Es stört Philipp Maußhardt schon lange, dass sein Nachbarhaus leer steht. Deshalb hat der Tübinger nun zu ungewöhnlichen Maßnahmen gegriffen. Und damit für Empörung, Belustigung und engagierte Diskussionen in der Universitätsstadt gesorgt.
Der Medizinstudent klingelte am späten Abend. Er habe gehört, teilte er einem verblüfften Philipp Maußhardt mit, hier sei ein Haus zu besetzen. Der bat den späten Gast herein, man plauderte am Küchentisch und bei einem späten Kaffee über die Besetzung des leer stehenden Nachbarhauses. Ob das Ganze denn überhaupt legal sei, wollte der späte Besuch wissen. Da wiederum war Maußhardt noch mehr erstaunt. "Er hatte wohl noch nie von Hausbesetzung gehört", sagt Maußhardt. Der junge Mann war schnell wieder verschwunden.
Was war passiert? Am Morgen war Maußhardts Leserbrief im "Schwäbischen Tagblatt" erschienen. Und der Inhalt sorgte nicht nur für den späten Besuch eines Medizinstudenten, sondern auch für einigen Wirbel in der kleinen Universitätsstadt: Seit über zehn Jahren stehe sein Nachbarhaus leer, in bester Wohnlage und mit Platz für mindestens drei Familien oder Wohngemeinschaften. Die Besitzerin habe offenbar jedes Interesse an ihrem Besitz verloren. Dann der entscheidende Satz: "Die Türen sind leicht zu öffnen, notfalls würde ich als Nachbar auch gerne das notwendige Werkzeug reichen." Tübingen stand kopf.
Aufforderung zur Besetzung
Eine Aufforderung zur Besetzung des Nachbarhauses? Verbunden mit der Einladung zu einer Außenbesichtigung bei Kaffee und Kuchen? Ja, wo sind wir denn? Eine Leserbrief-Schlacht begann.
Einige Tage und diverse Leserbriefe später sitzt Philipp Maußhardt in seiner Küche. Der Blick vom Esstisch geht auf den Neckar – und auf das Nachbarhaus. Er habe es satt, in blinde Fenster zu schauen, sagt Maußhardt. Sein Sohn, hochaufgeschossen, rosa Polohemd, übt sich derweil in der hohen Kunst der Teigzubereitung. Pfannkuchen sollen es werden, und der väterliche Rat ist immer wieder gefragt. Wie viele Eier, welches Mehl, Milch oder Mineralwasser? Geduldig beantwortet Maußhardt abwechselnd Fragen zu Leerstand, Leserbriefen und Teigkonsistenz.
Das Haus, um das sich niemand kümmert, muss wieder bewohnt werden
Seit zwei Jahren wohnt Maußhardt in Tübingen am Neckar. Dass sein Nachbarhaus leer steht, hat ihm noch nie gefallen. Telefonate mit der Besitzerin hätten auch nichts gebracht, es sei schwer, sich überhaupt mit ihr zu unterhalten. Ablehnend und schroff habe sie reagiert, mitgeteilt, er solle sich um sein Ding kümmern. Was der Nachbar auch tat. Bis er beim Müllrausbringen auf einem Tannenzapfen aus dem ungepflegten Nachbargarten trat und stürzte. Außenband ab, Maußhardt sauer und um die Erkenntnis reicher, dass "dieses blöde Haus, um das sich niemand kümmert, endlich wieder bewohnt werden soll".
Er schrieb also jenen Leserbrief. Während sich bei Maußhardt zwei Studentinnen – und besagter Jungmediziner – zur Besichtigung des leer stehenden Nachbarhauses anmeldeten, feilte der Vorsitzende des Tübinger Eigentümervereins Haus & Grund, Helmut Failenschmid, an einer Leserbrief-Retourkutsche. Tübingens seltene Leerstände hätten allesamt nur eine einzige Ursache: die Überforderung älterer alleinstehender Häuslebesitzer. Maußhardt möge lieber die alte Dame zum Kaffee einladen als interessierte Hausbesetzer. Und herausfinden, ob er ihr helfen könne. Eines jedenfalls möge der "forsche Nachbar" nicht tun: leichtfertig zu Straftaten aufrufen. Manchen war der Nachbar bei seiner Nachbarsuche zu forsch.
Maußhardt stört das wenig. Einerseits seien ihm mögliche Konsequenzen schlichtweg "wurscht". Andererseits habe er sich angesichts der herrschenden Wohnungsnot gefragt, warum niemand auf die Idee komme, sich diese Fläche zunutze zu machen. Bezahlbare Wohnungen sind Mangelware in Tübingen. In kaum einer anderen Stadt dürften Besenkammern, Kellergemächer oder Dachkammern vergleichbare Mieten einfahren.
Das brachte auch den grünen Tübinger Oberbürgermeister auf den Plan. "Ich habe das Haus vor drei Jahren schon ins Blickfeld genommen." Will heißen: Palmer hatte von einem Verwandten der Besitzerin ans Herz gelegt bekommen, mit dieser einmal zu sprechen. Doch da biss auch der beredte OB auf Granit. "Sie hat mich wüst beschimpft", erinnert sich Palmer, was das die Stadt überhaupt angehe, das sei ja wie bei den Nazis. Eine Haltung, die Palmer angesichts der Wohnraumsituation "sehr ärgerlich" findet. Aber eben eine, die der grundgesetzliche Schutz des Eigentums garantiert.
Eigentum ist besser geschützt als die Menschen
Das wiederum ärgert den Nachbarn Philipp Maußhardt, der der Meinung ist, dass Eigentum auch verpflichtet. Wenn die Besitzerin sich nicht mehr um das Haus kümmern könne, solle sie es eben verkaufen oder verschenken. Aber auf keinen Fall leer stehen lassen. "Ich finde, dass man in solchen Fällen Menschen enteignen können sollte oder müsste." Leider aber sei das Grundeigentum hierzulande "besser geschützt als die Menschen".
Ein Gedanke, den Leserbriefschreiber Marc Amann teilt. Zusammen mit einem Mitbewohner begrüßte er "den couragierten Aufruf zum zivilen Ungehorsam: Vielleicht fühlen sich ja mehr Menschen angesprochen, Informationen über Leerstand zu veröffentlichen, Luxussanierung und damit verbundene Vertreibung anzuprangern und Hausbesetzer/innen zu unterstützen." Es folgte der Verweis auf die Niederlande, wo Besetzungen immerhin bis zum Regierungswechsel 2010 nach einem Jahr Leerstand völlig legal waren, Kommunen in Infobüros entsprechende Objekte vermittelten. Fazit des Politaktivisten: "Es gibt in Tübingen viel Know-how, um Initiativen bei der 'Entmarktlichung' von Wohnraum und der Legalisierung besetzter Häuser zu unterstützen."
Was die Besitzerin wenig interessieren dürfte. Erteilte sie Maußhardt und Palmer noch veritable persönliche Abfuhren, so war sie zu einer Stellungnahme in der Kontext:Wochenzeitung nicht zu bewegen.
Eines hat der erboste Nachbar Maußhardt jedenfalls erreicht: In Tübingen wird nun wieder über Wohnungsnot diskutiert, das eine oder andere unbewohnte Objekt wird per Leserbrief gemeldet. Die einen weisen darauf hin, dass ein Haus ohne Bewohner dem Verfall preisgegeben ist. Die anderen regen an, die Straße durch Möblierung in Form von Sofas "freundlich für Verkehr und Bewegung ohne Auto" zu gestalten sei – gern auch mit einem entspannten Aperol Spritz. Was wiederum OB Boris Palmer freuen dürfte, der seit Jahren für weniger motorisierten Individualverkehr trommelt.
Philipp Maußhardt bereut nichts. Er sei keiner, der sich über Regeln und Gesetze definiert. Besetzungswilligen Neunachbarn würde er "die Räuberleiter machen", um über den Gartenzaun ins neue Domizil zu gelangen. "Das ist sicher auch strafbar", sagt er und lacht.
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