Stuttgart hat eine eigene Kultur entwickelt, die so gar nicht mehr in das Bild passte, das draußen gerne bemüht wurde: reich und langweilig. Und Stuttgart ist berühmt geworden, als Symbol einer Bürgergesellschaft, die das Gewand des Untertanen abgelegt und ihre Interessen in die eigene Hände genommen hat. Das Wort von der direkten Demokratie machte die Runde, Begriffe wie Partizipation, Transparenz, Augenhöhe führten sogar Politiker im Munde, die sich eher mit Wasserwerfern anfreunden konnten. All das ist geschehen, weil Bürger sich zusammengetan haben, aus den unterschiedlichsten Motiven, um "denen da oben" zu zeigen, dass sie kein Spielball von Politik und Wirtschaft sein wollen. Darüber hat eine große Selbstverständigung stattgefunden, und darüber hat sich eine politische und kulturelle Kraft gebildet, die – um einer lebendigen Demokratie willen – unbedingt erhalten bleiben muss.
Doch je näher eine Entscheidung um das heftig umstrittene Bahnprojekt rückt, umso mehr gewinnt man den Eindruck, als ob Gefahr droht. Die Gefahr, dass der politische Aufbruch tausender Bürger, der bisher schon so viel bewirkt hat, nur dann eine Zukunft hat, wenn der Tiefbahnhof nicht gebaut wird. Die Gefahr, dass der offene, kritische Austausch von Argumenten, ein hohes demokratisches Gut, als gescheitert angesehen wird, wenn der Tiefbahnhof gebaut wird – und in Radikalität umschlägt, nicht nur verbal. So hermetisch erscheinen inzwischen die jeweiligen Meinungs-Blöcke, so verfestigt die Positionen, dass diese Gefahren nicht von der Hand von zu weisen sind.
Man spürt es in diesen Tagen förmlich in dieser Stadt, nach der Montags-Demo am 20. Juni, bei der erstmals Gewalt im Spiel war, von einzelnen wenigen, und nach den ersten durchgesickerten Informationen zum Stresstest, die reflexartig den bekannten Mechanismus medial ausgetragener Dualismen auslösten: Viel steht im Moment auf dem Spiel, vielleicht alles, was Stuttgart zum bundesweit bestaunten Schauplatz eines neuen demokratischen Bürgerbewusstseins werden ließ.
Deshalb haben wir in dieser Ausgabe einen Schwerpunkt auf Stuttgart 21 gelegt. Journalisten haben die Aufgabe, solche heiklen Konstellationen und politisch virulenten Situationen zu "lesen". Und sie haben die Verantwortung, damit sensibel, fair und ausgewogen umzugehen. Denn auch sie, oder vor allem sie haben die Weisheit beileibe nicht gepachtet. Zuerst mal nachdenken, nach allen Seiten, und erst dann kommentieren und bewerten: diese Übung, die freilich nicht nur eine rein journalistische ist, möchte die Kontext:Wochenzeitung in dieser Ausgabe exemplarisch angehen. Stresstest und Verkehrsminister Hermann, verletzte Polizisten, ein Interview mit einem sachverständigen Soziologen, ein Essay von Heinrich Steinfest – das ist das eine. Das andere ist ein Beitrag unserer Redaktion. "Gedankenstriche" nennen wir unsere Überlegungen zu Stuttgart 21, die über die Aktualität verfestigter Stellungen hinausgehen sollen, nach vorne hin. Und die vor allem keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit haben. Vielleicht motivieren sie Bürger jedwelcher Position, selbst solche Gedankenstriche zu setzen. Die Kontext:Wochenzeitung kann dazu ein Forum sein. Oder werden.
2 Kommentare verfügbar
Zeitungsleser
am 02.07.2011Aus Sicht der Gegner, und ich gehöre dazu, fühlt man sich seit Wochen in die Enge getrieben. Da ist nichts mehr zu spüren von…