Was wird aus dieser Stadt? Was wird aus Stuttgart nach S 21? Wenn das Alternativlose ohne Alternative bleibt oder das Unumkehrbare umgekehrt wird. So oder so – Stuttgart wird über ein Leben danach nachdenken müssen. Ein Leben, das ein anderes sein muss, sein wird, wenn es aufnimmt, was es in den vergangenen Monaten und Jahren so faszinierend gemacht hat: die Wachheit. Darüber muss jetzt nachgedacht werden, damit die so aufgewühlte wie aufgeweckte Bürgergesellschaft eine Perspektive hat. Wenn es stimmt, dass die Stadt den Bürgern gehört und nicht den Spekulanten jedweder Couleur, dann müssen dafür Wegweiser her. Die Kontext:Wochenzeitung hat fünf prominente Stuttgarter Bürger, die etwas zu sagen haben, um Antworten gebeten.
Eine Stadt bekennt Farbe
von Petra von Olschowski
Dass die Diskussion um das Bahnhofsprojekt S 21 die Gesellschaft in Stuttgart verändert habe, ist inzwischen so oft geschrieben und beschworen worden, dass die These selbst den genauen Blick auf die Situation verstellt. Es passt eben in das Kehrwochen-Klischee, wenn man behauptet, aus den braven Schwaben seien "Mut-" und "Wutbürger" geworden, die Grün statt Schwarz wählen und entdecken, dass es außerhalb des eigenen Gartenzauns eine Welt gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Es heißt, es entstehe eine neue Bürgergesellschaft, die vorbildhaft sein könne. Erstaunlich ist dabei für mich, dass mit dieser Bürgergesellschaft nur die Gegner des neuen Bahnhofs gemeint sind, nicht die Befürworter. Es scheint sich also um eine geteilte Bürgergesellschaft zu handeln, nicht um eine gemeinschaftliche, um eine richtige und eine falsche, um eine, in der der eine Teil auf der Straße agiert, der andere in den Hinterzimmern, in der aber erst miteinander geredet wird, wenn die Wasserwerfer ihren Schaden schon angerichtet haben.
Ich bin nicht sicher, ob wir tatsächlich schon eine gesellschaftliche Situation erreicht haben, in der der Bürger erkannt hat, dass er es sein müsste, der darüber entscheidet, wie unsere Welt aussieht.
Vergisst man das Bild der Mut-Wut-Bürger und betrachtet die Entwicklungen der letzten Zeit, die sich in Wahrheit nicht ganz so simpel gestalten, wie oben beschrieben, dann gibt vor allem ein Detail Grund zu der Hoffnung, in Stuttgart sei wirklich etwas in Bewegung geraten. Insbesondere im Widerstand gegen S 21 (und darin unterscheidet er sich fundamental von den Befürwortern) zeigt sich nicht nur politisches Interesse, sondern – und das ist neu – ein großes kreatives Potenzial. Damit meine ich nur zum Teil die zahlreichen, oft originellen Ausdrucksformen, mit denen Meinung kundgetan wird auf klassischen Medien wie Plakaten, T-Shirts, Buttons, Schals, Mützen, in Songs, Texten, Büchern und vielem mehr. Laufend entstehen neue Motive, Slogans, Formen. Gruppen aus Künstlern, Musikern, Theaterleuten und Menschen, die mit öffentlichen Aktionen bisher wenig zu tun hatten, bilden sich. Zeitungen entstehen, neu gebildete, unabhängige Fernsehteams sind unterwegs und erproben andere Formate, Internetforen werden eingesetzt. Mit dem "Schwabenstreich" wurde die vermutlich weltweit größte tägliche Performance-Aktion ins Leben gerufen, an der sich monatelang Tausende von Bürgern(!) beteiligten. Eine Stadt wird zur Bühne und bekennt im wahrsten Sinn des Wortes Farbe: tönt, singt, klingt, dichtet – lebt!
Das alles ist Ausdruck einer neuen Haltung. Auslöser für viele dieser neuen Formen ist der Impuls, die Dinge und Entscheidungen, die vielen bisher eindeutig und klar erschienen, einmal anders zu sehen, spielerisch zu verändern, auf den Kopf zu stellen, von hinten zu lesen, neu zu denken. Das ist die große Chance, die in diesem Widerstand liegt. Es sind diese wachen Köpfe (die ja nicht einfach sagen, nichts soll sich ändern), die Modelle entwickeln, die für die Zukunft dieser Stadt und anderer Städte von Bedeutung sein können. Dabei spielen Themen wie veränderte Wohn-, Lebens-, Familienkonzepte, Umweltschutz, Stadt- und Verkehrsplanung eine große Rolle, aber auch künstlerische Fragen im Kontext von öffentlichem Raum und kulturellen wie sozialen Strukturen.
Würde man also diese Kraft des Infragestellens und die Dynamik, die im Schaffen von zum Teil utopischen Konzepten liegt, als die eigentliche Innovation und als urbane Qualität begreifen, wäre der erste Schritt in Richtung einer lebendigen Bürgergesellschaft getan. Einer Gesellschaft, die sich als gemeinschaftlich, informiert, wach, offen und tolerant versteht. Der es darum geht, es nicht den Berufspolitikern und den Wirtschaftsmanagern zu überlassen, wo diese Stadt in zwanzig Jahren steht. Die Frage, wie viele Züge in wie vielen Minuten durch einen Bahnhof rasen, ist wichtig für Bahningenieure. Nicht für die Bürger als Architekten der Zukunft.
Petra von Olschowski, Jahrgang 1965, Kunsthistorikerin und Journalistin, ist seit September 2010 Rektorin der Kunstakademie Stuttgart. Von 2002 bis 2010 stand sie an der Spitze der Kunststiftung Baden-Württemberg. Davor war von Olschowski Kulturredakteurin der "Stuttgarter Zeitung".
Planungszellen und Bürgergutachten
von Susanne Eisenmann
Die zentrale Frage, die hinter den Protesten um Stuttgart 21 steht, lautet: Kann sich unsere Gesellschaft noch über tief greifende Reformen und große Projekte verständigen? Die Frage ist Teil einer grundlegenden Entwicklung, die seit Längerem festzustellen ist – die Bürger mischen sich ein, nicht nur in Stuttgart, sondern zunehmend allerorts. Und die Politik muss daraus lernen, die Bürger bei wichtigen Themen stärker einzubinden, um somit die notwendige Verständigung herbeizuführen. Die Diskussionen um S 21 haben diese Prozesse zweifelsohne bundesweit auf die politische Tagesordnung gesetzt.
Damit sind wir bei der Bürgergesellschaft. Als Gesellschaftsform ist sie wesentlicher Bestandteil der Demokratie, wonach durch die aktive Teilnahme des Bürgers am öffentlichen Leben eben dieses gestaltet und weiter entwickelt wird. Sich direkt und nachhaltig einzubringen, ist richtig und positiv zu bewerten – eigentlich eine demokratische Notwendigkeit. Neben der Bürgergesellschaft als zentraler Säule einer Demokratie gibt es jedoch noch eine zweite, die gleichfalls zwingend ist für demokratische Prozesse: die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen. Ohne diese Akzeptanz funktioniert auch keine Bürgergesellschaft.
Ändern muss sich künftig deshalb der Weg zu Mehrheitsentscheidungen. Auch die Bürgergesellschaft braucht für ihre Prozesse Legitimation. Persönliche Betroffenheit oder Partikularinteressen sind eben nicht gleichzusetzen mit Legitimation. Sollen die Proteste um S 21 grundsätzliche Veränderungen hin zur nachhaltigen Partizipation bewirken, muss Legitimation erzeugt werden. Direktdemokratische Elemente sind dabei nur ein Aspekt. Viel wichtiger sind Veränderungen im Ablauf von Planungsprozessen.
Sinnvoll wäre es, künftig deshalb verbindliche Verfahren zur Einbindung analog zum Vorgehen von "Planungszellen" vorzusehen, wie sie Peter C. Dienel entwickelte: Etwa 25 Bürger ab 16 Jahren, ausgewählt nach dem Zufallsprinzip, befassen sich nach einem strikt vorgegebenen Ablauf eine Woche lang – hierfür vom Arbeitgeber freigestellt – mit einer konkreten Aufgabenstellung. Ziel ist die Erstellung eines "Bürgergutachtens", das die politische Entscheidung dann konkret beeinflusst. Die zufällige Zusammensetzung dieser Gruppen ist sozial ausgewogen und bindet Bürger ein, die unabhängig von eigenen Interessen sind. So erreicht man Legitimation, ohne die keine politische Bindungskraft erzeugt werden kann. Die auf Basis eines "Bürgergutachtens" getroffenen Entscheidungen müssen dann aber auch akzeptiert werden.
Nur wenn der Protest um S 21 übergeleitet wird in partizipative Verfahren, die durch demokratische und strukturierte Prozesse legitimiert sind, hat der Streit in Stuttgart wirklich Nachhaltiges bewirkt.
Susanne Eisenmann (46) ist Kulturbürgermeisterin der Stadt Stuttgart. Innerhalb der CDU zählt sie zu den liberalen Geistern. Dass sie nicht immer auf Parteilinie liegt, hat sie zuletzt im September 2010 gezeigt, als sie für einen zeitlich begrenzten Baustopp bei S 21 eingetreten ist. Ihr werden Ambitionen auf die Nachfolge von OB Schuster nachgesagt. Die frühere Büroleiterin von Günther Oettinger hat in Philosophie promoviert.
Meine Republik
von Peter Grohmann
Alle denken an den Stresstest? Das wäre mir neu. Ich denke an den Sommer, mich plagt die Frage, wo man gut Urlaub machen kann. Ich denke da: ein bisserl Radfahrn, gut essen, Halbpension oder so. Könnte Bayern sein, die schwarzen Brüder lassen das Volk mitreden, während hier im Ländle noch ge-alb-träumt wird. Oder haben Sie was gelesen von einer Verfassungsänderung? Oder gar von einer neuen Verfassung, entrümpelt, aufgepeppt, eine, in der ich vorkomme, ich, der Souverän – und nicht ver-komme, nicht verhungere am langen Arm der Amtsinhaber?
Na schön, dann muss ich das mit der Verfassung halt auch noch selber in die Hand nehmen. Ich bin mir zuverlässiger. Denn das wär's doch: Das Volk schreibt seine neue Verfassung selbst. Nicht mit, sondern selbst. Das hat sich nämlich geändert im Land, im Kopf: nicht mitbestimmen, sondern selbst bestimmen! Die Verfassung, stell ich mir vor, wird landauf, landab debattiert und geändert und verworfen und verteidigt und begutachtet und schlechtgeredet und in den Himmel gelobt. Wessen Verfassung? Unsere Verfassung. Sie denken, so was geht nicht? Da kennen Sie uns schlecht, und da irren Sie sich gewaltig! Es gehen noch ganz andere Sachen. Also aufstehen, komm, wir gehn die Demokratie wecken. Auf die da oben vertraue ich in der Beziehung nicht. Das hat sich auch geändert.
Dann denke ich daran, mir ein eBike anzuschaffen. Ich tät's preiswerter kriegen als die meisten – es wäre eine ideale Gelegenheit, der Innenstadt zu entkommen. Nicht dass ich missverstanden werde: hier lebt sich's gut. Olgastraße, Werastraße, Kernerstraße, Moserstraße, die ganze Ecke eben. Du bist in zwei Minuten mit dem Rad am Bahnhof – wenn nicht gebaut wird. Wenn gebaut wird, dann bist du in zwei Minuten auf der Höhe, denn dann wird die Gegend hier zu Qual, für zehn bis 15 Jahre. So lange müsste ich eben sattelfest bleiben.
Wird gebaut? Wäre der Stresstest ein Stresstest, dann würde nicht gebaut. Wäre Geißler Schlichter statt Richter, dann würde nicht gebaut. Denn sein Schlichterspruch kam ungebeten, seine Vorlagen für die Bahn waren eingleisig. So also zeigt sich mehr und mehr in diesen Tagen, dass diese Nummer des Mitbestimmens eine Luftnummer war – wie der Stresstest oder auch, wenn's denn zustande kommt, die Volksbefragung oder Volksabstimmung. Merke: wir sind doch hier nicht in Bayern!
Wie die Zukunft aussieht? Fragen Sie Geißler, der sagt heute schon, in scheinheiliger Neutralität, daß S 21 kommt, komme, was solle. Solchen Schiedsrichtern ist ein Strich durch die Rechnung zu machen. Und solchen Parlamentariern, die sich und ihr Mandat und ihre Parteien am Nasenring von der Bahn durch die Republik führen lassen. Ich hab kaum Hoffnung auf Leute, die keinen Arsch in der Hose haben. Wyhl und Brokdorf und Wackersdorf – das hat das Volk verhindert. So sieht politische Partizipation in Zukunft aus.
Und was das Denken angeht: wir haben immer schon bei Bahnhof nicht nur Bahnhof verstanden, sondern auch Demokratie-Defizite, Vergeudung von Volksvermögen und Ressourcen, Gefährdung von Quellen, keine Rücksicht auf Verluste, denn Verluste trägt immer das Volk. Nur Profite werden privatisiert. Auf diesen Erkenntnisgewinn tät ich setzen, wenn ich an meiner Stelle wäre.
Peter Grohmann, Jahrgang 1937, Kabarettist und Schriftsteller, gehört zu den Begründern des Stuttgarter Clubs Voltaire, des Theaterhauses Stuttgart und des Vereins Die Anstifter. Sein Weg führte von Breslau in die Dresdner Bombennächte, von Wroclaw in die DDR, dann in den Westen nach Stuttgart. Nach der Wende zog es Grohmann wieder nach Dresden – um nach zehn Jahren zurückzukehren. Bekannt wurde er 1989 mit seinem Kabarett "Vom Stasi zum Aldi".
Schwarz-grüner Schulterschluss
von Jean-Baptiste Joly
Tagebuch vom Dienstag, 15. Juli 2031:
Heute morgen im AGV (Automotrice à Grande Vitesse) von Berlin nach Stuttgart in 95 Minuten gefahren. Es ist für mich so etwas wie eine Fahrt zurück in die eigene Vergangenheit! Der HUB am Flughafen, der seit zehn Jahren als Notlösung die Funktion eines zentralen Bahnhofs für die Stuttgarter Region übernommen hat, ist eigentlich sehr praktisch: Mit dem unterirdischen Shuttle ist man in zwölf Minuten in der Innenstadt. Trotzdem bevorzuge ich die alte Stadtbahn-Strecke, denn der herrliche Blick von der Weinsteige auf die Stadt erfreut einen immer wieder aufs Neue.
Stuttgart ist wie eh und je konservativ und seit bald zwanzig Jahren fest in grüner Hand. Bis auf einige Nostalgiker, die jeden Montag bei einem Viertele ihre Heldentaten als Parkschützer im Ratskeller zelebrieren, spricht niemand mehr von Wutbürgern und Juchtenkäfern. Von heute aus betrachtet wirken die Ereignisse von damals eher harmlos, aber wenn ich an den Sommer 2011 zurückdenke, kommt mir die allgemein herrschende Ratlosigkeit wieder in den Sinn und die heftigen Reaktionen der Öffentlichkeit auf die sehr optimistischen Ergebnisse des Stresstests (was für ein Wort!), die von der Bahn vorgelegt wurden.
Die Wende kam – unerwartet – von der CDU, die sich einige Wochen später doch für einen Volksentscheid über Stuttgart 21 einsetzte und mit den Grünen im Landtag den Mindestanteil der Stimmenbeteiligung auf 25 Prozent herabsetzte. Dies war sicherlich ein kluger Schachzug, denn die Mehrheit der Bevölkerung war eh für das Projekt, das mit diesem Bürgerentscheid in der Öffentlichkeit endlich legitimiert wurde und die Gegner vorläufig beruhigte. Übrigens war dieser erste schwarz-grüne Schulterschluss der Beginn einer beinahe konkurrenzlosen Dominanz beider Parteien über das politische Geschehen in Deutschland.
Aber der Stuttgarter Sommer 2011 war nichts gegen den Aufstand von 2015: Nach mehreren unglücklichen Sprengungen musste im Frühjahr die Firma, die als einzige gewagt hatte, den Tunneldurchstich durch die Keuperschicht durchzuführen, Konkurs anmelden. Im Sommer wurde dem Verein "Kenner trinken Stuttgarter Mineralwasser" bekannt, dass die Quellen durch Fehlbohrungen längst verseucht worden waren. Der Skandal hätte die Bahn, die bundesweit boykottiert wurde, beinahe in den Ruin getrieben, wenn sie nicht im selben Jahr mit der französischen SNCF fusioniert hätte. Im Zuge des Skandals führte die D-F Bahn AG als erstes europäisches Unternehmen eine Transparenz-Charta für die Realisierung von Großprojekten ein, die inzwischen EU-weit als Standard gilt.
Am Stuttgarter Hauptbahnhof angekommen – der keiner mehr ist –, bewundere ich, wie der Paul-Bonatz-Bau in Deutschlands schönsten Konzert-Saal verwandelt wurde, und schaue amüsiert auf eine Demonstrantengruppe, die gegen den Abriss des unnötig gewordenen Durchgangsbahnhofs von Ingenhoven protestiert. Es sei eine Schande, sagen sie, ein Musterbeispiel deutscher Architektur der Jahrhundertwende so leichtfertig zu zerstören!
Jean-Baptiste Joly, Jahrgang 1951, ist Vorstand der Stiftung Akademie Schloss Solitude in Stuttgart seit deren Gründung im Jahr 1989. Der Literatur- und Kunstexperte lebt seit 1983 in Stuttgart. Er ist außerdem Mitglied im Stiftungsrat des Kunstmuseums Stuttgart und gehört dem Deutsch-Französischen Kulturrat an. Joly ist zudem Professor an der Kunsthochschule Weißensee, der Hochschule für Gestaltung in Berlin.
Ein anderes politisches Klima
von Beate Seidel
Natürlich hätte ich es wissen müssen: Diese verdammte Hoffnung, der politische Wechsel vom 27. März 2011 könne wirklich so etwas wie ein Befreiungsschlag aus einer festgefahrenen Situation sein – ich hätte ihr eigentlich keinen Moment lang aufsitzen dürfen. Und trotzdem war da für einen kurzen Augenblick lang die vage Vorstellung, nun müssten sich die leidigen Streitfragen, die Stuttgart vor allem im letzten Jahr beschäftigt, überfordert und zerrissen haben, beilegen lassen. Der immer wieder benannte Kompromiss, akzeptabel für beide Fronten, Neubaustrecke ja/Tiefbahnhof nein, schien ein bisschen näher gerückt.
Einen Augenblick lang. Aber Politik funktioniert anders, sie zwingt auch diejenigen, denen ich antizipatorisches Handeln zutrauen wollte, unter ihre Fuchtel. Das heißt, sie verlangt nach Pragmatismus, sie ist (in einer Demokratie sowieso) immer an Bürokratie gekoppelt, also an die genaue Prüfung aller Umstände durch entsprechende Einrichtungen, und darum enttäuschend für diejenigen, die sich schnelle Veränderungen wünschen. Schnell und unbürokratisch, schreibt Christoph Möller, handeln Diktaturen.
Es muss der gerade gewählten Regierung, und das ist weder neu noch überraschend, allerhöchstens ernüchternd, um die Erhaltung der (sowieso schmalen) Mehrheit gehen. Das schließt, so will es nach beinahe 100 Tagen Amtszeit scheinen, radikale Kurswechsel aus. Möglicherweise deshalb, weil die (klammern wir die Richtungsänderung in der Atompolitik aus, die ihren aktuellen Grund in einer Katastrophe hatte) selten konsensfähig sind.
Der Kampf um den Bahnhof aber schreit nach Konsequenz: Das beinahe mantra-artige Beharren auf der Gewaltfreiheit des Widerstandes einerseits, der aktuelle Katechismus der Montagsdemonstrationen, steht gegen Ignoranz und Arroganz des DB-Managements andererseits. Nicht, dass mir nicht auch dies vertraut wäre, schließlich bin schon lange genug auf der Welt und kenne das unverfrorene Dealen mit Informationen, die Verschleierungstaktiken, das häppchenweise Zugeben von unangenehmen Fakten auch aus einer anderen gesellschaftlichen Formation, deren Zerfall ich 1989 erlebt habe. Trotzdem ließe ich mich gern überraschen und würde nicht immer bestätigt werden wollen – in dem Gefühl, von denjenigen, in deren Händen sich ökonomische und damit politische Macht ballt, übergangen beziehungsweise nicht ernst genommen zu werden.
Das macht mich wütend oder (um mich am semantischen Diskurs um "Wut" und Zorn" zu beteiligen) zornig. Und obwohl es absurd anzusehen ist, wenn grauhaarige Damen mit Polizisten rangeln oder dickbäuchige Herren vor Bauzäunen lagern, um sich wegtragen lassen, beschreibt diese Konfrontation, in welchem Maße sich der Stuttgarter Stellungskrieg neu zugespitzt hat – eben weil keine Lösung in Sicht ist.
Was also hoffe ich für diese Stadt, für mich als ihre Bewohnerin, wenn ich über ihre Zukunft nachdenke? Erst einmal etwas ganz Simples, vielleicht wiederum beinahe Naives: dass nämlich der neue Ministerpräsident nicht an Glaubwürdigkeit einbüßen möge. Was aber auch heißt, dass wir, seine Wähler, zwar viel von ihm fordern müssen, aber nicht zu viel – oder genauer – nicht zu schnell. In einer Demokratie muss (auch dies schreibt Christoph Möller) Handeln zu Veränderungen führen. Das sei der Sinn von Abstimmungen und Wahlen. Aber die Langsamkeit eines solchen Prozesses muss dabei akzeptiert werden.
Wenn es für mich einen wirklich spürbaren neuen Akzent in der Landespolitik seit dem 27. März gibt, ist es die integrative Kraft, die Ministerpräsident Kretschmann ausstrahlt, der in einem Stuttgarter Gespräch mit Intendant Hasko Weber sagte, er wolle die ihm nun zur Verfügung stehende Macht nutzen, aber nicht ausnutzen, und mit dieser Bemerkung (das ist der entscheidende Unterschied zur abgewählten sogenannten Baden-Württemberg-AG) nicht sofort mein Misstrauen geweckt hat.
Allein die persönliche Integrität eines Politikers wird jedoch den Stadtkonflikt nicht beenden, das ist klar, aber Integrität kann die Voraussetzung für ein anderes politisches Klima sein. Und das wiederum wäre die grundsätzliche Bedingung für eine neue politische Konstruktivität.
Beate Seidel ist Dramaturgin am Staatstheater Stuttgart. Sie verfolgt seit mehreren Jahren aufmerksam die politisch-soziale Entwicklung in der Landeshauptstadt und in Baden-Württemberg, was in ihre Theaterarbeit einfließt. Als Dramaturgin wirkte sie bei verschiedenen Produktionen des Regisseurs Volker Lösch maßgeblich mit, unter anderem bei "Hamlet" und zuletzt beim Stuttgart-Drama "Metropolis/The Monkey Wrench Gang".
5 Kommentare verfügbar
hajomueller
am 18.07.2011