KONTEXT:Wochenzeitung
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Es wird Tag

Es wird Tag
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Im Alltag und in der Literatur finden sich tradierte Lebens- und Denkmuster, die vielen kaum noch bewusst sind. Dabei haben sie eine zeitaktuelle Bedeutung. Vor allem vermitteln sie strukturiertes Denken – eine Kompetenz, die in der Bildung wie im Beruf besonders wichtig ist. Die Kontext:Wochenzeitung putzt diese Denkmuster wieder blank, in einer fortlaufenden Erzählung. In dieser Ausgabe geht es um den Morgen danach – Romeo und Julia lassen grüßen.

Die Morgendämmerung als Zeit-Raum: zwischen nicht mehr und noch nicht.

Das toskanische Hotel, in dem das Romantik-Quartett abstieg, lag erhöht auf einer alten Burganlage, zwischen Florenz und Siena, mitten in dieser ausschweifenden Landschaft voller grünbrauner Wellen, mohnrot durchsetzt, auf denen genüsslich weißgraue Gemäuer sitzen und Zypressen sich gar nicht züchtig zuspitzen. Als die vier ankamen, sprang Manuela sofort aus dem Auto. Sie schaute nur noch, regungslos; jedes Bild und jede Szene dieser opulenten Natur-Inszenierung schien sie mit den Augen aufsaugen zu wollen. "Das ist Sinnlichkeit pur", sagte sie, und zum ersten Mal klang es auch bei ihr wie Schwärmerei.

Doris nickte: "Wie gemalt."

Stefan bewegte etwas anderes: "Wenn ich jetzt nichts zu essen bekomme, zersetzt sich mein Magen nominalistisch."

Als Stefans ganz konkrete Notlage behoben war, lehnte er sich zurück, mit dem Ausdruck allgemeiner Zufriedenheit, und nahm einen großen Schluck Vino rosso: "Jetzt ausgiebig schlafen, einen romantischen Traum träumen und morgen ein großes spätes Frühstück genießen. Ah, das ist Dolce Vita."

"Ist es nicht", sagte Wolf.

"Wie?"

"Ich will euch kurz nach Sonnenaufgang was erzählen." Um was es ging, verriet Wolf nicht. Er deutete nur an, dass dieser Ort, das Kastell, wie gemacht sei für das nächste Thema.

"Und warum in aller Herrgottsfrühe?"

"Das muss sein. Damit wird das Ganze unmittelbar erlebbar."

Stefan schüttelte den Kopf. "Mann, Romantiker zu sein ist ja verdammt anstrengend."

"Treffen wir uns um sechs Uhr im Burghof", sagte Wolf.

Die Sonne kroch langsam hinter den welligen Hügeln hervor, als vier leicht zerknautscht aussehende Gestalten auf einem Kiesweg in den restaurierten Burghof schlurften. "MorgenstuMinne auf der Zinne.nd hat Gold im Mund", brummte Stefan sichtlich verdrossen.

"Nicht immer", sagte Wolf.

Er bat die anderen, sich vorzustellen, das Hotel sei kein Hotel, sondern die Burg, die früher hier gestanden hatte. Wolf zeigte auf ein großes Fenster. "Nehmen wir mal an, dahinter ist es passiert."

Die anderen schauten nach oben. Es konnte losgehen. Wolf schlug seinen blauen Aktenordner auf und startete seine morgendliche Vorlesung:

Er liegt mit ihr im Bett. Der Morgen graut – und beiden dämmert's, dass sie ein Problem haben. Das kommt in den besten Gedichten vor.

Wir befinden uns im "Tagelied". Eine Gattung der Weltliteratur. Bei ihr kommen Germanisten zuweilen ins Tuscheln, vor allem die mit steifer Halskrause und festen Vorstellungen, wie Literatur zu sein hat. Diese Gattung ist so alt wie die Menschheit oder der Seitensprung. Was anthropologisch betrachtet wohl aufs Gleiche hinausläuft.

Das älteste Tagelied kommt aus dem Chinesischen des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts. Es ist ein Dialog zwischen einer Dame und ihrem Liebhaber am Morgen. Die Dame beginnt:

Der Hahn hat schon gekräht,
's ist heller Tag!

Er: Nicht war's der Hahn,
das Sirren war es
grüner Fliegen.

Sie: Im Osten glüht der Himmel,
's ist heller Tag!

Er: Der Schein des Mondes ist's,
nicht Morgenröte,
die Mücken tanzen –
wie im Schlaf.

Sie: Schnell, geh fort –,
's ist heller Tag!

Was manchen Germanisten die Röte ins Gesicht treibt, ist die nackte Tatsache, dass diese Gattung just in jener Epoche seine Höhepunkte hatte, in der dies literaturhistorisch eigentlich gar nicht sein durfte: im hohen Minnesang des Mittelalters.

Das Höchste der Gefühle war damals ein flüchtiger Blick des Kavaliers aufs edle Antlitz der noch edleren Dame. Ansonsten schmachten, anhimmeln und immer schön auf nobler Distanz bleiben. So halten's zumindest Reinmar, der entschwebte Raumschiff-Reimer, dessen Epigonen und auch mancher zugeknöpfte Literaturwissenschaftler. In medias res, heimlicher Beischlaf, etwa auch noch in der Kemenate, dem beheizten Frauenzimmer? Nein, was nicht sein darf, das nicht sein kann.

Lyrische Seitensprünge

Doch der Minne-Reformer Walther von der Vogelweide, auch andere Dichter wie Morungen, Botenlouben oder Wolfram von Eschenbach, ließen "es" in Gedichten passieren – wenn's hoch herging, auch noch zwischen Ritter und verheirateter Dame aus allerbesten Kreisen. Gut, Romeo und Julia heute?die amourösen Stelldichein von Ritter und Schäferin unter der Linde an der Heide, Thema der Pastorelle, waren noch eine lässliche Sünde. Immerhin war bei dieser Gattung meist der soziale Abstand gewahrt, quasi wie heute zwischen monegassischer Prinzessin und Bodyguard oder zwischen Chef und Sekretärin.

Doch im Tagelied gehen er und sie in gleicher Stellung zur Sache, soziologisch gesehen, und dann auch noch heimlich am Hof, mitten in der mittelalterlichen High Society. Ein Skandal. In manchen Tageliedern ging der – vermeintliche – Verrat an der Moral so weit, dass der Wächter auf der Zinne, sonst unbestechlicher Hüter seines Herrn, den lüsternen Feind samt fremdgehender Herrin warnte: Der Tag bricht an – also raus aus dem Bett und der pikanten Lage!

Solche lyrischen Seitensprünge brachten manchen Germanistik-Altmeister in die Bredouille. Es wurde versucht, moralisch zu retten, was zu retten war: Von "Entlastungsfunktion" ist die Rede. Das Tagelied sei ein "Ventil" für die klassischen Minnesänger gewesen, um die ansonsten verwehrte Liebeserfüllung doch darstellen zu können. So steht's nachzulesen in einem germanistischen Standardwerk.

Keine Liebe ohne Leid

Pffffft. Damit wäre die Luft raus aus der Gattung. Unberührt bliebe die tiefere, spannende Denkstruktur, die im mittelalterlichen Tagelied Form und Inhalt bekommt. Um das "Coitus ergo sum" geht es literarisch primär nicht. Sondern: die hohe Minne, die Liebe, die Idee wird hineingestellt in Zeit und Raum. Es ist ein Leben an der Grenze: zwischen Liebeslyrik ist selten nur niedlich.Nacht und Tag, nicht mehr und noch nicht, Einheit und Trennung, zwischen innerer Realität und äußerer Realität. Die heimliche Liebe des hochgestellten Protagonisten-Paars ist gegen die äußere Norm, doch es ist Liebe, meist wechselseitig und leidenschaftlich, lust- und leidvoll.

"Liebe ohne leit kan niht gesîn", sagt in einem Tagelied des frühen Minnesangs der Mann, älter und erfahrener als sie. Ein Lehrsatz: Liebe ohne Leid, das gibt es nicht, es sei denn in einer Traumwelt jenseits von Zeit und Raum. Wer Liebe sucht, muss Leid auf sich nehmen – es gehört zur Ganzheit menschlichen Lebens. Auch in dieser Grenzsituation des Tagelieds, oder gerade dort, werden unterschiedliche Denkpositionen des hohen Minnesangs greifbar. Bei Morungen, dem platonischen Realisten, reflektieren er und sie, jeweils im Wechsel der Strophen, was sie in dieser Nacht erlebt haben.

O weh, soll mir nicht wieder je
Hell leuchten in der Nacht
So weiß wie frischer Schnee
Ihr Leib in lichter Pracht!
Der trog die Augen mein:
Ich wähnt, es sollte sein
Des lichten Mondes Schein,
    Da tagt' es.

O weh, dass ich ihn nimmer seh
Verweilen all den Morgen,
Wenn uns die Nacht vergeh,
Dass wir nicht dürfen sorgen.
O weh, der Tag ist da!
Wie ging es ihm so nah,
Als er den Tag ersah:
    Da tagt' es.

Es tagt. "Es" ist impersonal, benennt Vorgänge, von denen der Mensch betroffen ist, unausweichlich und nicht änderbar. Es regnet, es hagelt, es blüht. Wolfram von Eschenbach, der "Parzival"-Autor, beschreibt dagegen in einem Tagelied dieses unausweichliche Tagwerden mit einem unheimlich-konkreten Bild: "Seine Klauen sind durch die Wolken geschlagen, er steigt auf mit großer Kraft, ich sehe ihn grauen, täglich, wie er will tagen – der Tag." Am Ende dieses Tageslieds schildert der Erzähler aristotelisch, im Besonderen das Allgemeine, dass und wie die Liebe den beiden Lohn gibt: "Mit kusse und anders gap in minne lon."

In der Nacht, dem nicht sichtbaren und daher nicht einsehbaren Zeit-Raum, wird die Tagelied-Liebe erlebt. Das Paar nimmt sich die Freiheit dazu. Doch mit der Dämmerung, dem zeitlichen Zwischen-Raum, beginnt der Tag. Wandel von Zeit und Raum. Die äußere Realität bricht herein – und damit der Konflikt zwischen Wollen und Müssen, Liebe und Norm. Ist es Tag, werden die "Merker", die sozialen Kontrolleure, hinschauen. Dann wird die verbotene Liebe für die Gesellschaft sichtbar, im Lichte der Öffentlichkeit stehen. Hat sie eine Zukunft, kann oder darf sie eine haben?

Der IM Kuckuck bei Wolf Biermann

Ein sehr moderner Konflikt. Mitten im Mittelalter. Zwei Liebende, die nicht zusammen sein dürfen, sind heimlich zusammen. Weltberühmt und klassisch wird das tiefere Tagelied-Thema später durch das tragische Liebespaar aus Verona: Romeo und Julia.

Bei derart geballter Germanistik-Lust verwundert es nicht, dass für die moderne Tagelied-Rezeption allzu niedliche, gleichsam grauen-hafte "Poeme" herhalten müssen: Dietmar Schönherrs gesanglicher Ausrutscher "Schatz, ich muss zum Bus" etwa. Da geht die Morgensonne freiwillig unter.

Weitgehend im Dunkeln blieb daher, dass sich die aufgeweckteste Verarbeitung der uralten Tagelied-Tradition in neuerer Zeit ausgerechnt beim bekanntesten deutschen Polit-Dichter findet: Wolf Biermann war so frei – in seinem Lied "Kuckuck Kuckuck", das er 1974 in der DDR schrieb:

Und als ich mit dir lag
Da weckte uns ein Tag
Mit kuckuck kuckuck kuu
kuckuckuck kuckuu
Das weiß ich alles noch
Wie gut der Morgen roch
Und wir, mein Lieb, dazu
dazu dazu.

Bei William Shakespeares "Romeo und Julia" war's die Nachtigall, die ihren Schnabel halten kann, und nicht die Lerche, der Morgenvogel, der alles verpfeift. Biermann, der gewiefte Parodist, wählte dagegen in seinem "deutschen demokratischen Liebeslied" den Kuckuck – jenen Vogel, der bekanntlich seine Eier in fremde Nester legt. Manches muss man bei Biermann sehr wörtlich nehmen.

"Slâfest du friedel ziere? Man wecket uns leider schiere", sagt die Frau im mittelalterlichen Tagelied. In Biermanns Lied zählt Sie die Kuckucksrufe – "wieviele Jahre hab'n wir?" Er weiß schon da um das Ende des Lieds:

Der Kuckuck hat gelogn
Und du hast mich betrogn
Und dich, mein Lieb, dazu
dazu dazu.

Was im Mittelalter Ritter und verheiratete Dame waren, ist in Wolf Biermanns DDR-Tagelied eine nicht weniger brisante Paarung: Sie ist die konformistische Marxistin – und er der Nonkonformistische, der Gegner der Partei. Die unheimlich heimlichen "Merker" in Ostberlin haben Am Tag kommt die Realität.sie in sein Nest gelegt. Sex mit dem Staatsfeind. Und der gefiederte IM lauscht mit. Zwei Jahre später, als Biermann in der BRD gastiert, zwingt die SED-Führung ihn, im goldenen Käfig zu bleiben.

Walther, Biermann und das Ich im Morgengrauen: im Zeit-Raum zwischen nicht mehr und noch nicht liegt das Leben frei. Mit dem Tag bricht die Realität herein. Das Allgemeine und Besondere im Hier und Jetzt. Das Tagelied und seine Denkstruktur – das ist mehr als ein Seitensprung. Bis heute.

Die Sonne stand jetzt so, dass der toskanische Burghof hell bestrahlt wurde. Im Hotel regte sich langsam Leben. Oben hatte irgendjemand das Fenster geöffnet. Ohne zu ahnen, in welche Geschichte er oder sie hineingeraten war.

Die Dramaturgie hatte gestimmt. Was Stefan auf seine Weise kommentierte: "Ich habe befürchtet, dass wir ein paar Stunden tagen. Zum Glück war's keine lange Nummer wie beim Minnesang in Venedig. Eher ein Quickie", sagte er und strich sich die Knautschzonen aus dem Gesicht.

Manuela winkte ab. "Kannst du eigentlich auch mal ernst sein?"

"Ich bin ernster, als du denkst", sagte Stefan. Er schaute Manuela an. "Ich habe auch meine Zwischenräume. Und meine Wandlungen."


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