"2013 ist Bundestagswahl ... Gruß an Frau Merkel", steht auf dem zwölf Meter langen Banner der Stuttgart-21-Gegner. Seit der Niederlage von Merkels Kandidat Sebastian Turner bei der OB-Wahl in Stuttgart wird das Transparent bei den Montagsdemonstrationen immer wieder gezeigt. Es benennt zwei schlichte Fakten: den Termin der nächsten Bundestagswahl und die Eigentumsverhältnisse der Deutschen Bahn, die eine hundertprozentige Tochter des Staates ist. Wer die Politik von Bahnchef Rüdiger Grube und Technikvorstand Volker Kefer in Grundsatzfragen ändern will, hat nur eine Adresse, das Kanzleramt.
Nun erlebt Stuttgart 21 derweil eine Panne nach der anderen. Zuletzt musste Kefer erneut Mehrkosten einräumen – mehr als 350 Millionen Euro. Kritiker halten die Zahl für stark untertrieben. Aber schon damit ist der Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro durchbrochen. Weitere Kostensteigerungen, technische und planerische Probleme sind programmiert. Der Berliner Hauptstadtflughafen lässt grüßen. Doch Kretschmann hat vorgebaut. Schließlich will er nicht in die gleiche Falle tappen wie sein Berliner Kollege Klaus Wowereit, der als Vorsitzender des Flughafen-Aufsichtsrats für den Schlamassel politisch verantwortlich gemacht wird.
Kretschmann ist jetzt der vierte Mann im Staate
Seit 18 Monaten regiert der Grüne inzwischen den Südweststaat. Und jetzt hat er auch noch das vierthöchste Amt des Staates inne. Als Bundesratspräsident ist er Stellvertreter des Bundespräsidenten. Wenn der erste Mann im Staat zurücktritt, rückt Kretschmann nach. Und er hätte im Falle eines inneren Notstands ein gewichtiges Wort mitzusprechen. Denn die Notstandsgesetze, die er einst als Student bekämpft hatte, weisen dem Bundesrat entsprechende Rechte zu.
In seiner neuen Funktion wird Kretschmann nun öfter in Berlin weilen. Er wird mit der Bundesregierung verhandeln, die im Bundesrat keine Mehrheit mehr hat. Denn Schwarz-Gelb regiert nur noch in Bayern, Hessen, Niedersachsen und Sachsen. Er wird eigene Gesetze durchboxen, Änderungen bei zustimmungspflichtigen Gesetzen einfordern und Kompromisse suchen. Andere nennen das "politischen Kuhhandel". Ob und wann Kretschmann mit der Bundeskanzlerin über Stuttgart 21 sprechen wird, dessen Realisierung laut Merkel über die "Zukunftsfähigkeit Deutschlands" entscheidet, hat der Mann mit dem lustigen Bürstenschnitt noch nicht verraten.
Merkel hat das "bestgeplante Bauprojekt" und die damit verbundenen Kostensteigerungen bis auf Weiteres Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) und dessen Staatssekretär Enak Ferlemann (CDU) überlassen. Die Bundesregierung werde sich an Mehrkosten nicht beteiligen, sagte Ferlemann dazu bei der jüngsten Sitzung des Bundestagsverkehrsausschusses. Könnte sie auch gar nicht, denn dem Verkehrsminister ist längst das Geld für viel dringendere Bahninvestitionen ausgegangen. Ferlemann betonte, dass S 21 "ein eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn" sei. Geld gebe der Bund nur für den Bau der Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm. Das Ministerium zahle dafür 564 Millionen Euro, exakt den Betrag, der "auch ohne Verwirklichung von Stuttgart 21 erforderlich gewesen wäre". So Ferlemann auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sabine Leidig (Linke).
Claus Schmiedel will weitere Steuergelder versenken
Damit hat Bahn-Chef Rüdiger Grube ein Problem. Denn auch die anderen Projektpartner, das Land Baden-Württemberg, die Stadt Stuttgart und der Verband Region Stuttgart, wollen keinen Cent mehr für das Projekt ausgeben. Nur Claus Schmiedel, der SPD-Fraktionschef im Stuttgarter Landtag, will weitere Steuergelder versenken: im Tiefbahnhof, dem rund 60 Kilometer umfassenden Tunnelsystem und dem neuen Flughafenbahnhof auf den Fildern südlich von Stuttgart.
Laut Schmiedel und Bahn wird der neue Filderbahnhof teurer, da die Bürger in einem umstrittenen Dialog eine andere Trassenführung gewünscht hätten. Tatsächlich präferierten die Dialog-Teilnehmer aber den Erhalt der Gäubahn nach Zürich wie es Heiner Geiß ler vor zwei Jahren mit ausdrücklicher Zustimmung der Bahn AG festgelegt hatte. „Die große Mehrheit der Teilnehmer“, so der Sprecher der Schutzgemeinschaft Filder, Steffen Siegel, „hatte beschlossen, die Gäubahn weiter wie bisher über Vaihingen in den Stuttgarter Bahnhof zu führen.“ Dies jetzt ins Gegenteil zu verkehren sei „ein schändlicher Umgang mit den Bürgern“.
Doch davon wollen die Bahn und Claus Schmiedel jetzt nichts wissen. Stattdessen, sagt Steffen Siegel, habe Bahnchef Grube fast eine Viertel Milliarde Euro an Mehrkosten erfunden, die die Steuerzahler in Stuttgart und Baden-Württemberg aufbringen sollen. Dies müsse außerhalb des bestehenden Finanzierungsvertrags geregelt werden, unterstützt der SPD-Mann Claus Schmiedel die Deutsche Bahn. Und dies, obwohl Rüdiger Grube noch Ende 2010 zugesichert hatte, dass die Kosten der von Heiner Geißler geforderten Verbesserungen finanziell gedeckt seien: "Natürlich werden wir die Kosten von 4,526 Milliarden Euro halten können", hatte der Bahnchef damals dem Fernsehsender Phoenix versichert.
Schmiedel will davon nichts mehr wissen. Man solle endlich aufhören, so zu tun, als ob Stuttgart 21 neu aufgerollt werden könne, schimpft er und hat dabei auch die Investitionen im Kopf, die im Sog des Bahnprojekts kommen sollen. Auf dem frei werdenden Gleisfeld soll die Landeshauptstadt eine zweite City bekommen. Geschätztes Investitionsvolumen für die Immobilienwirtschaft: mehr als zehn Milliarden Euro. So viel wie derzeit nirgends in Europa. "Über Stuttgart 21 liegt Gottes Segen", hat Schmiedel einst bei einer Kundgebung von S-21-Befürwortern erklärt. Und: "Wir können stolz sein, dass wir hier stehen: Wir sind die Guten."
Einen Bürgerentscheid über die Mehrkosten lehnt der umstrittene Genosse ab. Dem designierten grünen Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn riet er, er solle "den Mund nicht zu voll nehmen, bevor er das Amt überhaupt angetreten hat", und er solle "keine falschen Hoffnungen wecken". Kuhn hatte zuvor für den Fall von Mehrkosten einen Bürgerentscheid gefordert und erklärt: "Für Planungsfehler der Bahn werden wir keinen Cent bezahlen. Wenn schon jetzt das Geld knapp wird, bevor der Bau richtig losgeht, ist das deren Problem."
Doch jetzt scheint Kretschmann zur Überraschung vieler einzulenken. Er schließe nicht mehr aus, sagte der Ministerpräsident laut einer Agenturmeldung, dass das Land mehr als den bisher zugesagten Kostenanteil beisteuere. Später dementierte der MP: "Der Kostendeckel bei Stuttgart 21 gilt. Bekanntermaßen gibt es den einstimmigen Kabinettbeschluss vom 13. September 2011, wonach sich das Land an Mehrkosten oberhalb von 4,526 Milliarden Euro nicht beteiligen wird."
Nun ist die Verwirrung groß. Denn der Hardliner Claus Schmiedel hat sich auch innerhalb der Stuttgarter SPD ins Abseits begeben. Erstmals stellte sich der Kreisvorsitzende der SPD, Dejan Perc, massiv gegen seinen Parteigenossen. Grund: der Bürgerentscheid ist kein neuer Einfall Kuhns, sondern eine zweieinhalb Jahre alte Idee der Stuttgarter SPD. Auf ihre Initiative hin hat der Gemeinderat im Sommer 2009 beschlossen, "im Falle von etwaigen Mehrkosten für die Stadt, die über die bisherige Vertragslage hinausgehen, einen Bürgerentscheid über die weitere Mitfinanzierung des Projekts Stuttgart 21 durchzuführen". Dem Antrag hatten auch die CDU und Noch-OB Wolfgang Schuster (CDU) zugestimmt.
Die Grüne Lösch hält auf dem Marktplatz dagegen
Schmiedel habe mit seinen unüberlegten Bekenntnissen zudem einen "veritablen Koalitionskrach" herbeiredet, sagte Perc. "Im Koalitionsvertrag hatten Grüne und SPD jedenfalls vereinbart, dass auch das Land keine Mehrkosten übernehmen wird", erinnert der SPD-Kreischef. Dies betont auch die Stuttgarter Landtagsabgeordnete und Landtagsvizepräsidentin Brigitte Lösch (Grüne), die bei der 148. Montagsdemonstration am 12. November auf dem Stuttgarter Marktplatz sprechen wird. Lösch: "Bevor die ungeklärte Finanzierung, der ungenügende Brandschutz und das noch nicht genehmigungsfähige Grundwassermanagement nicht geklärt sind, darf es keine weitere Zerstörung auf Vorrat geben." Das gelte auch für die Bäume im Rosensteinpark.
Die Bahn und die Tunnelbahnhof-Befürworter berufen sich zwar immer noch auf die umstrittene Volksabstimmung über einen Ausstieg aus der S-21-Finanzierung durch das Land Baden-Württemberg vor einem Jahr. Aber in Stuttgart verweisen immer mehr Menschen auf die Wahlversprechen, die mittlerweile gebrochen wurden. Was Heiner Geißler vor zwei Jahren durchgesetzt hatte, hätte die Bahn kaum umgesetzt, heißt es. Zudem sei der Kostendeckel durchbrochen worden.
Winfried Kretschmann äußert sich dazu nur noch selten. Seiner Beliebtheit im Land hat dies nicht geschadet. Er konnte sie nach der Volksabstimmung sogar weiter ausbauen. Denn seitdem lässt die Landesregierung den unterirdischen Bahnknoten – gegen Kretschmanns Überzeugung – weiter bauen (und vor Demonstranten schützen), auch wenn die Baufortschritte bisher kaum nennenswert sind. Er sei eben "ein guter Demokrat", sagt der Ministerpräsident. Das kommt an. Und wenn es schiefgeht, wird er sagen, er habe ja stets vor den Gefahren gewarnt. Seine Popularität wird damit weiter steigen. Klaus Wowereit hat diese Option in Berlin nicht.
3 Kommentare verfügbar
canislauscher
am 08.11.2012Die Antwort darauf steht im Artikel: "[...]Dies müsse a u ß e r h a l b d e s b e s t e h e n d e n F i n a n z i e r u n g s v e r t r a g s geregelt werden, unterstützt der SPD-Mann Claus Schmiedel die Deutsche Bahn.[...]". (Hervorhebung canislauscher)
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