KONTEXT:Wochenzeitung
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Netzwerk K 21

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Was tun nach der Niederlage? Der Frankfurter Soziologe Eberhard Mühlich warnt vor einer "Rhetorik des Rachefeldzugs" und plädiert für das Positive und Perspektivische. Um das "Traumatisierende von S 21" zu überwinden, müsse das "Netzwerk K 21" das Erreichte auf die Felder Energie, Bildung und Gesundheit übertragen, schreibt der Sozialwissenschaftler und sagt auch, wie. Mit seinem Beitrag schließt Kontext die Debattenserie ab.

"Das Traumatisierende von S 21 überwinden" – unter dieser Überschrift wurde in der Kontext:Wochenzeitung eine Debatte geführt, die meines Erachtens zu sehr um Ursachen und Verantwortung für das Scheitern der Protestbewegung kreiste. Die Möglichkeiten zum Neuanfang des Netzwerks all jener, die eine andere Verkehrspolitik für besser halten, wurden kaum erwogen. Das gilt auch für die weiter reichenden Schlüsse aus der traumatisierenden Erfahrung, die sich nicht nur auf die Mobilität, sondern auch auf die Bereiche Energie, Bildung und Gesundheit beziehen. Auch Ministerpräsident Kretschmann blieb in dem Interview mit Josef-Otto Freudenreich (<link https: old.kontext-wochenzeitung.de _blank internal-link>Kontext:Wochenzeitung vom 18. Februar) bei der Frage, wie es demokratiepolitisch weitergehen soll, recht vage.

Als professioneller Beobachter aus Südhessen drängt es mich, die netzwerk- und demokratiepolitischen Optionen hervorzuheben, die durch den lang anhaltenden, fantasievollen und gewaltfreien Protest gegen S 21 und schließlich durch das Netzwerk zur Formulierung der Alternative K 21 eröffnet wurden.

I. Fragen an den Ministerpräsidenten Kretschmann

Kretschmann bezeichnet es als das "große Unternehmen" seiner Regierung, "das Projekt der Bürgergesellschaft auf die Bühne der Politik zu bringen". Und er nennt auch das Ziel, auf das sich die Regierung verständigt hat: "Diesen Schritt in eine neue Bürgergesellschaft haben wir dann geschafft, wenn die Zivilgesellschaft denselben Einfluss auf die Institutionen hat, wie ihn starke Lobby- und Interessengruppen haben."

Doch viele Fragen bleiben offen. Wer sind die Adressaten, auf die die Zivilgesellschaft den gleichen Einfluss gewinnen soll wie Experten und Lobbyisten? Vermutlich sind Regierung und Parlament auf Landesebene gemeint; es sind aber auch noch andere denkbar wie zum Beispiel die Experten und Lobbyisten selbst, die um ihre Reputation besorgt sein müssen, wenn ihre Ratschläge der öffentlichen Debatte nicht standhalten. Wo findet Einflussnahme statt? In der Öffentlichkeit der politischen Bühne oder in den Kulissen in nicht öffentlichen Netzwerken? Auf der Landes- oder auf der Kommunalbühne? Dann: was ist die Messlatte für Einflusschancen, nach der beurteilt werden kann, ob die Regierung ihren Job gut gemacht hat? Ist es die Zufriedenheit der Gehörten? Oder ist es die rechtlich gesicherte Beteiligung der Bürgergesellschaft bei Zielvereinbarung, Umsetzung und Ergebnisvergleich? Die letzte Frage dürfte die spannendste und zugleich schwierigste sein: Wie sollen die Dramen und die Dramaturgie für die Bühne der Politik umgeschrieben werden, das heißt, welche institutionellen Vorkehrungen sind zu treffen, um die Einflusschancen der Bürgergesellschaft auf Regierung und Parlament denen der Experten und der Lobby anzunähern?

II. Für eine demokratische Netzwerkverfassung

Die entscheidenden Akte in den gegenwärtigen Dramen auf der Bühne der Politik werden in den Verhandlungen von informellen Netzwerken mit Vertretern von Regierung, Wirtschaft und Wissenschaft in den Kulissen der Bühnen in Brüssel, in Berlin und in den Landeshauptstädten gespielt. Dem Parlament und der Öffentlichkeit wird die Schlussszene gezeigt: Die Netzwerker treten aus der Kulisse, rangeln noch ein wenig um die Aufstellung in der Mitte und verlesen mit verteilten Rollen fertige Programme, Richtlinien oder Gesetzentwürfe mit dem Vermerk "alternativlos". So auch zu dem Projekt Stuttgart 21. 

Solche undemokratische Routine der nicht öffentlichen Netzwerke aus Vertretern von Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft wurde durch den öffentlichen Widerstand gegen Stuttgart 21 im Verfahren der "Faktenschlichtung" gründlich durcheinandergebracht. Dem Netzwerk Stuttgart 21 (S 21) trat ein in der Sache mindestens ebenso kompetentes Netzwerk Kopfbahnhof 21 (K 21) öffentlich gegenüber. Diese Gegenüberstellung der Alternativen brachte die Vertreter von Stuttgart 21 bei manchen Themen in arge Argumentationsnot.

Ich sehe den vorläufigen netzwerk- und demokratiepolitischen Erfolg der BürgerInnenbewegung gegen S 21 mit der Durchsetzung dieses (noch unzureichenden) Verfahrens der "Faktenschlichtung" erreicht. Es wurde mit mindestens drei (noch unzureichenden) Ergebnissen bewiesen, was mit einer verfahrensrechtlichen Verfassung von Politik-Netzwerken für die Herstellung von Gemeingütern erreicht werden könnte:

– Transparenz: die Faktenschlichtung hat das nicht öffentliche Netzwerk Stuttgart 21 aus den Kulissen der politischen Bühne geholt und seine Rechtfertigung für S 21 harten Fragen ausgesetzt.

– Pluralität: das Verfahren hat mit der in einem spontan vereinbarten Verfahren geregelten Gegenüberstellung der beiden Netzwerke zu S 21 und K 21 gezeigt, dass es zu den in 15 Jahren mit großem Aufwand entwickelten Problemlösungen und Interessenkompromissen im Projekt S 21 gut begründete Alternativen gibt, die in wenigen Monaten mit geringen Honoraren vom Netzwerk K 21 erarbeitet wurden.

– Subsidiarität: es wurde vom Netzwerk K 21 mit der Problematisierung des Verhältnisses von Fern- und Regionalverkehr gezeigt, dass nachhaltige Lösungen für das Gemeingut Mobilität nur mit der schlüssigen Kopplung und Ergänzung zwischen den jeweils komplexen Mobilitätsmixen auf Kommunaler, Landes-, Bundes- und Europaebene zu haben sind.

Das Netzwerk S 21 konnte sich zwar aus der Verlegenheit, in die es durch K 21 gebracht wurde, wieder herauswinden. Doch über dieser Niederlage in der Sache Bahnhof sollte der Zwischenerfolg bei der Netzwerk- und Demokratiepolitik nicht verschütt gehen. Er ist zu bedeutend.

Denn es gibt neben nachhaltiger Mobilität kaum noch ein Gemeingut, das nicht von Netzwerken mit Teilnehmern aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Bürgergesellschaft auf Stadt-, Landes- und Bundesebene beraten, verhandelt und hergestellt werden müsste. Seien es Energie, Bildung, Gesundheit, Schuldenhaushalt und Steuern, Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Mehr noch: diese Gemeingüter sind ohne die freiwillige und verantwortliche Mitwirkung der BürgerInnen gar nicht mehr vorstellbar. Wie soll die Schulabbrecherquote weiter gesenkt oder die Abiturienten- und Studentenquote von Unterschichtkindern gehoben werden, wie soll dezentrale Herstellung und Nutzung von regenerativer Energie in "virtuellen Kraftwerken" möglich sein, ohne die freiwillige und verantwortliche Beteiligung der unterschiedlichen bürgerschaftlichen Milieus?

Ich will mit einer sehr groben Skizze umreißen, wie eine vom Landtag zu gebende verfahrensrechtliche Verfassung von Mehrebenen-Politiknetzwerken aussehen könnte. Darin fordert der Gesetzgeber von den Politiknetzwerken, dass sie den bereits vielfältig existierenden Initiativen und Netzwerken auf kommunaler Ebene ihre reichen Ressourcen (Wissen, Förderprogramme, private Mittel) gebündelt anbieten. Die Netzwerke auf kommunaler Ebene sollen für eine Vielfalt der Problemlösungen und des Interessenausgleichs bei der Herstellung der komplexen Gemeingüter sorgen. Sie verbrauchen bisher jedoch einen sehr großen Teil ihrer Energie für das Zusammentragen der Ressourcen der nicht koordinierten Landesakteure (zig verschiedene Anträge, Fristen, Richtlinien, Evaluationen, Berichterstattungen). Ihre politische Freiheit und Verantwortung wird bisher schlecht gefördert, viele scheitern daran.

Mit der gebündelten Unterstützung der pluralistisch verfassten Landesnetzwerke sollen die städtischen Netzwerke zwei Verpflichtungen erfüllen können. Die erste: sie vereinbaren mit dem Gemeinderat städtische Mindestregeln, öffnen sich für weitere Ressorts, Branchen, Wissenschaftsansätze, für VertreterInnen unterschiedlicher bürgerschaftlicher Milieus und für konkurrierende Initiativen auf dem jeweiligen Politikfeld. Die zweite Verpflichtung der kommunalen Politiknetzwerke: sie vereinbaren mit entsprechenden Netzwerken zu ihrem Politikfeld in anderen interessierten Städten des Landes gemeinsam Ziele und ein gemeinsames Vorgehen beim Vergleichen der Ergebnisse und Vorgehensweisen, bei der regelmäßigen Neuformulierung der Ziele und bei den Verhandlungen mit dem Politiknetzwerk auf Landesebene. Diese Vernetzung der kommunalen Netzwerke sorgt dafür, dass im Vergleich und Wettbewerb der kommunalen Politiknetzwerke eine breite Vielfalt von städtischen Problemlösungen und Interessenkompromissen zur Geltung kommt und das allgegenwärtige Risiko von Lernblockaden durch Trittbrettfahren, Vetospielen und damit das Risiko des Scheiterns klein gehalten werden kann. Denn wer will schon im Vergleich mit den Netzwerkteilnehmern in den Partnerstädten eine Delle in seiner Reputation riskieren? 

Für das "große Unternehmen" der grün-roten Landesregierung, "das Projekt der Bürgergesellschaft auf die Bühne der Politik zu bringen" (Kretschmann), könnte eine verfahrensrechtliche Netzwerkverfassung ein diskutables Skript sein. Eine bedeutende Vorstufe dazu hat die BürgerInnenbewegung gegen S 21 mit dem Verfahren der "Faktenschlichtung" bereits erstritten. Und sie hat mit dem Netzwerk K 21 auch bereits in einem ersten Anlauf gezeigt, wie das große Ziel der Landesregierung, die Zivilgesellschaft auf Augenhöhe mit Experten und Lobbyisten zu bringen, mit den Prinzipien Transparenz, Pluralität und Subsidiarität Geltung zu erreichen ist.

III. Beispiele für Politiknetzwerke auf mehreren Ebenen

Als Erstes möchte ich erinnern an das altbewährte Verfahrensrecht für die immer wieder neue Erfindung der Partnerschaft zwischen Unternehmen, Gewerkschaften und Sozialstaat im Arbeits- und Sozialrecht auf Verbands- und auf Betriebsebene. Es hat in der Internationalisierung der Wirtschaft und durch die Deregulierung der Finanzmärkte arg gelitten und muss an vielen Stellen neu erfunden werden. Denn die verfahrensrechtlich gestützte Partnerschaft zwischen Sozialstaat, Unternehmen und Gewerkschaften ist heute kaum noch vorstellbar ohne die Einbeziehung der Wissenschaft, der Bildung und Weiterbildung oder der Umwelt- und der Konsumentenverbände.

Das zweite Beispiel für ein verfasstes Mehrebenen-Politiknetzwerk bietet die Methode der offenen Koordination der EU. Auf vielen Politikfeldern der EU, auf denen der Union noch keine supranationalen Kompetenzen übertragen wurden, versuchen sich die Mitgliedstaaten seit dem Maastrichter Vertrag durch transnationale Zielvereinbarung, Ergebnis- und Vorgehensvergleich auf europäischer und nationaler Ebene zu so unterschiedlichen Themen wie Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik, Bildungs-, Forschungs- und Klimapolitik zu koordinieren. Auch dieses Beispiel ist beschädigt. Es wurde für die Bearbeitung von Interessenkonflikten missbraucht und in Verruf gebracht, die, wie sich heute in der Eurokrise zeigt, nur supranational von einer europäischen Wirtschaftsregierung zu bearbeiten sind. Für Gemeingüter wie Bildung, Forschung, Innovation, für die eine transnationale Vielfalt der Vorgehensweisen dagegen nützlich ist, fehlt dem Verfahren der Bezug zur regionalen und städtischen Ebene, wo diese Gemeingüter hergestellt werden. Hier ist die wechselseitige Erfolgsabhängigkeit der Akteure am größten und das Interesse an offenen Formen der Koordination fürs Lernen in Initiativ- und Projektgruppen am stärksten. 

Drittens haben im Zuge der Dezentralisierung und Kommunalisierung der Politik einige Mitgliedstaaten der EU damit begonnen, den Gedanken der offenen Koordination auf das Verhältnis zwischen Regionen und Kommunen zu übertragen. Die skandinavischen Staaten scheinen auch hier die Nase vorn zu haben. Aber auch das Land Hessen hat zwischen 2006 und 2009 mit dem Institut Wohnen und Umwelt in Darmstadt bei der Begleitforschung zum Programm soziale Stadt die EU-Methode in allerersten Schritten erprobt. Mit Kommunal- und Landespolitikern und Verwaltungsleuten wurden für die Themenschwerpunkte Beschäftigung, Bildung, Wohnen, Kernstadtentwicklung sowie Beteiligung von Kleinbetrieben an Weiterbildung, Forschung und Innovation die Möglichkeit von verfassten Mehrebenen-Politiknetzwerken sondiert. Das Interesse der lokalen Akteure war lebhaft, das der Landesakteure deutlich weniger. Die Landtagswahl 2009 und die neue schwarz-gelbe Landesregierung haben dieser Entwicklungsarbeit allerdings ein Ende gesetzt.

Im Kontext solcher "works in process" kann sich das von der BürgerInnenbewegung zu S 21 und vom Netzwerk K 21 Erreichte durchaus sehen lassen. Doch jetzt scheinen mir die nächsten netzwerk- und demokratiepolitischen Schritte fällig, um das Erreichte zu sichern. Zum Beispiel auf der kommunalen Ebene der Mobilität, aber auch bei Bildung für Integration und Innovation oder bei "virtuellen Kraftwerken". Um das "Traumatisierende von S 21 zu überwinden", reicht die Rhetorik von "Rachefeldzug" und "Barbarei" allein sicher nicht. Sie kann den Gefühlen derer Ausdruck geben, die mit der Zerstörung eines Teils des geliebten Schlossgartens den Preis für die Mehrheitsentscheidung des Volkes für S 21 bezahlen müssen. Die Wahrnehmung und Würdigung des Erreichten im Kontext der Netzwerk- und Demokratiepolitik scheint mir aber für die Überwindung des Traumatisierenden nützlich und notwendig. Und für die zügige Weiterentwicklung des Erreichten allemal.

Eberhard Mühlich (67). Dr. rer. pol., Frankfurter Soziologe, war bis 2009 am Institut Wohnen und Umwelt in Darmstadt tätig. Er ist Experte für Politiknetzwerke. Zuletzt hat er für die Programme soziale Stadt und nachhaltige Stadtentwicklung in Hessen gearbeitet.


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