"Bambule", dieses Theaterstück, das Ulrike Meinhof in den 60er-Jahren schrieb, schildert den Aufstand junger Frauen in einem Mädchenheim. Sie rebellieren gegen deutsche Zustände, in denen drakonisch bestraft, weggeschlossen und eingesperrt wird. Die Ausstrahlung der Verfilmung war verboten. Fragt man heute junge Erzieherinnen und Erzieher in Stuttgart nach der Aktualität dieser Darstellung, dann bekommt man erstaunliche Antworten. Heute sei der Alltag in den Kinder- und Jugendheimen anders, diskursiver. Es wird miteinander geredet, Dialoge geführt. Man bespricht Konflikte und Probleme, fördert "Problemlösungskompetenzen", Konflikte werden "gemanagt". Es hat sich also vieles zum Besseren geändert und Meinhofs Szenario bildet die Wirklichkeit nicht mehr ab. Dann allerdings folgt ein Hinweis, der aufhorchen lässt: Außer dem pädagogischen "Miteinander-Reden" gäbe es da noch die vielen Medikamente. So sei es völlig selbstverständlich, dass ungefähr zwei Drittel der in Heimen untergebrachten Jugendlichen Medikamente bekämen: Die würden sie beruhigen, Aggressionen und Konflikte dämpfen.
Es scheint, als seien die klappernden Schlüsselbunde, das Wegschließen und Einsperren zum Zweck der Disziplinierung von einst durch die Vergabe von Medikamenten ersetzt worden. Konfrontiert man die jungen Erzieher mit dieser Vermutung – die man selbst nicht so recht glauben will –, so ist die Reaktion ein vehementes Nicken. Da drängt sich Michel Foucault auf. Er stellt die Entwicklung verschiedener Formen der Disziplinierung historisch dar: von der im Mittelalter öffentlich vollzogenen Vierteilung zur "sauberen" Form des Hinrichtens zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft mittels Guillotine, vom Pranger zur architektonisch eingefädelten gegenseitigen Überwachung in der Moderne. Die Wandlung vom außen- zum innengeleiteten Charakter der Massenproduktion und -konsumption beschreibt David Riesman in "Die einsame Masse". Adorno und Horkheimer stellen einen "totalen Verblendungszusammenhang" der Kulturindustrie fest, der die vereinzelten Konsumenten einer allmächtigen technokratischen Verwaltung unterwerfe. Immer geht es um die Anpassung der Individuen an vorgegebene gesellschaftliche Muster, um die Unterwerfung unter bestimmte Erfordernisse des Marktes.
Die aktuelle Form der Disziplinierung zeigt sich, so der Freiburger Soziologe Ulrich Bröckling, in der massenhaften Herausbildung eines "unternehmerischen Selbst". Dieser typische Sozialcharakter des Neoliberalismus ist ständig bestrebt, sich an die Erfordernisse des Marktes anzupassen, indem er sich selbst in allen Lebensbereichen zu optimieren versucht. Nicht seine Arbeitskraft verkauft er, sondern sich selbst. Er versteht sich als Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft. Sein Leitbild: der Mensch als Unternehmer. Das Ziel der vollständigen Optimierung seiner selbst kann er aber niemals erreichen, und ebendies ist sein Zustand: Er ist "bewegt von dem Wunsch, kommunikativ anschlussfähig zu bleiben, und getrieben von der Angst, ohne diese Anpassungsleistung aus der sich über Marktmechanismen assoziierenden gesellschaftlichen Ordnung herauszufallen. Ein Subjekt im Gerundivum – nicht vorfindbar, sondern hervorzubringend. (...) Unternehmerische Selbstbestimmung fabriziert man nicht mit den Strategien des Überwachens und Strafens, sondern indem man die Selbststeuerungspotenziale aktiviert."
Die neoliberale Fremdbestimmung, die Selbstbestimmung fordert, das Hamsterrad niemals vollendeter Selbstoptimierung, verlangt offenbar ihren Tribut. Längst unterwerfen sich gerade junge Menschen nicht mehr nur jenen autosuggestiven "Positiv-Denk-Techniken" aus Management-Handbüchern. Immer mehr greifen zur Chemie. Jeder fünfte Studierende in Deutschland nimmt leistungssteigernde Mittel. Dazu gehören Betablocker gegen Herzrasen, Prozac, ein Antidepressivum, Modafini, eigentlich gegen Narkolepsie, Koffeintabletten und – Ritalin. So eine Studie der Uni Mainz vom Januar diesen Jahres. In den USA schluckt an einigen Universitäten jeder vierte Studierende illegal Ritalin oder Medikamente mit ähnlicher Wirkung. Etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung nehmen dort regelmäßig Neuropusher. In den über 6000 Fitnesstudios Deutschlands dopen fast 23 Prozent der Männer, im Hobbysport jeder siebte mit Anabolika oder Wachstumshormonen.
Insbesondere Ritalin ist vor allem für Kinder und Jugendliche gedacht, bei denen ein "Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsyndrom", ADHS, diagnostiziert wurde. Die Zahl der Verordnungen steigt rapide an: Von 2006 bis 2011 bei unter 19-Jährigen um 42 Prozent. Im Jahr 2011 hatten angeblich 620 000 Kinder und Jugendliche ADHS. Während im Jahr 1993 noch 34 Kilo Ritalin an Kinder vergeben wurden, waren es 2010 bereits 1760 Kilo, also mehr als das 50-Fache. Der Pharmakonzern Novartis machte damit 2010 einen Umsatz von 464 Millionen Dollar. Etwa ein Viertel aller Männer und ein Zehntel aller Frauen sind im Laufe ihres Lebens mit der Diagnose ADHS konfrontiert, schreibt der Barmer Arztreport 2013. Vor allem Jungen vor dem Wechsel aus der Grundschule sind betroffen. Offenbar soll der Schulkarriere mit Pillen nachgeholfen werden.
Die Vermutung, dass es sich gerade bei ADHS nicht um eine Krankheit, sondern eine Behauptung handelt, stützt auch die Tatsache, dass rund um Würzburg statistisch über ein Drittel mehr ADHS-Kinder leben als im Rest der Republik, nämlich 19 Prozent im Verhältnis zu 12 Prozent. Hier ist vermutlich nicht die Krankheit Grund der Diagnose, sondern der Umstand, dass es in dieser Gegend besonders viele Kinder- und Jugendpsychiater gibt. Kein Wunder, dass eine zielgerichtete Verschreibung von Ritalin längst angezweifelt wird. Bereits im Jahr 2010 stellte eine Studie der Michigan State University in den USA fest, dass bis zur Hälfte aller ADHS-Diagnosen falsch sind. Selbst der wissenschaftliche Urheber der ADHS-Diagnose, Leon Eisenberg, sagte, kurz bevor er starb, ADHS sei "ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung". Auch in Deutschland sprechen Vertreter von Krankenkassen von "Schuldoping". Die Direktorin einer Kinderklinik der Berliner Charité, Ulrike Lehmkuhl, hält 90 Prozent der ADHS-Diagnosen für falsch. Bernd Sating, ehemaliger Familientherapeut, nennt Ritalin eine "Folgsamkeitspille". Der Schwarzmarkt boomt.
Der Grund für den starken Konsum, gerade von Ritalin, liegt in einem gewachsenen Bedürfnis nach Selbstkontrolle – bei Schulkindern wie bei Erwachsenen. Diese Menschen wollen funktionieren. Sie wollen sich konzentrieren, können es aber nicht und fühlen sich ihrer eigenen Unfähigkeit zu Selbstkontrolle und -optimierung hilflos ausgeliefert. Während etwa der Student ständig aus dem Fenster schaut, weil ihn der Inhalt seiner Texte nicht wirklich interessiert, erlebt das sogenannte ADHS-Kind eine Aufgeregtheit und Aggression, die es sich selbst als fremd erfahren lassen. Vor allem, wenn die Medikamentierung nicht therapeutisch begleitet wird und das Kind deshalb den Sinn seines eigenen Handelns nicht verstehen kann. Ritalin optimiert die Konzentration. Es hilft, zweckgerichtet zu fokussieren, verengt dabei allerdings den Blick. Für Studierende der Kunst und Musik ist es ungeeignet, denn Kreativität verarmt. Außerdem vermindert Ritalin die Spontaneität und reduziert die Empathiefähigkeit sowie den Wunsch nach Geselligkeit. Ein 10-Jähriger fühlt sich unter dem Einfluss der Tabletten wie ein "Roboter", ein anderer wie ein "Zombie". Damit die Wirkung erhalten bleibt, muss die Dosis ständig erhöht werden.
Eltern stellen an ihren Kindern nach längerer Ritalin-Einnahme oft eine Veränderung der Persönlichkeit fest. Diesen Charakterwandel problematisiert auch der soeben in die Kinos gekommene Film "Kopfüber". Dem Protagonisten wird Ritalin verordnet, und nach einiger Zeit fragt ihn sein Freund: "Weißt du eigentlich, dass du nicht mehr lachen kannst?"
Oft sind es aber gerade die Eltern, die ihren eigenen Leistungsdruck an die Kinder weitergeben. Eltern sind getrieben von der Furcht, dass ihre Kinder schulisch versagen, haben Angst vor Statusverlust oder Verarmung. Deshalb fordern sie die Kinder zu Anpassung an gesellschaftliche Erfolgsbedingungen auf. "Man hat den Eindruck, es mit Eltern zu tun zu haben, denen die schulischen Leistungen ihrer Kinder wichtiger sind als deren Lebensfreude", so der Psychologe Rolf Haubl. Selbstverständlich soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass es in jedem Fall abzulehnen ist, psychische Krankheiten medikamentös zu behandeln. Doch die massenhaften Verordnungen, die Bereitschaft zur Anpassung und der längst blühende Schwarzmarkt für Neuropusher weisen darauf hin, dass es sich offenbar weniger um eine organische Erkrankung als um das extreme Phänomen einer gesellschaftlichen Pathologie handelt. Gerade Ritalin manipuliert die organische und mentale Entwicklung der Kinder – allzu oft aufgrund falscher Diagnosen.
Der boomende Ritalin-Konsum ist auch Ergebnis der gegenwärtig herrschenden gesellschaftlichen Doppelmoral. Sie erzeugt Spannungen, die Erwachsene an Kinder weitergeben. Diese Doppelmoral besteht darin, dass die Kinder einerseits in einer Konsumkultur aufwachsen, die zu Zerstreuung und Ablenkung auffordert, während sie sich andererseits aber konzentrieren sollen. Dieser Zustand kommt einer widersprüchlichen Aufforderung gleich und bedeutet eine psychische Zerreißprobe. "Indem die Individuen ihre Wut, nicht zu genügen, allerdings ausschließlich gegen sich selbst richten, bestätigen sie wider Willen noch einmal jene Tyrannei der Selbstverantwortung, gegen die ihre leidende Psyche rebelliert", so Bröckling.
In dem Phänomen mangelnder Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, so Haubl, liege außerdem ein Symptom für die allgemeine Veränderung des dominierenden Sozialcharakters. "Man hat es mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die in einer Konsumgesellschaft aufwachsen, deren Ziel eine ständige Emotionalisierung im Dienste eines unstillbaren Begehrens ist." Den Kindern fehle es tatsächlich an "emotionaler Kompetenz".
Sowohl für Erwachsene als auch für Kinder scheint es heute keine Verbündete mehr zu geben. So zeigt sich in dieser Extremform der Zurichtung und Marktanpassung durch Medikamente ein Sozialcharakter, der nicht nur davon ausgeht, dass ihm der andere Mensch ein Wolf ist. Der neue Sozialcharakter sieht vielmehr einen bestimmten, nämlich den "widerspenstigen" Teil seines eigenen Selbst als Bedrohung an. Er ist davon überzeugt, dass diese Widerspenstigkeit, der Widerwille, keinen Grund hat und medikamentös behandelt werden muss – im Dienste der Selbstoptimierung. Wäre Ritalin früher erfunden worden, wäre die Welt ärmer: Tom Sawyer, Calamity Jane, Elias Canetti, Klaus Mann, Simone de Beauvoir und erst recht Georg Glaser – auf alle hätte wohl die Diagnose "oppositionelles Trotzverhalten von Kindern" aus dem weltweit gültigen "Diagnostischen Handbuch Psychischer Störungen" zugetroffen, und sie wären einfach wegmedikamentiert worden. Was für ein Verlust!
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