Der Traum erscheint oft maßlos, gleich, ob es sich um einen schönen oder um einen horriblen handelt, um einen im Schlaf geborenen oder um einen von denen, die mitten am Tage uns ins Hirn fahren wie Blitze aus einem freundlichen Gewitter. Aber das Maßlose zeigt eigentlich nur auf, wie groß das Maß sein könnte.
Nun, in meinem Traum sehe ich gelbgrüne Bänder, die überall auf der Welt von Zäunen und Stangen, von Taschen und Täschchen, von Antennen und Haarzöpfen wehen und etwas bezeichnen, was auf Wikipedia (ja, auch im Traum darf recherchiert werden) als eine zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts entstandene mitteleuropäische Bürgererweckung definiert wird. Der Begriff „Wutbürger“ ist längst vergessen, und stattdessen haben sich Termini wie „Stuttgarter Schule“ oder „Stuttgarter Bahnhofsbewegung“ durchgesetzt. Überall auf der Welt gibt es „Stuttgarter Plätze“, die daran erinnern, dass die Freiheit vom Kopf ausgeht.
Weil es bekanntermaßen zum Privileg des Traums gehört, die Kunst des Fliegens zu beherrschen, schwebe ich nun über selbiges Stuttgart und darf Folgendes zur Kenntnis nehmen: Der Bonatz-Scholer-Bau verfügt über einen nagelneuen Nordflügel. Nicht schlecht! Ein modernes Stück Architektur, das die alte Komposition bestätigt, sie aber auf spannungsvolle Weise erweitert, bereichert, ergänzt, kommentiert. Kein dümmlicher Fassadismus, keine brachiale Bedrängung, keine ewige Grube. Ein wenig lächerlich freilich ist der Minigolfplatz anstelle des Grundwassermanagements, löblich wiederum die freundliche Geste der Bahn, diesen „nicht betriebsnotwendigen Ort“ der Bevölkerung, Jung wie Alt, zur kostenlosen Benutzung anzubieten.
Überhaupt die Spielplätze! Es besteht auch einer für misslungene Gebäude. Teile des sogenannten Europäischen Viertels, eines der albtraumartig-visionären Nachlässe des abgesetzten dritten Oberbürgermeisters der Stadt, stehen hier der Bau- und Immobilienwirtschaft zur Verfügung, um dort „miserable Bürogebäude im Stil der Landesbank“ zu bauen und auch gleich wieder abzureißen, immer wieder aufs Neue: aufbauen, abreißen, aufbauen, abreißen, wie in Sandkisten oder am Strand. Das kostet zwar Geld, funktioniert aber als Ersatzhandlung. Der triebhafte Zwang „schlecht, dafür jedoch teuer zu bauen“ wird somit auf ein eng begrenztes Areal reduziert. Auf eine übersichtliche, niemals aus dem Ruder laufende Dauerbaustelle.
Die Begrenzung des Schrecklichen scheint ohnehin ein Prinzip dieses Traums zu sein. Denn wie ich da über Stuttgart fliege, erblicke ich eine gewaltige Installation: Sämtliche verzichtbare Kunst-am-Bau-Objekte Stuttgarts sind zu einer einzigen Skulptur „zusammengezogen“ worden, um den Marienplatz zu füllen, sodass hier jede Menge knallfarbene Stelen und der graue, öde Platz sich gegenseitig neutralisieren. Ein weiterer städtebaulicher Albtraum als entkräftete, tierparkartig eingeschränkte Fläche, während sich hingegen die Wilhelma zwischenzeitlich in einen reinen Streichelzoo verwandelt hat, frei von exotischen Tieren, frei von Großkatzen und Elefanten, frei von einer entmündigten Schöpfung. – Übrigens, Streichelzoo bedeutet in diesem Zusammenhang: Wahrnehmung jener Kreatur, die wir zu verspeisen pflegen. Und uns in der Folge die Frage stellen, was Gott wohl davon hält, dass wir im Dienste einer kranken Ökonomie eine krankmachende Massentierhaltung treiben, die Viecher durch die Gegend karren, sie vergiften, uns vergiften.
Apropos! Wie ich nun erfahre – denn im Traum trifft einen die Erkenntnis auf eine sprachlose Weise –, hat sich die baden-württembergische Bürgerschaft in einem Volksentscheid für die „Demokratie“ und gegen die „Bananenrepublik“ ausgesprochen. Das ist kein Witz. Denn unter diese Entscheidung fallen ein definitiv faires Wahlrecht und ein definitiv faires Abstimmungsrecht, also keine trickreiche Überhangsgeschichte und kein trickreiches Quorumstheater. Und fällt vor allem eine radikale Missbrauchsvermeidung, die etwa unterbindet, dass gewisse Leute aus frecher Lust und Laune ein „Notbewilligungsrecht“ für sich in Anspruch nehmen, als spiele man Monopoly für Bauernschlaue. Und nicht zuletzt wird unterbunden, dass Gutachten – ganz gleich, wer sie in Auftrag gibt – die Gesichtszüge des Auftraggebers idealisierend widerspiegeln, als wär‘s ein Porträtauftrag. In dieser neuen Gesellschaft ist kein Mensch so unabhängig wie der Gutachter, sein Unabhängigkeitsniveau bestimmt den moralischen Status.
Und weil im Traum auch geträumt werden darf, ist vieles von dem neuen Guten auch dem Umstand zu danken, dass Teile der CDU begriffen haben, dass, wenn man an Gott glaubt und ihn sodann qua eigener Handlungen verspottet, dies den Herrn viel mehr verärgert als ein ausgewiesener, aber konsequenter Atheismus. Richtig glauben oder gar nicht.
Fragt sich nur, ob es das auch wirklich geben kann: eine prosperierende Gesellschaft, die sich ihren Wohlstand nicht mit einer Verfinsterung ihrer Seele erkauft? Ein vom Gedanken der Leistung bestimmtes System, in dem nicht schon die Grundschüler erfüllt sind von Versagensängsten? Ein Musterland, auf welches nicht neidvoll und verächtlich, sondern bewundernd geblickt wird? Eine politische Klasse, die das Repräsentative nicht mit der Repräsentation verwechselt? Ein Verzichtenkönnen, das als Gewinn empfunden wird und nicht bloß als Einbuße von „Spaß“? Eine sündteure Hochglanzbroschüre, die anstatt im Altpapier zu landen gar nicht erst gedruckt wird?
Aber wie sagt doch Heimito von Doderer in seinem Repertorium: "Es ist der Traum die Uhr des Lebens, nur hier können wir ablesen, wie viel's schlagen wird."
Heinrich Steinfest, geboren 1961, ist in Wien aufgewachsen. Er lebt heute als Schriftsteller und Maler vorwiegend in Stuttgart.
2 Kommentare verfügbar
jkw.haag
am 12.04.2011