühling, jedoch nur, um den Weg für die Wirtschaftslobbyisten freizumachen, die dann ihre Profite auf Kosten der dortigen Bevölkerung maximieren. Man nennt das dann Aufbauarbeit. Gleichzeitig werden von der deutschen Politik Waffenexporte in genau diese Länder bewilligt. Dass diese Menschen jedoch von einer Diktatur in die nächste katapultiert werden, wird dabei geflissentlich verschwiegen. Letztendlich macht es keinen Unterschied, ob man seinen Schlächter selbst wählen darf oder nicht. Das Ergebnis ist das gleiche.

Hierzulande echauffieren sich die selben Politiker über Kritik an ihrem Handeln und hetzen den Menschen, die es wagen, sich gegen ein menschenverachtendes System zu stellen, genauso Polizeitruppen auf den Hals. Der feine Unterschied liegt darin, dass das demokratisch ist und es, bislang, noch keine Tote gegeben hat.

Am 30. 9. 2010 haben unsere Politiker, vor allem der ehemalige Ministerpräsident Stefan Mappus, jedoch gezeigt, dass sie selbst das billigend in Kauf nehmen würden. Herr Mappus konnte diesen Einsatz nur mit Rückendeckung der Kanzlerin fahren. Denn auch Frau Merkel hat ein allergrößtes Interesse daran, dass der Widerstand gegen Großprojekte schnell im Keim erstickt wird. Er behindert das vermeintliche Wirtschaftswachstum und damit die Gewinnmaximierung ihrer Freunde in den Banken und in der Finanzindustrie.

Es geht nicht um die Menschen in der Bundesrepublik, es geht um die Wirtschaft. Diese Zusammenhänge werden einem immer klarer, je weiter man sich mit dem Thema Stuttgart 21 auseinandersetzt. Ein weiteres Beispiel für die unsäglichen Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft ist auch in der Causa Wulff zu sehen. Rückgrat haben weder Herr Wulff noch Frau Merkel.

Wenn man dann aufmerksam verfolgt, wie sich Frau Merkel und ihr Freund Sarkozy in Europa aufführen und die griechische Bevölkerung in eine Knechtschaft führen wollen, dann muss man sich als fühlender und denkender Mensch einfach die Frage stellen, ob man das mittragen kann und will. Empörung im kleinen Kreis am Stammtisch reicht nicht mehr aus. Dieser Empörung muss zwingend Handlung folgen.

Bei aller Misswirtschaft in Griechenland – die dortige Bevölkerung in Sippenhaft in Armut absinken zu lassen, zeugt von einer Menschenverachtung, die einer Demokratie nicht würdig ist. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Diese Würde wird den Griechen in Rekordzeit entzogen. Welch ein Hohn, wenn man sieht, dass vor allem die Banken daraus Profite ziehen. Das Totsparen einer Volkswirtschaft im EU-Raum wird unweigerlich den ganzen EU-Raum ins Wanken bringen, weil der Handel untereinander stagnieren wird.

Das wird Deutschland besonders hart treffen, wenn der Export einbricht. Da nützt es auch nichts mehr, wenn z. B. die Arbeitslosenzahlen durch Weglassen manipuliert werden. Es wird auch nicht helfen, wenn Zahlen des Statistischen Bundesamtes durch so hochwertige Zeitungen wie "Spiegel", "Süddeutsche Zeitung" und "Frankfurter Allgemeine" falsch interpretiert werden und dem deutschen Michel suggeriert wird, alles sei in bester Ordnung. Die Wahrheit wird die deutsche Bevölkerung vermutlich wie ein Schlag treffen.

Aber wir geben noch immer Geld für sinnentleerte Großprojekte wie Stuttgart 21 aus. Selbst dann, wenn eine Bürgerbewegung nachgewiesen hat, dass der geplante Umbau des Stuttgarter Bahnhofs einen Rückbau der Schiene bedeutet. Wenn dann noch die Tatsache hinzukommt, dass die Neubaustrecke nicht tauglich ist, um Güterzüge zu nutzen, dann muss die Frage erlaubt sein, was sich die Politik dabei denkt. Sie wird dabei an die Gewinnmaximierung der Banken-, Finanz- und Immobilienindustrie denken. Das treibt die Menschen auf die Straße – vor allem, wenn es um ihre Heimat geht.

Man will sich nicht wirklich vorstellen, wie es sein wird, wenn die Bäume des Schlossgartens gefällt, der Nord- und der Südflügel sowie das H 7, die Bahndirektion in der Heilbronner Straße, abgerissen sind und die Eurozone im Chaos versinkt. Das Szenario ist nicht auszuschließen, von niemandem. Es wird sogar tagtäglich realer. Zumindest wird fleißig auf jedem Europagipfel daran gearbeitet.

Es lässt einen fast ohnmächtig vor Zorn werden, wenn man sich als Bürger/-in gegen ein Projekt stellt, Alternativen fachlich fundiert aufzeigt, Experten zur Seite hat, um dann letztendlich zu erleben, wie ein solches Projekt durchgezogen wird. Selbst der Schlichterspruch wird ad absurdum geführt. Etwas, was viele in der Bewegung von vorneherein gewusst haben, als die Politik mit der Schlichtungsidee ankam.

Dass der Stresstest – nachgewiesenermaßen – vonseiten der Bahn manipuliert wurde, verwundert dann auch nicht weiter. Die sogenannte Volksabstimmung war das letzte Glied in der Kette der Reihe "Opium fürs Volk". Von vorneherein gab es keine Waffengleichheit, was auch Sinn und Zweck der Übung war. Die Gegner von Stuttgart 21 hätten zum Boykott aufrufen sollen, anstatt sich mit viel Manpower in einen Wahlkampf zu stürzen, der sinn- und zwecklos war. Warnende Stimmen gab es genug, aber man wollte ja nicht als undemokratisch gelten.

Jetzt steht die Bürgerbewegung als Verlierer der Volksabstimmung da, wobei völlig ausgeblendet wird, dass die Deutsche Bahn AG durch Herrn Grube bereits vor der Volksabstimmung klar und deutlich gesagt hat, dass sie ihr Baurecht durchsetzen werde. Sie sei vertraglich verpflichtet, Stuttgart 21 zu bauen, egal wie das Volk entscheide. Die Propagandamaschine läuft, und sie lässt die Bevölkerung, die sich gegen Stuttgart 21 engagiert, schlecht dastehen.

Wenn die Polizei jetzt im Vorfeld der Parkräumung von einem D-Day spricht, so lässt dies eigentlich nur den zwingenden Schluss zu, dass die Mächtigen in diesem Land Krieg gegen den aufmüpfigen Teil der Bevölkerung in Stuttgart führen. Vielleicht beruhigt es ein wenig, wenn man weiß, dass dieses propagandistische Stilmittel alljährlich auch in Gorleben eingesetzt wird.

Nichtsdestotrotz lassen die Pressemitteilungen des Polizeipräsidenten in den vergangenen Tagen ahnen, was da auf uns zukommen kann. Es ist Krieg – und die Menschen, die ihren Schlossgarten verteidigen wollen, haben die Botschaft so aufgenommen. Auf beiden Seiten steigt die Fieberkurve, und es bleibt abzuwarten, wie der sogenannte D-Day in Stuttgart ablaufen wird.

Selbst wenn sich die Menschen friedlich verhalten, so haben sie die Presse jetzt gegen sich, was bedeutet, dass eine Berichterstattung über Polizeiübergriffe wohl nicht mehr stattfinden wird. Aber jede kleine Verfehlung der Parkschützer wird in Augenschein genommen und ausgeschlachtet werden.

Ich wünsche uns allen, dass wir dann die Kraft entwickeln, das System, in dem wir leben, insgesamt infrage zu stellen und uns mit den anderen Bewegungen in Deutschland, insbesondere der Occupy-Bewegung, zu vernetzen, um die Politik zu zwingen, für und nicht gegen die Bevölkerung zu arbeiten.

Denn alle Politiker dieser Welt scheinen vergessen zu haben, dass sie die Angestellten auf Zeit des Souveräns sind. Und dieser Souverän sind die Menschen eines Landes und nicht das Kapital und die Banken."


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3 Kommentare verfügbar

  • Sofi21
    am 13.04.2012
    Antworten
    Zitat:
    Viele Diskussionen drehen sich um Fakten
    viele Ansichten umgeben sich mit nackten,
    Zahlen, die nur in die Irre führen,
    würde man jedoch die Wahrheit küren,
    folgte die Vernunft dem Sinn,
    wär nicht immer öfter
    alles hin.

    Kopie aus Parkschützer.de
    PS31608
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