Er sitzt im Glashaus. Als langjähriger Stadtrat ist Gastautor Michael Kienzle selbst gefährdet, in den von ihm kritisierten Plastiksprech von Politikern zu verfallen. Als Literaturwissenschaftler wähnt er sich immun gegen Gummiwörter. Beurteilen, meint er, sollen das andere – und wettert für Kontext los.
Politiker haben manchmal einfach nichts zu sagen, sind schlecht vorbereitet, ergreifen aber dennoch immer gern das Wort. Das gelingt dann oft nicht recht. Weil sie sich im Gestrüpp der Wiedergebrauchsreden verheddern, in das sie sich in ihrer Not flüchten. Und so plappert alles munter daher, nimmt ungeniert Plastik- oder Gummiwörter in den Mund, die andere vor ihnen längst zerkaut haben.
Plastikwörter sind Nullaussagen, die weder bestätigt noch widerlegt werden können. Sie sind deshalb haltbar und nicht abbaubar – wie Plastik. Niemand wehrt sich, wenn die politische Kaste gewohnheitsmäßig aus dem trüben Wörtersee schöpft. So wachsen in Parlamenten und Rathäusern Müllberge von Plastikwörtern, die den demokratischen Diskurs unter sich begraben. Wie dem Volk muss man auch dem Politiker aufs Maul schauen. Und auch der Politikerin. Und auch sich selbst, weil nichts näher liegt, als politische Nullaussagen nachzuplappern.
"Am Ende des Tages"
"Am Ende des Tages", verspricht der Politiker, wenn ihm die Bürger im Licht des hellen Tages wieder einmal nicht glauben, wird sich sein Projekt ganz bestimmt als sensationell herausstellen und rechnen. Die Eule der Minerva startet ja auch in der Dunkelheit am Ende des Tages, und die Leute sollen halt abwarten. Doch wenn er die Vertröstung auf den philosophischen Feierabend zu oft strapaziert, dann kommt für seine geliebte Karriere womöglich der schreckliche Tag des Endes.
"Aufschlagen"
Wo Investoren in der Politik aufkreuzen, erhöht sich die Drehzahl der Phrasen. Seit einiger Zeit besuchen die Investoren den Politiker nicht mehr, sie "schlagen bei ihm auf". Wie auch die ganzen anderen Probleme, die auf ihn einstürzen. Schutzlos scheint der Arme dem politischen Meteoritenaufschlag ausgesetzt, wenn man ihn so reden hört, wenn man sich nicht vorsieht, könnte man schon Mitleid mit ihm bekommen. Aber darauf hofft er ja!
"Da bin ich ganz bei Ihnen"
Wenn sich Bürgerprotest im Saal erhebt, dann konzentriert sich der Politiker schnell auf eine Nebenforderung, der er zustimmen kann."Ihren Antrag auf Baustopp können wir leider nicht behandeln, aber was die vorgeschlagenen Begrünungsmaßnahmen anbetrifft, da bin ich ganz bei Ihnen." Der Redner setzt sich kuschelnd der bequemsten Forderung auf den Schoß, in der Erwartung, dass dann auch die anderen Zumutungen Ruhe geben.
"Chefsache"
Wenn ein Problem mal wieder aus dem Ruder gelaufen ist, weil es nicht erkannt und organisatorisch nicht vorbereitet ist, wenn Bürger protestieren und die Presse dauernd mit Anfragen nervt, dann erklärt der Chef ratzfatz das Problem zur Chefsache, womit merkwürdigerweise erst mal alle zufrieden sind. War denn das Problem, das er nicht auf die Reihe gebracht hat, nicht schon von Beginn an Sache des Chefs?
"Da geht's lang"
So wie es die Wiedergebrauchsrede gibt, gibt es auch Wiedergebrauchsposen, mit denen Politiker die dankbaren Fotoreporter und Bildredaktionen bedienen. Eine der zugkräftigsten Posen ist die des "Da geht's lang"! Die Augen der Betrachter sollen dem Arm des ansagenden Politikers perspektivisch nach oben (Richtfest Hochhaus) oder vorwärts (Straßeneinweihung) folgen. Mit der Geste wird der Politiker zum Führer seines Volkes ins gelobte Land. Die Presse liebt solch urtümlich messianische Führerposen. Als Entwöhnungshilfe seien Bildunterschriften wie etwa "Wo geht's hier zur Toilette?" vorgeschlagen. Ähnlich beliebt wie "Da geht's lang" ist die Pose mit dem nach oben erigierten Daumen, mit dem Politikergruppen gerne vor Kameras Sieg, Potenz, Optimismus und was auch immer verbildlichen.
"Den Rücken frei halten"
Seine Amtszeit ist abgelaufen. Von ihrem Anbeginn hat er auf Frau und Kinder wenig Rücksicht genommen, war selten zu Hause, hat sich dort um nichts gekümmert: Seine Liebe galt zuerst dem Amt. Jetzt kriegt die Frau einen Blumenstrauß (Wert: circa 39 Euro), er dankt ihr in seiner Abschiedsrede: Sie habe ihm den Rücken frei gehalten, den er ihr immer zugewendet hat! Die Messer in den Rücken, die er wirklich fürchtete, waren nicht die des politischen Gegners, sondern die Küchenmesser aus dem Hinterhalt des Familienalltags.
"Den Ball flach halten"
Robust wie der Handwerker, kampfeslustig wie der Sportler will der Politiker gerne sein und lieber scheinen. Deshalb spricht er gerne wie der Sportler oder dessen Fans. Als ob er aktives Mitglied seiner Lieblingself wäre, fordert er, den Ball doch flach zu halten. Wenn man nicht auf ihn hört, droht er an, reinzugrätschen oder die Rote Karte zu zeigen. Angriffe gegen sich bezeichnet er als grobes Foul und als Steilvorlage für sich, wieder zu punkten. Und allem, was in der Beratung etwas länger dauert, verpasst er das Präfix "Marathon". Er ist der Bauchredner des Sports und hofft, von dessen Popularität auch etwas abzubekommen.
"Ein Stück weit"
Er ist ein Stück weit betroffen, er verwahrt sich ein Stück weit gegen irgendetwas, er findet den anderen Politiker ein Stück weit verlogen, er will "ein Stück weit näher zu einer stabilen, sicheren Welt hin gelangen", er findet, dass seine Stadt ein Stück weit smarter geworden ist. Seine Meinungen sondert der Politiker vorsichtshalber stückchenweise ab und will glauben machen, dass es sich beim "Stück" um eine wohlüberlegte Maßeinheit handelt. Dabei ist es nur eine gestückelte, zurückgenommene und mutlose Nullaussage. Ein Stück aus dem Tollhaus ohne jede gedankliche Weite.
"Frisches Geld in die Hand nehmen"
Frisches Geld verspricht der Politiker entschlossen in die Hand nehmen zu wollen, wenn er keine Haushaltsstelle für sein Lieblingsprojekt findet. Frisches Wasser schenkt uns die Mutter Natur aus der Quelle. Geld aber kommt als Steuer und Gebühr aus der Tasche des Bürgers wieder in die Hand des Politikers. Es kommt über den Umweg des Finanzamts, wo es seine Frische vermutlich schon eingebüßt hat. Die Frische des Geldes ist ein Mythos der Münzpräger und -fälscher, der höchstens den Politiker erfrischt.
"Fußläufige Entfernung"
Das Lob "fußläufiger Entfernung" ist für den Politiker seit Kurzem ein absolutes Muss in seiner "lebenswerten" (siehe unten) Stadt. Der läufige Fuß kann, nach seinem Verständnis, allerhöchstens Strecken zwischen Park- und Kaufhaus zurücklegen. Für alle anderen, längeren Wege ist der Gasfuß im Auto zuständig. Wer die natürlichste Form der Fortbewegung, das Gehen auf den eigenen Füßen, auf die Phrase der fußläufigen Entfernung reduziert, dem sollte man aus dem Amt entfernen – vorläufig.
"In trockenen Tüchern"
Erfolgsmeldungen trompetet er am allerliebsten heraus, der Politiker. Die müssen ja nicht originell sein. Und so ist der Haushalt, das Bahnprojekt, der Lidl-Neubau, der Machtwechsel, der Finanzpakt oder gar das ganze Jahr 2013 immer endlich "in trockenen Tüchern". Er hat mitgewirkt, diese Projekte aus dem Wasser, dem Schleim, aus der Brühe ans Trockene zu ziehen! Wie ein Vater hat er sie in trockene Tücher gewickelt. Erst später wird er zugeben, dass solche Tücher eigentlich nie richtig trocken werden, dass so manches Projekt im trockenen Tuch weiter nässt und stinkt.
"Keine Frage!"
Fragt der besorgte Bürger den Politiker, antwortet der gerne, oft und ohne nachzudenken: keine Frage, dass alles Menschenmögliche unternommen wird, dass die seitherige Politik weiterverfolgt wird und so fort! Die imperative Formel bekräftigt die eigene Entschlossenheit und verbittet sich gleichzeitig die gestellte und alle weiteren Fragen. Der fraglose Politiker neigt zur alternativlosen Politik – wenn man ihn nicht infrage stellt.
"Lassen Sie mich zum Schluss ..."
"Lassen Sie mich Schluss ..." Mit dieser Schlussformel nähern sich oft quälend langwierige Ausführungen scheinbar ihrem Ende. Doch ehe das endlich eintritt, erlaubt sich der Politiker einen weiteren Exkurs über eine weitere Viertelstunde. Die erschwindelt er sich mit der rhetorischen Phrase des "Lassen Sie mich". Dabei schaut er gar nicht ins Publikum und übersieht theoretisch mögliche Einwendungen gegen diese Selbstermächtigung. Ach, welches Publikum hätte nur einmal den Mut zu rufen: "Nein, gerade dich wir lassen wir nicht!"
"Ländle, unser"
Dass viele Schwaben den Diminutiv im Namen führen – dafür können sie nichts! Auch hiesige Politiker, die ansonsten vor Heimatstolz kaum mehr laufen können, verniedlichen das Bundesland Baden-Württemberg gewohnheitsmäßig zum "Ländle". Dahinter steckt eine Unkenntnis über die historische und politische Vielfalt des Bundeslands. Der herablassende Hochmut, über ein Bundesland wie über einen Streichelzoo zu sprechen, kommt von der Bereitschaft des Politikers, alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner abzustufen.
"Lebenswerte Stadt"
Die "lebenswerte Stadt" ist ein Phrasenklassiker. Ein gut gemeinter Hybrid aus "liebenswürdig" und "lebendig". Aber völlig sinnlos. Welche Stadt ist schon so hässlich, dass sie nicht wert wäre, dass man in ihr wohne? Welche Stadt ist lebensunwert? Politiker, die sich eher für den Geldwert der Städte als für deren Bewohnbarkeit interessieren, lieben Nullaussagen wie diese.
"Migrationshintergrund"
Vor bald einem Jahrzehnt ist dieser Begriff in die Sprache der Statistik immigriert und verfolgt nun eingewanderte Mitbürger aus türkischen, italienischen oder anderen Familien wie ein Gespenst. Der Politiker nimmt den "Migrationshintergrund" gerne in den Mund. Weil er ihm erspart, sich mit der Herkunft des in den Vordergrund eingewanderten Subjekts genauer zu befassen. Und weil dieses Hintergründige seine geheimen Befürchtungen über die vielen Ausländer ganz gut wiedergibt.
"Nachhaltig"
Nachhaltigkeit ist ein präziser Begriff aus der Forstwirtschaft, der meint, dass man dem Wald nur so viel Holz entnehmen soll, wie auch wieder nachwächst. Gerade um die Umwelt besorgte Politiker beanspruchen dieses weise Prinzip verbal so inflationär für sich, dass er jede Bedeutung und Nachprüfbarkeit verloren hat. Wer aber nur "ressourcenschonend", "sparsam"," umweltbewusst," biologisch" oder "fair produziert" meint und dennoch "nachhaltig" sagt, der schlägt sich mithilfe des Gummibegriffs auf die Seite der irgendwie Guten und betreibt Greenwashing. Nachhaltig geht die Welt zugrunde!
"Nägel mit Köpfen machen!"
Alle theoretisieren und diskutieren! Da ruft der Politiker, dass er jetzt Nägel mit Köpfen machen wolle. Das heißt, dass er jetzt richtig zuschlagen will. Und weil das so handwerklich und so durchsetzungsfähig klingt, wird diese Phrase aus dem Baumarkt hammermäßig oft strapaziert. Umso vernagelter der Politikerkopf, desto lieber macht er Nägel mit Köpfen.
"Prüfen"
Kommen Bürger mit ihrer Forderung zum Politiker und will der ihnen weder Ja noch Nein sagen, dann sagt er, um Zeit zu gewinnen, er wolle die Sache prüfen. Oder sie einer eingehenden Prüfung unterziehen lassen. Verwaltungen sind hingebungsvolle Prüfer. Im Stuttgarter Regierungspräsidium, so wird berichtet, seien unangenehme Vorgänge immer so geprüft worden, dass die zuständigen Abteilungsleiter dreimal um den Aktenbock mit dem betreffenden Vorgang gegangen seien, ehe sie den Antrag dann abgelehnt hätten. Auch diesen Bericht muss man sicher noch mal überprüfen. Auch leidgeprüfte Politiker sollten sich bequemen, Kriterien und ihre Erwartung der Prüfung offenzulegen.
"Quo vadis?"
"Quo vadis?", fragt der Politiker, wenn er etwas von Verwaltung oder Regierung wissen will, wenn er aber nichts Genaues weiß und deshalb die Frage als Vermutung ins Blaue formuliert. Als alter Lateiner, der er sein will, vergisst er aber gerne, dass die Frage vom Apostel Petrus an Jesus Christus auf dem Weg zur Kreuzigung gestellt wurde. Und er vergisst, dass es doch völlig daneben ist, nicht gehfähige Einrichtungen oder Probleme mit Fragen zu traktieren wie: "Quo vadis, Hauptschule?", "Quo vadis, Freibad Möhringen?", "Quo vadis, Stuttgart?", "Quo vadis, Finanzplanung?", oder als besonders unschönes Beispiel:"Quo vadis, Schönheitschirurgie?"
"Signale setzen"
Völker hören bekanntlich gerne Signale. Das weiß der Politiker und will mit seinen Anträgen nicht nur die konkreten Veränderungen. Er will viel mehr, er will ein Zeichen, ein Signal setzen, und besser noch: ein klares oder ein deutliches Signal, damit künftig alles in seine Richtung läuft. Erfreulich für ihn ist, dass die Wirkung seines politischen Signals im Gegensatz zum Bahn- oder Schiffsverkehr kaum überprüfbar ist. Übersieht man seine Signalfahnen, dann verlangt er auch sogenannte Leuchtturm-Projekte, weil man die von besonders weit her sehen kann. Unermüdlich wirkt er so in den symbolischen Stellwerken der Macht.
"Spannend"
Muss sich der Politiker zu kulturellen Angelegenheiten oder zu einem kühnen Projekt äußern, das er noch nicht recht überblickt, dann antwortet er träumerisch, das sei ja alles sehr "spannend". "Spannend" ist das Zauberwort für nicht begründetes und ziemlich geheucheltes Interesse. Der Spanner erschleicht sich seine Erregung aus dem Versteck heraus, das voyeuristisch betrachtete Objekt ist ihm eigentlich egal, es ist mehr Anlass zur Herstellung seiner Spannung. Der politische Spanner behilft sich häufig auch mit dem Adverb "wichtig", mit dem er besondere Sätze meint aufblähen zu müssen, die er von sich gibt.
"Spitze"
Politiker möchten gerne Spitzenpolitiker sein oder werden. Sie sind auch sonst obsessiv auf Spitzenplätze, auf Spitzenpositionen in Rankings, auf Best Practise, auf Leistungsspitzen und die Weltspitze fixiert. Sie sind stolz, wenn ihre Stadt Spitze bei Übernachtungszahlen, mit irgendwelchen Fallzahlen, der Fahrzeugdichte oder in Kulturausgaben ist. Spitze finden sie immer gut, also spitze. Ihr hierarchischer Blick ist verengt nach oben zur einsamen Spitze. Auf dem Weg zur Spitze verliert aber so mancher von ihnen Überblick und Überzeugungen. Übrigens gibt es einen Verein für deutsche Spitze e. V., der zudem Mitglied im Verband für das Deutsche Hundewesen ist.
Michael Kienzle ist 68 Jahre alt, emeritierter Literaturwissenschaftler und aktiver Stuttgarter Stadtrat. Mit Sprache beschäftigte er sich zeit seines Berufslebens. Er räumt ein, dass sich auch ihm immer wieder Politikerfloskeln aufdrängen. Als Mensch, der viel über Sprache nachdenkt, versucht er, solch aufdringliche Sprachklischees zu verdrängen, bevor er sie ausspricht. In trockene Tücher, behauptet er, habe er noch nie etwas gebracht. Und verstummt ist er deshalb noch lange nicht.
Wessen Mund spricht hier?
Gesucht wird der Mann zum Mund: Kontext verschenkt jeweils ein "Alle Wetter"-Plakat an die ersten drei Einsender mit der richtigen Lösung.
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2 Kommentare verfügbar
Juliane
am 20.02.2013