KONTEXT:Wochenzeitung
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Sehnsucht

Sehnsucht
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Im Alltag und in der Literatur finden sich tradierte Lebens- und Denkmuster, die vielen kaum noch bewusst sind. Dabei haben sie eine zeitaktuelle Bedeutung. Vor allem vermitteln sie strukturiertes Denken – eine Kompetenz, die in der Bildung wie im Beruf besonders wichtig ist. Die Kontext:Wochenzeitung putzt diese Denkmuster wieder blank, in einer fortlaufenden Erzählung. In dieser Ausgabe geht es um Sehnsucht in einer verrückten Welt.

Als das Romantik-Quartett in Siena ankam, war es früher Abend. Das Traumbild lag in mildem Licht: die hügelige Häuserlandschaft mit den roten Backsteinmauern, die engen Gassen, hohen Palazzi, der schwarz-weiß gestreifte Dom – und das muschelförmige Herzstück, die Piazza del Campo. Als die vier die gestuften Traumkulissen durchwandert hatten und über eine der dunklen Gassen den legendären Platz betraten, begann Manuela zu strahlen. "Wenn mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt und alles zu viel wird, schließe ich die Augen und habe dieses Bild vor mir."

Die Piazza del Campo im Abendlicht, gespiegelt in einem Schuhgeschäft. Fotos: Sandro Mattioli
Minutenlang schaute sie auf den Campo, auf die mittelalterlichen Palazzi, den Brunnen, die Restaurants und Cafés. Und auf die vielen Menschen, die in diesem Oval saßen. Dann sagte sie leise, als ob sie mit sich selbst sprechen würde: "Unterm Beton liegt der Strand."

Seltsam, so kannten die anderen die lakonische Pragmatikerin gar nicht. Stefan hatte sich derweil schon ein Restaurant ausgesucht und an einen Tisch gesetzt. Er bestellte Tomaten mit Mozzarella, Spaghetti vongole, Scaloppina al limone, Tiramisu und einen Vino rosso. Das ganze Programm.

Zwei Stunden später saßen sie auf dem warmen Boden des Campo. Die Sonne stand tief, der Palazzo Pubblico mit seinem hohen Turm warf lange Schatten.

"Man sollte mal bei diesem Pferderennen des Palio dabei sein, das muss ein tolles Bild sein, wenn die Reiter um den Platz rasen", sagte Doris, reiseführerfest wie immer.

Stefan, der sich auf dem warmen Steinboden satt ausgestreckt hatte, sinnierte: "Irgendwie hat das was von Fortuna."

Ein paar Meter entfernt saß eine Gruppe junger Leute um einen Gitarrenspieler herum. Er spielte Liebessongs, John Denver, Cat Stevens, Leonard Cohen, auch Robbie Williams und Eros Ramazzotti. Pärchen schmusten dabei, küssten sich, eng umschlungen. Manuela schaute schweigend hin.

Doris begann eine Melodie zu summen, sie klang eingängig, aber monoton. "Seit San Gimignano geht mir dieser Song nicht mehr aus dem Kopf", sagte sie. "Es ist 'Mad World'. Merkwürdig, er handelt von der verrückten Welt, und er hat tatsächlich auch solche Widersprüche und Dualismen drin wie diese mittelalterlichen Texte, von denen Wolf uns erzählt hat. Und es kommen Menschen vor, die in Kreisen rennen, irgendwie fortunamäßig."

Sie überlegte kurz, dann begann sie den Text dieses Songs zu zitieren:

"I find it hard to tell you / 'Cos I find it hard to take / When people run in circles / It's a very, very mad world."

Doris richtete sich auf. "Unsere Welt ist doch wirklich verrückt. Und denaturiert. Du hast nicht nur in der Politik eine Menge Dualismen und Konflikte, sondern in der ganzen Gesellschaft. Zum Beispiel zwischen Alt und Jung. Was man Generationenvertrag nennt, gibt's doch gar nicht mehr. Die meisten Jungen wollen ihr Leben leben, viele schieben ihre Eltern in Heime ab, wenn die alt oder krank werden. Und sie schreien auf, wenn sie mehr in die Rentenkasse einzahlen sollen. Viele Alte dagegen sitzen auf ihrem Geld, lassen die Jungen nicht zum Zuge kommen. Irgendwo habe ich gelesen, dass in Familienbetrieben Krieg herrscht: Mancher Junior würde am liebsten den Seniorchef meucheln, weil der ihm die Firma nicht übergibt. Dualismus überall: Ossis kontra Wessis, Abschwung West gegen Aufbau Ost, Familien kontra Kinderlose, Singles betonen trotzig, dass sie glücklich sind, Pärchen halten mitleidig dagegen, Lehrer und Schüler stehen schon schulmäßig für Konflikt, Ärzte gegen Krankenkassen und gemeinsam gegen die Gesundheitspolitik."

Verordnetes Leben

Stefan schaltete sich ein. "Nicht zu vergessen: Bayern München gegen Borussia Dortmund." Er schlug demonstrativ die Beine übereinander und legte eine Hand an die Backe: "O weh, Deutschland, wie steht deine Ordenunge?" Dann blickte er Doris verschmitzt an. "Darf man jetzt Doris von der Vogelweide zu dir sagen?"

"Blödmann," sagte Doris, "wirklich, die Gedichte dieses Walthers finde ich schon beachtlich. So was erwartet man nicht vom Mittelalter. Und irgendwie passen sie tatsächlich auf heute."

Manuela nickte. "Eigentlich hast du recht. Welche Ordnung haben wir heute überhaupt?" Sie wartete nicht auf eine Antwort, sie gab sie selbst: "Die drückt sich doch höchstens in Verordnungen aus: Besteuerungsverordnung, Bauverordnung, Lebensversicherungsverordnung, Müllentsorgungsverordnung, Naturschutzverordnung oder Hartz I, Hartz II, Hartz III, Hartz IV."

"Du meinst, Ordnung ist das halbe Leben?", fragte Stefan mit Ironie in der Stimme.

"Ich meine, es gibt verordnete Ordnung, aber nichts Verbindliches mehr, was mit dem wirklichen Leben zu tun hat. Keine erkennbare Idee, die drübersteht, an der man sich orientieren könnte. Schon gar nicht gibt es reale Wechselseitigkeit."

Abends auf der Piazza del Campo."Genau, das ist es", sagte Doris. "Es fehlt das Ganze, es gibt nur noch Einzelnes, Teile." Sie stockte. "Dass das so ist, habe ich in den letzten Jahren immer stärker empfunden. So als Gefühl, wenn man durch die Städte geht, sich die Menschen ansieht, Fernsehen schaut oder Zeitung liest. Ihr könnt mich jetzt für verrückt erklären, aber diese alten Gedichte machen mir das erst richtig bewusst, dass es so ist. Weil es ausgedrückt wird." Stefan griente. "Meinst du, wir sollten jetzt zu den Politikern in Berlin gehen und sie zur Umkehr mahnen, so wie Walther von der Vogelweide: 'Lernt aus der Natur und bekehrt euch!' Da würden sich doch alle totlachen."

Die Idee im Konkreten leben

Doris schüttelte energisch den Kopf. "Darum geht es doch nicht. Es geht darum, dass diese Texte ein Denken vermitteln, das davon ausgeht, dass die Idee von Wechselseitigkeit und Frieden real ist und diese Idee im Konkreten gelebt werden muss – nicht nur sollte oder könnte, sondern muss, das ist entscheidend. Dieses Denken wird zwar im Mittelalter formuliert, in dieser speziellen vergangenen Zeit, in der Gott und Ordnung sicher eine ganz andere Rolle spielten als Heute, doch als Ansatz hat dieses Denken auch etwas Zeitloses – als Denkstruktur, wie es Wolf nennt. Menschen sollten doch immer eine Idee haben, nach der sie leben, ganz im Konkreten. Vor allem eine Idee, die Miteinander bedeutet. "

Jetzt sah Doris Stefan herausfordernd an: "Man könnte die Berliner Herrschaften sehr wohl fragen, welche Idee sie von Politik und gesellschaftlichem Leben haben und ob sie diese im Konkreten auch umsetzen und nach ihr handeln und entscheiden. Von Wahrheit will ich dabei ja gar nicht anfangen. Ich glaube nicht, dass sich dann irgendeiner totlachen würde. Wer spricht denn in Sonntagsreden dauernd davon, dass wir ein neues Denken brauchen, Visionen, ein neues Miteinander? Daraus spricht doch deutlich die Angst der Politiker, dass diese Gesellschaft, so wie sie jetzt ist, mit all ihren Konflikten, demnächst vollends aus den Fugen gerät und uns um die Ohren fliegt."

Zerlegt in Herz und Hirn

Wolf saß mit bei diesem bewegten Campo-Gespräch unter dunkelblauem Toscana-Himmel, war durchaus anwesend, physisch und geistig. Doch jeder Versuch einer Wortmeldung scheiterte kläglich. Zu sehr waren Doris, Manuela und Stefan bei der hitzigen Sache. Sie schienen ihn vergessen zu haben. Man könnte auch sagen: Sie ignorierten ihn. Ein Lyrik-, Mittelalter- und Denkmuster-Referent war jetzt wohl nicht gefragt. Es ging ums Wesentliche.

Manchmal ist der Weg nicht ganz klar.Aus Stefans Augen blitzte Angriffslust. "Sag mal, Doris, wie wär's denn, wenn wir uns das mit der Idee selbst einmal fragen würden? Auf die da oben zu schimpfen ist einfach. Das kenne ich als Manager nur zu gut. Ich werd doch auch angemacht, dass ich zu viel verdiene, oben rumschweben würde und nicht wisse, was die Belegschaft wirklich betrifft. Wo und wie aber lebst denn du ganz konkret die Idee?"

Doris hob die Stimme. "Ich will mich da überhaupt nicht rausnehmen. Wir sollten uns alle da nicht rausnehmen, nach dem Motto: Das betrifft nur die Anderen, die es nicht checken, aber ich, ich bin ja ganz anders als die Andern. Das wäre zu einfach, vor allem ist es grundfalsch."

Sie war jetzt voll in Fahrt. "Ich stehe dazu: Wir sind alle nur noch Teile, vereinzelte Individuen. Dazu noch zerlegt in Herz und Hirn. Auch ich. Wir sind zwar vernetzt, aber nur künstlich, per Internet. Miteinander, Dialog, das sind nur noch Schlagwörter, Phrasen. Wir reden miteinander, aber verstehen wir uns denn? Die Politikverdrossenheit ist doch deshalb so groß, weil sich die Regierten von den Regierenden nicht mehr verstanden sehen, sie haben das Gefühl, nicht mehr ernst genommen zu werden, sondern nur noch dummes Wahlvieh zu sein. Aber das geht noch weiter: Lasst mal Politiker mit der Basis reden oder Firmenbosse mit ihren Untergebenen oder Wissenschaftler mit dem normalen Volk, da reden doch verschiedene Welten miteinander – oder besser: aneinander vorbei. Das liegt sicherlich nicht nur an Arbeitsteilung oder unterschiedlichen Bildungsniveaus."

Weltsicht durch die Ich-Brille

Doris hielt kurz inne. Dann sagte sie: "Selbst wenn Uli abends von der Arbeit kommt und mir ausführlich von seinem Tag erzählt, was er alles erlebt hat, erscheint er mir manchmal wie jemandem aus einer fremden Welt."

So etwas hatte Doris noch nie gesagt. Zumindest nicht in dieser Runde. Rasch fuhr sie fort: "Wenn wir eine Idee leben, dann nur noch die Idee, die wir von uns selbst haben. Wir machen uns unsere Welt. Und die muss perfekt sein, cool, jung, voller Elan, Karriere, spitze Einkommen, tolle Kinder, super Sex. Wir sehen die Welt durch die eigene Ich-Brille. Oder wir lassen sie uns von außen aufdrängen. Beurteilen wir Menschen, dann geht das meist nach Äußerlichkeiten. Und nach dem Entweder-oder-Prinzip: reich oder arm, hübsch oder hässlich, gut oder schlecht, dick oder dünn, nützlich oder unnütz, plus oder minus. Die pure Schwarz-Weiß-Malerei, digital. Wer macht sich denn noch die Mühe zu differenzieren, Farbnuancen zu sehen oder auf Zwischentöne zu horchen?"

Doris blickte Wolf an. "Wie nannte es dein Tübinger Professor gleich noch mal, das mit dem Nominalismus und der Realität damals?"

"Durch Subjektivität nominalistisch zersetzte Realität", sagte Wolf. Jetzt wollte er die Chance nutzen, endlich ins Spiel zu kommen. "Das heißt ..."

Manuela unterbrach ihn sofort. "Auf heute bezogen müsste es heißen: durch Egoismus nominalistisch zersetzte Realität. Wenn es nur noch Teile gäbe, ginge es ja noch, solange diese Teilchen miteinander in Verbindung stünden. Dann könnte ja noch ein Puzzle rauskommen. Doch wir laufen doch nur noch als egoistische Atome rum, ohne Bindung, ohne Zusammenhang."

Liebe in Zeiten des Narzissmus

Jetzt klang Manuelas Stimme plötzlich wieder hart. "Und deshalb gibt es auch keine richtige Liebe mehr." Auf dem Campo war es dunkel geworden. Es war dunkel geworden in Siena.Der Gitarrenspieler von nebenan spielte immer noch Lovesongs. Pärchen schmusten dabei, küssten sich, eng umschlungen. Jetzt hatte die Szene etwas Bizarres, Irreales. Manuela nahm einen tiefen Schluck aus der Rotweinflasche, die sie in Siena gekauft hatte. "In einer solchen Zeit wie heute kann es keine richtige Liebe geben. Höchstens die narzisstische Liebe oder die rein platonische Liebe." Stefans Mund stand offen. Leise sagte er: "Was meinst du mit richtiger Liebe?" "Eine, die wechselseitig ist, in der das Subjekt gleichzeitig auch Objekt ist. So, wie es dieser Walther gefordert hat."

"Aber so etwas kann es doch geben", sagte Stefan. Es klang weich und gleichzeitig beharrlich.

"Ich habe es jedenfalls noch nie erlebt." Manuela setzte die Rotweinflasche noch einmal an. "Vielleicht liegt es an mir selbst." Pause. "Ja, es liegt bestimmt an mir." Pause. "Ich habe das Gefühl, dass ich Liebe, wechselseitige Liebe, noch nie gelebt habe."

Schweigend sah sich Manuela auf dem Campo um. Dann sagte sie: "Vor einigen Jahren war ich schon mal hier, mit einem Lover. Es war eine tolle Reise. Ich fühlte mich richtig gut. Abends saßen wir auf dem Campo, dort beim Brunnen, es war noch sehr heiß. Alles stimmte. Ich liebe dich, sagte er und lächelte mich an. Wie im Film. Einen Moment lang dachte ich, jetzt sage ich auch, dass ich ihn liebe. Mein Herz sagte, tu es, mein Kopf sagte, lass es. Ich tat's nicht."

Betretenes Schweigen. Sekundenlang. Doris brach es als Erste. "Warum hast du uns nie von alldem erzählt?"

Manuela räusperte sich. "Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen." Wieder machte sie eine Pause. "Vielleicht ist mir das alles in den letzten Tagen erst richtig bewusst geworden, auf dieser Reise." Sie lächelte. "Auf dieser Romantik-Reise."

"Du meinst aber nicht, dass die alten Minnedichter dich so berührt haben?" sagte Stefan. Seine Ironie wirkte nicht so echt wie sonst.

"Vielleicht doch", antwortete Manuela.

Romantik-Outing eines Managers

Unruhig rutschte Stefan auf seinem Platz umher. "Versteh mich jetzt nicht falsch. Ich dachte immer, du bist eine Frau, die einen Mann, den sie richtig gut findet, mit Haut und Haaren liebt – so wie du ja auch richtig austeilen kannst."

Stefans Gesicht zeigte plötzlich Spuren eines leichten Rots. Selbst im Dunkeln war das zu erkennen. Nein, es war keine optische Täuschung. Tatsächlich, der smarte Muster-Manager war verlegen.

Stefan schaute vor sich hin. "Bei mir ist die Sache gerade umgekehrt. Ich war mal in eine Frau wahnsinnig verliebt. Und ich sagte ihr das auch, immer wieder. Ich fand sie einfach toll. Klar, sie sah gut aus, aber nicht mal so überragend, doch sie war irgendwie anders als die Frauen, mit denen ich bis dahin zusammen war. Wenn ich mit ihr sprach, fühlte ich so was wie Wärme. Ich kann's nicht genau beschreiben. Sie arbeitete in meinem Betrieb, täglich sah ich sie."

Jetzt murmelte Stefan fast nur noch. "Einmal habe ich ihr sogar ein Gedicht geschickt, irgendwas von Erich Fried, glaube ich. Darunter schrieb ich: I love you."

Wolf glaubte, nicht richtig zu hören. Stefan, der Liebesflüsterer. War er in einem anderen Film?

"Ab und zu trafen wir uns nach der Arbeit", fuhr Stefan fort. "Ich lud sie zum Essen ein, zum Sport, in die Sauna. Es war immer nett. Aber eben nur nett."

"Du meinst, es passierte nichts?", fragte Manuela.

Stefan nickte. "Wenn ich ihr sagte, dass ich sie toll finde, hat sie nur gelächelt. Und auf meine Liebesergüsse hat sie gar nicht reagiert. Je mehr ich auf die gefühlige Art kam, hat sie sich immer mehr distanziert." Worte können den Weg zum Herzen öffnen – oder für immer verschließen.

"Klarer Fall von platonischer Liebe, also?", sagte Manuela

"Kann sein", sagte Stefan. "Ja, es war einseitig."

"Was war sie denn für ein Mensch, lustig oder ernst, hatte sie Humor, war sie ein Kumpeltyp?" Stefan schaute Manuela grübelnd an. "Eigentlich kann ich das nicht so genau sagen. Sie war eben anders."

"Vielleicht hattest du nur ein Bild von ihr, sozusagen eine Idee, wie Liebe aussehen könnte?"

"Möglich. Auf jeden Fall war ich hin und weg. Ich schwebte auf Wolke sieben, wenn ich sie sah." Jetzt blickte Stefan wieder vor sich hin. "Und dann krachte ich voll runter. Eines Tages sagte sie in der Kantine, sie habe gekündigt. So nebenbei, als sie gerade ein Menü auswählte. Sie werde in eine andere Stadt ziehen. Vier Wochen später war sie weg. Ich habe sie nie mehr wiedergesehen."

"Das muss an deiner Männerehre schwer genagt haben?"

Stefan sah nicht auf. "Ich habe ein halbes Jahr später eine andere Frau kennengelernt, Silvia."

Manuela horchte auf. "Und die hast du dann geheiratet."

"Ja, schon nach vier Monaten. Aber es hielt nicht allzu lange, wie ihr wisst."

Stefan lächelte, er wirkte immer noch verlegen. "Heute ist wohl der Tag des romantischen Outings?"

"So könnte man es nennen", sagte Manuela. "Es ist schon merkwürdig. Ich habe dich in Liebesdingen bisher eher als Narziss-Typ eingeschätzt, nicht als Platoniker. Dann bin ich wohl die Egomanin hier."

"Nein, das bist du nicht", sagte Stefan rasch. "Aber wir scheinen uns gegenseitig falsch eingeschätzt zu haben."

"Sagen wir wechselseitig." Manuela überlegte. Dann lächelte sie. "Vielleicht sollten wir's beide mal aristotelisch versuchen. Nach Walthers Art."

Auf Stefans Manager-Miene lag noch immer ein zarter Rotschimmer.

Das eigene Jodeldiplom

Beide schauten jetzt zu Doris, die dem Dialog aufmerksam gelauscht hatte. "Du hast es gut, du hast deinen Uli", sagte Manuela.

"Eigentlich schon", sagte Doris, vielleicht eine Spur zu schnell. "Was Wolf in Venedig von diesen Minnedichtern erzählte, war ganz interessant."

Wollte sie jetzt ablenken?

"Ich meine, das mit der Wechselseitigkeit, mit dem Subjekt und Objekt. In jeder Beziehung ist es schwierig, da auf Dauer die Balance zu halten, glaube ich. Wenn man zum Beispiel daheim bleibt, die Kinder erzieht und den Haushalt macht, dann ist das eine ganz eigene Welt mit eigener Ordnung. Dann muss man schauen, dass man für einen selber noch etwas hat, etwas Eigenes, an dem man sich festmachen kann."

Nach ihrer flammenden Rede vorhin über die verkehrte Welt und die dualistische, vereinzelte Gesellschaft klang Doris jetzt eigenartig verhalten. Sie sprach von "man", sehr unpersönlich und allgemein.

Stefan, dessen Gesicht inzwischen wieder Normalfarbe angenommen hatte, sagte: "Entschuldige, aber das klingt wie Loriot: Meine Frau macht das Jodeldiplom, da hat sie was Eigenes. Do dödel di, di dödel du."

Doris zog ihre Mundwinkel nach unten. "Ich meine das ernst. Kinder und Küche jeden Tag, das ist nicht immer nur das Paradies."

"Das kann ich gut verstehen", sagte Manuela, "aber du machst doch einiges nebenher, deine VHS-Kurse zum Beispiel."

Doris schaute an Manuela vorbei, irgendwohin: "Das hat mir Uli empfohlen. Er sagte, das würde mir guttun. Und sei auch nicht zu teuer."

Manuela zog die Augenbrauen hoch. Stefan schluckte. Ihm schien das Jodeln vergangen zu sein. "Hast du schon ein anderes Mitbringsel für Uli besorgt? Die venezianische Maske könnt ihr euch ja mal bei einem gemeinsamen Venedig-Trip anschaffen", sagte er. Es sollte wohl nett gemeint sein.

Das andere Leben

Doris reagierte nicht darauf. Sie stand auf. "Wenn man euch beide vorhin gehört hat, dann klang das schwer nach romantischer Sehnsucht."

"Das stimmt", sagte Manuela und erhob sich auch. "Ich glaube, man ist schon einen Schritt weiter, wenn man so ein Gefühl mal offen ausgesprochen hat, es sozusagen benannt hat. Dann weiß man eher, ob es echt ist oder man sich nur etwas vormacht, aus einer romantischen Laune heraus. Sehnsucht ist eigentlich so was Ähnliches wie eine Idee."

"Und die muss im Konkreten gelebt werden", sagte Doris. Jetzt lächelte sie wieder.

"Vor allem sollte man sowohl emotional wie auch rational mit ihr umgehen", sagte Manuela. "Dann führt sie vielleicht zu was."

Wolf hatte sich als Letzter erhoben. Was sich da gerade auf dem Campo in Siena unter mittlerweile nächtlichem Toskana-Himmel abgespielt hatte, irritierte ihn völlig. Der Gitarrenspieler von nebenan hatte zu spielen aufgehört, er schmuste jetzt selbst mit einer Frau, küsste sie leidenschaftlich. War das alles noch real? Langsam trottete Wolf den anderen hinterher, durch die engen Gassen, in denen sich nur noch wenige Touristen verloren, zum hell beleuchteten Parkhaus.

Die Straße des Lebens führt einen zuweilen auf eigenartige Wege.Erst als Wolf am Steuer saß und Richtung Florenz fuhr, kam er zu sich. Nichts schien mehr wie vorher. Was in aller Welt war in diesen drei Tagen passiert? Er "durfte" den drei seinen Romantik-Kram vortragen, wie es Stefan definierte. An ausgewählt kitschig-schönen Orten. Zentrale Denkmuster in der mittelalterlichen Literatur wollte er ihnen nahebringen, so wie er es in Tübingen gelernt und all die Jahre danach weitergesponnen und verinnerlicht hatte. Denkmuster, die zeigen, dass Mittelalter sehr modern sein kann.

Denkmuster durch-schauen

Doch spätestens seit diesem Abend in Siena war ein Rollenwechsel eingetreten, der ihn zutiefst verunsicherte: Er war nicht mehr Regisseur, sondern Statist. Manuela, Stefan und Doris waren auf diese Denkstrukturen nicht nur wie selbstverständlich eingegangen, sie durch-schauten sie völlig. Vor allem begannen sie immer mehr, sie von heute aus zu kommentieren und auf ihre eigenes Leben zu beziehen, auf ihren Alltag, auf ihren Beruf, ihre Familie, auf ihr Liebesleben.

Wolf war ent-täuscht. Wenn er ehrlich war, ging es noch um etwas anderes: Er war neidisch, schlichtweg neidisch auf die anderen – weil sie das Wissen um diese Denkstrukturen, das Bewusstsein für das Unbewusste, den Umgang mit Mittelalter und Moderne viel origineller umsetzten als er. Und das in kurzer Zeit. Ihm war bewusst geworden: Er verwaltete nur dieses Wissen. Und vermittelte es. Die anderen lebten es.

Wolf fuhr durch die Nacht. Florenz, Modena, Verona, Bozen. Als sie den Brenner passiert hatten, wurden die Häuser wieder quadratisch, praktisch, gut. Wohlgeordnete Monotonie.

"Unterm Beton liegt der Strand."


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2 Kommentare verfügbar

  • BerndP
    am 14.09.2011
    Antworten
    Ich möchte euch mal ganz groß loben für eure Kontext. Nachdem ich bei Eurer Einweihungsfeier dabei sein durfte, lese ich die Kontext regelmäßig. Besonders die Denkbühne hat es mir angetan. Eine schöne Idee, diese Gruppe von Leuten als Handelnde in einer Geschichte wirken zu lassen, die unsere…
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