Vergangenen Freitag (18. 7.), gegen 16.20 Uhr, in der Tiefgarage der Landesbibliothek: Frank-Ulrich Mann steht am Kassenautomaten, um sein dort geparktes Auto auszulösen. Der Rechtsanwalt aus Freiburg, der im Wasserwerferprozess den Nebenkläger Dietrich Wagner vertritt, kommt geradewegs aus dem Gerichtssaal, in dem an diesem Tag sein Mandant als Zeuge ausgesagt hat. Ruhig und sachlich hat Wagner, der am Schwarzen Donnerstag vom Strahl der Wasserwerfer die schlimmsten Verletzungen erlitten hat, die Vorgänge am 30. 9. 2010 und den Schicksalsschlag geschildert, der sein Leben verändert hat.
Während Mann am Automaten sein Ticket bezahlt, tritt Reinhold B. zu ihm heran. Auch B. kommt direkt aus dem Gericht, er wohnt seit Prozessbeginn am 24. Juni als Schöffe der Verhandlung bei. Reinhold B. hat offenbar Gesprächsbedarf. Ein zäher Prozess sei das, sagt der ehemalige Berufsschullehrer zum Einstieg und legt dann los: Nach seiner Ansicht sei man selbst schuld, wenn man sich in solche Situationen bringe. Wenn man sich in Gefahr begebe, müsse man sich nicht wundern, wenn es nicht gut geht. Und weiter: Vielen Demonstranten ginge es gar nicht um die Sache. Er habe sich immer gewundert, dass bei den Protesten um S 21 auch so viele ältere Menschen teilnehmen würden. Er wisse, dass diese instrumentalisiert werden. Diese Menschen bekämen Kaffee versprochen, wenn sie mit einem Bus nach Stuttgart fahren, am Hauptbahnhof aussteigen und in die Trillerpfeifen blasen würden. Daher seien viele ältere Menschen bei den Protesten zu sehen.
Geringschätzung der S-21-Gegner
Mehr noch von ähnlicher Weltsicht gibt Reinhold B. von sich, bevor ihm Mann den Platz am Kassenautomaten überlässt. Noch in der Tiefgarage spricht der Anwalt das soeben Gehörte als Gedächtsnisprotokoll in ein Tonband. Übers Wochenende formuliert er namens seines Mandanten einen Befangenheitsantrag, der am Montag der 18. Großen Strafkammer des Landgerichts und der Vorsitzenden Richterin Manuela Haußmann per Fax zugeht. Manns Argumente: "Mit den Äußerungen bringt der Schöffe eine deutliche Geringschätzung der S-21-Gegner allgemein und der Nebenkläger im Besonderen zum Ausdruck, zumal die Äußerungen fielen, als kurz zuvor über die schweren Verletzungen des Nebenklägers Dietrich Wagner verhandelt wurde. Ferner spricht er den Projektgegnern die Wahrnehmung ernsthafter, berechtigter Anliegen ab und degradiert diese zu reinen Marionetten. In diesem Verfahren dreht es sich in erheblichem Maße um die Frage, ob der Polizeieinsatz vom Schwarzen Donnerstag verhältnismäßig war, mithin auch, ob sich die Bürger zu Recht im Mittleren Schlossgarten aufhalten durften."
Montagnachmittag: Richterin Haußmann hat sofort reagiert und den Schöffen Reinhold B. einbestellt. Im Beisein einer zweiten Richterin hält sie ihm alle Punkte vor, die der Anwalt zu Papier gebracht hat. Reinhold B. streitet erst alles ab, dann verstrickt er sich in Widersprüche, schließlich räumt er doch ein, diese Äußerung zumindest teilweise getan zu haben. Der Fall ist klar: Bei Reinhold B. besteht eindeutig die Besorgnis der Befangenheit, die Strafkammer schließt ihn vom Verfahren aus und schreibt in ihrem Beschluss zur Begründung: "... ist das von dem Nebenkläger Dietrich Wagner vorgebrachte Misstrauen gegen den Schöffen B. gerechtfertigt. Die ... Äußerungen dieses Schöffen lassen besorgen, dass er sich in einer für den Fall wesentlichen Frage, nämlich im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes am 30. 9. 2010 ... bereits unverrückbar festgelegt hat. Insbesondere seine Äußerungen, 'man sei selbst schuld, wenn man sich in solche Situationen bringe', lassen besorgen, dass er sich bezüglich des Verhaltens der am 30. 9. 2010 im Schlossgarten anwesenden Personen bereits ein abschließendes Bild gemacht hat."
Auch im ersten Fall war die Befangenheit eindeutig
Der Fall ist sogar so klar, dass selbst die Staatsanwaltschaft dem Ablehnungsantrag beitritt. Die Anklagebehörde hatte Mitte Juni ebenfalls mit einem Befangenheitsantrag dafür gesorgt, dass die andere ursprünglich ausgeloste Schöffin kurz vor Prozessbeginn ausgeschlossen werden musste. Die Frau, eine Kommunalpolitikerin aus Kornwestheim, war nach dem Schwarzen Donnerstag aus Protest gegen die Polizeigewalt aus der CDU aus- und den Freien Wählern beigetreten. Auch der Fall war glasklar.
Dienstag, 9 Uhr, im Gerichtssaal: Jetzt sitzt Günther A. als Schöffe auf der Gerichtsbank, er hat als letzter verbliebener Ergänzungsschöffe die Verhandlung von Beginn an verfolgt und ist drin im Thema. Allerdings hat das – vorerst bis Weihnachten durchterminierte – Verfahren nach nur vier Wochen nun keine Ersatzschöffen mehr zur Hand. Fällt jetzt aus welchen Gründen auch immer noch einer aus, dann wäre der Prozess geplatzt.
Nach Dietrich Wagner am Freitag kommt gestern ein weiterer Nebenkläger als Zeuge zu Wort. Hans W. (Name geändert), über dessen Schicksal <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik volles-rohr-gegen-haeussler-2310.html _blank>Kontext bereits berichtet hat, beschreibt in eindringlichen Worten, wie es zu seiner schweren Augenverletzung kam, die mehrere operative Eingriffe und Krankenhausaufenthalte nach sich zog, welche aber sein Sehvermögen nicht vollständig wiederhergestellt haben. Er sei mehrfach massiv vom Wasserwerfer getroffen worden, habe dabei mehrere Schläge gegen den Rücken erhalten, die durch seinen Rucksack gemildert wurden, schließlich aber einen gegen den Nacken, durch den seine Brille vom Kopf geschleudert wurde. Er habe sich gebückt, die Brille aus dem "Dreckwasser" gefischt und sich aufgerichtet. In dem Moment habe ihn der Strahl des Wasserwerfers im Auge getroffen "wie ein Schlag mit einer Eisenstange".
Die Rohrführer haben genau gezielt
Während Hans W., selbstständig und dreifacher Familienvater, bis heutigentags mit Gleichgewichtsstörungen, extremer Lichtempfindlichkeit und psychischen Problemen zu kämpfen hat, machen die im Gerichtssaal vorgespielten Videos von seiner Verletzung deutlich, wie sehr die Wasserwerfer-Besatzungen darum bemüht waren, bestimmte Ziele nicht zu treffen. So ist die Beschwerde an einen Rohrführer ("Du triffsch Kollega") ebenso gut zu hören wie die gleich dreimal geäußerte Warnung "Aufpassen auf die Laterne". Der rechts von Hans W. befindlichen Wegbeleuchtung ist dann tatsächlich auch nichts passiert.
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Klaus Neumann
am 02.08.2014