Natürlich ging es um den Bahnhof. Um Baustopp und Stresstest, aber letztlich ging es doch wieder um die Frage, die Stuttgart 21 von Anfang an geprägt hat: Was ist Lüge, und was ist Wahrheit? Dazwischen hat sich der Dagegen- und der Dafür-Bürger bewegt, mehr oder weniger aufgeregt, und sich über die Zeit einen Kanon von Argumenten zurechtgelegt, dem eine gewisse Hermetik zu eigen ist. Weniger freundlich ausgedrückt, könnte man auch von Sektiererei in der Sackgasse reden.
Winfried Kretschmann hat versucht, sie aufzubrechen. Er hat seine eigene Vergangenheit bemüht, die Studentenzeit beim Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), als sie hinter Mao hergeschwommen und an der Wand angekommen sind. Seitdem ist für ihn Politik keine Frage der Wahrheit, sondern der Freiheit. Das hört sich zunächst ziemlich beliebig an, da abhängig von der Definition und den gesellschaftlichen Verhältnissen. Auch Kretschmanns Politik ist kein herrschaftsfreier Diskurs, der die Herren Grube und Ramsauer ausklammern kann. Aber sie ist allemal besser als politökonomisch verordnete Wahrheiten, die in Gestalt von Gesetzestafeln vorgezeigt werden, wonach S 21 alternativlos und unumkehrbar sei.
Kretschmann ist so frei, die Abwesenheit von Denkverboten und Dogmen zu fordern, die einen Dialog so schwierig machen, die Positionen einbetonieren und nur noch mit der "Wahrheit" zu vereinbaren sind, die einem passende Experten vermitteln. Das kann nicht gut gehen, weil solche Ikonen der Selbstbestätigung gerne zu Instanzen erhoben werden, die nicht mehr hinterfragbar sind. Auch sie müssen runter vom Sockel, damit ein offener Streit wieder möglich wird.
Die Kontext:Wochenzeitung hat dazu in der vergangenen Ausgabe einen Artikel ("<link internal-link>Der Widerstand – im Kern gespalten") veröffentlicht, dem diese Absicht zugrunde lag. Er sollte durchsichtig machen, welche Konflikte die S-21-Gegner seit Monaten haben und versuchen, unter der Decke zu halten. Doch diese Geheimniskrämerei, stets im Dienste der Sache versteht sich, nagt an der Glaubwürdigkeit des Protests, verschärft das Lagerdenken, schreckt viele ab und ist das Gegenteil dessen, was sich die Bewegung auf die Fahnen geschrieben hat: gelebte Basisdemokratie. Der Artikel ist breit diskutiert worden – ohne dass der Bote geköpft worden wäre. Klar gab es herbe Kritik. Das muss sein. Aber viel war auch vom Aufeinanderzugehen, vom Spannungen-Aushalten, von Toleranz und von einer neuen Offenheit die Rede. Das deutet darauf hin, dass sich die Kombattanten die Freiheit genommen haben, über den Ernst der Lage nachzudenken. Dass sich das Aktionsbündnis und die Parkschützer nun zu gemeinsamen Gesprächen gefunden haben, passt dazu.
Apropos Freiheit: Kretschmann hat es sich geleistet, sie dort zu beanspruchen, wo sie anderen verwehrt war. In der Alten Reithalle, in die er vom Stuttgarter Pressehaus eingeladen war. Die streikenden Redakteure mussten mit ihrem Anliegen draußen bleiben. Also hat er vor der Tür mit ihnen geredet. Wer wissen will, worum es hier im Grundsatz geht, ist mit dem Text "<link internal-link>Dumpingtarife" auf der "Denkbühne" bestens bedient. Er stammt von Bruno Bienzle, dem langjährigen Lokalchef und stellvertretenden Chefredakteur der "Stuttgarter Nachrichten".
<link file:4323 download>Der Ministerpräsident auf dem Stuttgarter Marktplatz – eine Fotosequenz von Jo Röttgers (Tipp: auf 150 Prozent vergrößern)
2 Kommentare verfügbar
hajomueller
am 09.06.2011Zum Beispiel die Sache mit der Wahrheit und…