KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung
Ausgabe 361

Keine Schmerzen

Keine Schmerzen
|

Datum:

Erst erhöht die Stadt Stuttgart die Nutzungsgebühren für Flüchtlingsunterkünfte drastisch, ein halbes Jahr später reduziert sie sie wieder ein bisschen. Der grüne Sozialbürgermeister Werner Wölfle, federführend für den Vorgang, spricht im Interview über die Hintergründe.

Herr Wölfle, als die Stadt Stuttgart im September die Nutzungsgebühren für Flüchtlingsunterkünfte deutlich hochgeschraubt hat, gab es große Proteste. Wie haben Sie das in den vergangenen Monaten erlebt?

Gebühren sinken nach Erhöhung

Zum 01. September vergangenen Jahres verdreifachte die Stadt Stuttgart die Nutzungsgebühren für ihre Flüchtlingsunterkünfte. Statt 120 Euro kostet ein Platz mit 4,5 Quadratmetern (qm) Wohnfläche seitdem 390 Euro, sieben qm schlagen mit 606 Euro zu Buche (Kontext berichtete). Nach zivilgesellschaftlichen Protesten und einer Evaluation der Erfahrungen durch die Stadtverwaltung wird der Gemeinderat voraussichtlich am 8. März zusätzliche Ermäßigungen und Ausnahmeregelungen beschließen. Diese umfassen vergünstigte Gebühren für Selbstzahlende (250 Euro für sieben qm) und unverheiratete Kinder (100 Euro für sieben qm), außerdem wurden die Höchstbeträge für Paare und Alleinstehende mit zwei oder mehr Kindern von 1420 Euro bei sieben qm auf 700 Euro, beziehungsweise von 1065 Euro bei sieben qm auf 450 Euro reduziert. (min)

Es gab große Resonanz auf das Thema. Auch wenn sehr kritische Stimmen darunter waren, sage ich klar: Das ist ein gutes Zeichen für das Klima in unserer Stadt. Es ist schön zu sehen, dass es hier so viele Menschen gibt, die sich einfach auch um andere sorgen. Das ist die positive Seite und sicher keine Selbstverständlichkeit. Umso wichtiger ist es, zwischen realen Verhältnissen und persönlichen Vermutungen zu unterscheiden. Deswegen war es für uns als Stadtverwaltung wichtig, nach einem halben Jahr auszuwerten, welche Auswirkungen die Gebühren konkret haben.

Inzwischen liegt eine Evaluation vor. Was sind die zentralen Erkenntnisse für Sie?

Letztlich war die Zahl der selbstbezahlenden Personen, die von den Erhöhungen betroffen ist, überschaubar. Daher war "Abzocke" nur eine Unterstellung. Uns ging es um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Ausgaben der Stadt und einer guten Unterbringung, die zumutbar und bezahlbar ist. Die Evaluation hat gezeigt, an welchen Stellschrauben wir noch drehen müssen. Und aus allen Fraktionen im Gemeinderat haben wir Zustimmung zu den Anpassungen signalisiert bekommen.

Mit den Änderungen an der Satzung wird es ein paar Ermäßigungen geben. Aber standardmäßig 90 Euro pro Quadratmeter zu verlangen, das ist selbst für luxuriöse Neubauten in exklusiver Spitzenlage noch ein stolzer Preis. Wie kommt es dazu, dass die Nutzungsgebühren so deutlich über den gewöhnlichen Mieten des Wohnungsmarktes liegen?

Erfreulicherweise werden normale Wohnungen nicht für maximal zehn Jahre gebaut. Bei einem Großteil unserer Gemeinschaftsunterkünfte handelt es sich aber um Systembauten, die eine besondere Qualität haben. Aber ihre 'Laufzeiten' sind begrenzt. Denn wir haben sie zum Großteil auf Standorte gebaut, für die wir baurechtlich nur eine Genehmigung für zwei Mal fünf Jahre haben. Auf diese Zeitspanne mussten wir also die Abschreibung ansetzen, dadurch kommt ein Großteil dieser Kosten zustande. Und der Bundesrechnungshof wird sich sehr genau anschauen, was wir als Kosten angegeben haben und wie wir das nachweisen können. Spätestens bei dieser Überprüfung hätte es ja Probleme gegeben, wenn wir da irgendwelche Phantomzahlen hinterlegt hätten.

Das heißt, bei einem Kostendeckungsgrad von 100 Prozent wären Bau und Unterhalt der Gemeinschaftsunterkünfte für die Stadt Stuttgart kostenlos?

Gerhard Schick

Werner Wölfle (64) ist seit August 2016 Sozialbürgermeister von Stuttgart. Der Diplom-Sozialarbeiter war zwischen 1994 und 2011 Mitglied im Gemeinderat der Landeshauptstadt, seit 1996 saß er dort der grünen Fraktion vor. Wölfe war fünf Jahre lang Abgeordneter im Landtag von Baden-Württemberg, bevor ihn der Stuttgarter Gemeinderat Ende 2011 zum Bürgermeister für Allgemeine Verwaltung und Krankenhäuser wählte. (min)

Theoretisch wäre das so. Wie viele andere Gemeinden musste auch Stuttgart neu bauen, um genügend Unterbringungsplätze zu schaffen. Dadurch hat sich unsere Ausgabesituation drastisch verändert und mit der Anpassung der Gebühren bekommen wir mehr Geld von Land und Bund zurück. Die sind darüber nicht besonders erfreut, logischerweise. Aber Bund und Länder können die Städte bei dem Thema nicht allein lassen.

Die Nutzungsdauer der Systembauten ist zeitlich befristet, eine Nachnutzung ist bislang nicht geplant. Heißt das, die gerade erst neu gebauten Unterkünfte müssen bald schon wieder abgerissen werden?

Nach aktuellem Baurecht trifft das zu. Die Wohnraumsituation ist in großen Teilen der Bundesrepublik so angespannt, dass die Politik hier nach Erleichterungen sucht und überlegt, Vorhandenes weiterzunutzen. Da zeichnet sich unter einer möglichen neuen Bundesregierung einiges ab. Deswegen gehe ich davon aus, dass wir in ein paar Jahren vor einer anderen Situation stehen werden. Aber wie genau die aussehen wird, kann heute niemand wissen.

Nicht nur Geflüchtete suchen in Stuttgart nach preisgünstigem Wohnraum. Statt zeitlich befristete Systembauten für Geflüchtete zu erstellen, wäre es vielleicht die geschicktere Strategie gewesen, generell mehr günstige Mietwohnungen zu schaffen?

Die Kommune will ich sehen, die für Geflüchtete preiswerten, regulären Wohnraum geschaffen hat und die dort unterbringen konnte. Insbesondere im Herbst 2015 war der Druck so immens, dass die meisten Gemeinden und Städte die Geflüchteten in Notunterkünften wie Turnhallen untergebracht haben. Beim preiswerten Wohnbau haben wir als Stadt unsere Anstrengungen intensiviert, aber das braucht einfach Zeit. Und ich möchte auf eine Zahl hinweisen, die auch für uns in der Verwaltung überraschend ist: Jeden Monat ziehen im Schnitt 150 Personen aus den Unterkünften in Privatraum um.

Heißt das, die Gemeinschaftsunterkünfte stehen bald leer?

Keinen Meter. Statt mindestens 4,5 Quadratmetern pro Person wollen wir Geflüchteten künftig sieben Quadratmeter zur Verfügung stellen. Das ist für die Stadt eine freiwillige Leistung, aber selbstverständlich für uns. Genauso wie die Einrichtung von Sozialräumen oder Räumen für Schwangere. Die Geflüchteten müssen sich auch außerhalb ihres Zimmer aufhalten können. Und deswegen bin ich froh, dass wir aktuell relativ hohe Kapazitäten haben. Trotzdem fehlen uns durch diese Umstellung mittelfristig 500 bis 900 Unterbringungsplätze, die wir bis Ende 2019 geschaffen haben wollen. Hinzu kommt: Jeden Monat ziehen zwar Leute aus, aber wir haben immer noch neue Zuweisungen. Das sind im Schnitt etwa 200 Menschen, die nach Stuttgart kommen, im Saldo liegen wir also bei -50 Plätzen im Monat.

Für die Aufenthaltserlaubnis in Deutschland ist es vorteilhaft, wenn man eigene Einkünfte vorweisen kann. In der Evaluation war die Rede davon, dass sich die erhöhten Nutzungsgebühren auch auf den ausländerrechtlichen Status auswirken könnten. Dort wurde aber nicht ausgeführt, ob es solche Fälle tatsächlich gegeben hat. Ist so etwas vorgekommen?

Das war für mich, der sich ja auch in der Härtefallkommission engagiert, einer der größten Prüfsteine, ob wir mit der neuen Satzung Fehler gemacht haben. Dort prüfen wir Einzelfälle und kein einziges Mal gab es nur wegen neuen Gebühren Probleme.

Sie werden bald der neue Vorsitzende der Härtefallkommission, die bei ihrer Arbeit nicht an ausländerrechtliche Auflagen gebunden ist. Bei den Grünen ist das Thema Abschiebungen, insbesondere nach Afghanistan, ein extrem kontroverses Thema. Wie gehen Sie damit um?

Die Härtefallkommission hat hier keine eigene Entscheidungskompetenz, sondern richtet ein Ersuchen an das Innenministerium, das darüber urteilt, ob eine Ausnahme gemacht wird oder nicht. Dabei handelt es sich immer um Einzelfälle. Ich bin seit 2016 in der Kommission und dort habe ich auch Leute erlebt, die sich anstrengen. Sie versorgen sich selbstständig und bringen sich so in die Gesellschaft ein, wie wir das gern von allen Leuten hätten. Für uns als Gesamtgesellschaft ist es von Vorteil, wenn wir solche Leute in unserem Land halten. Die können nämlich Vorbild für andere sein.

Wenn in einem Land, in das Abschiebungen rechtlich erlaubt sind, Krisen und Kriege herrschen, ist das nicht Grund genug für einen Härtefall?

Nein, das betrifft ja ein Kollektiv, hier geht es um individuelle Einzelfälle. Um es klar zu sagen: Ich bin sehr froh, dass es die Härtefallkommission gibt. Aber sie ist kein Korrektiv für die bundesweite Gesetzgebung. Wir haben keine gesteuerte Zuwanderung und es genauso wenig geschafft, uns auf ein Einwanderungsgesetz zu einigen. Das bedauere ich seit 30 Jahren. Dass wir Migration brauchen, leuchtet wahrscheinlich den meisten Deutschen ein.

Was wären denn die Kriterien, die Sie an Zuwanderung stellen wollen? Wäre eine Voraussetzung dafür, einwandern zu dürfen, dass davon ein positiver Effekt auf die inländische Wirtschaft zu erwarten ist?

Ich habe keinen Schmerz damit, dass eine Gesellschaft darüber entscheidet, wer in dieses Land zusätzlich einwandern kann, und ich finde es legitim, dort zu steuern, wo Handlungsbedarf besteht. In der Regel steuert der Arbeitsmarkt. Und dass er Zuwanderung braucht, ist weitgehend unstrittig. Man denke nur an die Pflege als Beispiel. Da gibt es Zuwanderung, von der beide Seiten profitieren. Das zeigt die Forschung zu Wanderungseffekten. Die Menschen bleiben in Kontakt zu ihren Heimatländern, schicken Nachrichten oder oft auch Geld. Manche kehren auch wieder zurück. Ich sage: Migration ist eigentlich für alle positiv.

Gilt das auch für Länder, die hier begehrte Fachkräfte selbst ganz gut gebrauchen könnten?

Klar. Wir als Menschen haben das Wandern in unseren Genen. Wir ziehen dorthin, wo wir glauben, am besten zu leben. Das hat der Neandertaler schon gemacht, als es noch keine Staatsgrenzen gab. Wenn jetzt im Kosovo gut ausgebildete junge Menschen, die sich für die Pflege interessieren, hier arbeiten, dann haben sie ein ordentliches Einkommen und können davon in ihrem Heimatland investieren und so zum Wachstum dort beitragen.

Wenn durch einseitige Wohlstands- und Vermögensverteilung immer Spannungsgefüge entstehen: Ist das nicht ein Argument, diese extremen Differenzen abzubauen?

Es ist ja eigentlich ein Gemeingut: Wenn wir es nicht schaffen, das Ungleichgewicht auf unserer Erde besser auszutarieren, sind wir am Ende alle die Leidtragenden.

Das denke ich mir auch oft, nur sehe ich eher selten ernsthafte politische Bemühungen in diese Richtung.

Das ist eben der Wettstreit von Ideen und auch Durchsetzungsfähigkeit. Wenn man unter Gleichgesinnten ist, denkt man sich oft, das müssten ja eigentlich alle Vernünftigen so ähnlich sehen. Das ist leider nicht so. Als Sozialbürgermeister sage ich, dass die Ungleichheit der Vermögensverhältnisse weltweit und auch in unserem Land zu Spannungen führt, die gesamtgesellschaftlich schlecht sind. Die Diagnose allein ändert nichts. Deshalb achte ich darauf, dass wir als Kommune alles tun, was wir im Sozialbereich tun können.

Zum Beispiel?

Glücklicherweise gibt es in unseren Gemeinschaftsunterkünften einige Geflüchtete in den unterschiedlichen Stadien des Aufenthaltsrechtes, die einen Ausbildungsplatz gefunden haben. Durch komplizierte Bürokratie bekommen sie durch Bafög und BAB aber nur maximal 250 Euro als Wohngeld bezuschusst. Also werden wir die Gebühren für diese Personengruppe in der neuen Satzung auf diesen Betrag reduzieren Zusätzlich können junge Geflüchtete, deren Asylverfahren noch nicht positiv entschieden wurde, als Freiwilligkeitsleistung der Stadt Stuttgart Sozialleistungen erhalten, wenn sie eine Ausbildung machen.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


5 Kommentare verfügbar

  • Andromeda Müller
    am 04.03.2018
    Antworten
    Und noch 3 schöne Links zu Reportagen bzgl. , Herr Wölfle, dem Fachkräftemangel , 2 x Ingenieure im Ramschangebot :
    1 x ZDF
    https://www.youtube.com/watch?v=IIV-P6K2t4M
    1 x plusminus
    https://www.youtube.com/watch?v=btXMYFhlK94
    1x einserkandidat.de
    https://www.youtube.com/watch?v=G-ST3EUcwJY
    incl. 15…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!