Klaus Zimmerer verwaltet an diesem Morgen eine ganze Sammlung an bunten Wanderrucksäcken. "Du nimmst den hier", sagt er und drückt einem Mädchen einen hellblauen in die Hand. "Und das hier ist der Würstchen-Rucksack, das ist der wichtigste, also gut aufpassen. Kann einer noch das Ketchup einpacken?" Ein paar Minuten später ist alles verstaut: Sprudel, Apfelschorle, Senf, zwei Hämmer, ein Maßband. Und 70 Holzstelen mit bunten Namen darauf, jede für eine Frau oder ein Kind mit Behinderung oder einer psychischen Krankheit – sie alle waren 1940 die ersten, die mit der grauen Busse aus der "Anstalt Stetten", wie sie damals hieß, nach Grafeneck deportiert und dort ermordet wurden. Die Stelen werden Zimmerer und seine Schüler:innen des Beruflichen Ausbildungszentrums (BAZ) Esslingen an diesem Tag neben dem offiziellen Stettener Denkmal aufstellen. Das erinnert zwar an die 330 Menschen, die dort direkt aus der Anstalt abtransportiert wurden, nicht aber an die 70 Frauen und Kinder, die kurz vor ihrer Ermordung aus Kork bei Kehl am Rhein nach Stetten im Remstal verlegt wurden. "Nur weil die nicht aus Stetten kamen, hat man sie vergessen?", fragt Zimmerer. "Das kann doch nicht sein."

Gedenken an Euthanasieopfer in Stetten
Damit alle dabei sind
Fotos: Jens Volle
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Zimmerer ist Lehrer am BAZ. Ein gut gelaunter Mann Mitte 60, der um kurz vor halb neun enthusiastisch die Finger unter die Rucksackträger klemmt und loswandert zum Bus. Der 108er fährt zum Jägerhaus, von da geht's durch den Wald nach Stetten. "So, auf geht's", sagt Zimmerer. Hinterdrein Holger Hexel, Sozialpädagoge, Lehrerkollegin Katrin Berthold und zehn bepackte Schüler:innen des BAZ.
Das Grauen vor der Haustür
Das BAZ bildet junge Menschen aus, die es nicht so leicht haben. Solche mit psychischen Erkrankungen, Behinderung oder einfach mehr Bedarf an Unterstützung. Die Schule hat eine Holzwerkstatt, eine große Lehrküche, Züge für Fachpraktiker:innen Lagerlogistik oder Verkauf. Klaus Zimmerer ist dort bekannt für sein Engagement gegen das Vergessen.
Das Gedenken an das grausame Unrecht von damals ist ihm wichtig. Vor allem jetzt, wo die letzten Zeug:innen dieser Zeit wegsterben, wo die AfD einen so massiven Aufschwung erlebt, möchte er es seinen Schüler:innen vermitteln. "Man könnte natürlich auch mit der Klasse nach Dachau fahren", sagt er, ins KZ. Aber das sei so abstrakt und würde Verbrechen irgendwie auslagern. Dabei habe das Grauen doch direkt vor der Haustür stattgefunden. In Esslingen zum Beispiel, im Israelitischen Waisenhaus, in dem 53 Buben und 25 Mädchen lebten. Am 10. November 1938 gegen Mittag "marschieren im Speisesaal mit Äxten und schweren Hämmern bewaffnete Zivilisten und SA-Leute und zwangen uns unter den Rufen 'raus mit euch' das Haus zu verlassen", ist von Ina Rothschild, der Hauswirtschafterin des Waisenhauses, überliefert. Acht Stolpersteine gibt es dort, die Zimmerer mit seinen Schüler:innen schon geputzt hat. Und weil mit Lappen und Zahnbürste auf dem Boden knien für seine Jugendlichen nicht besonders attraktiv ist, hat er ihnen Akkuschrauber in die Hand gedrückt. "Aufsatz, Polierpaste, 20 Minuten und dann glänzt's. So macht das richtig Bock."
Manchmal gebe es Diskussionen. Einmal zum Beispiel mit einem arabischstämmigen Schüler, der nicht mitmachen wollte. Den Stein eines Juden polieren sei Sünde. Zimmerer sagte damals zu dem Schüler: "Der Junge hier war so alt wie du. Ich glaube nicht, dass es in deiner Religion eine Sünde ist, wenn du seiner gedenkst."
Arina, 21, und Djuliana, 17, waren auch schon dabei. "Wir haben schon voll viele poliert", sagt Arina und wandert an einer verschnörkelten Wurzel vorbei, die aussieht, als würden sich in diesem Wald nachts Elfen treffen. Die junge Frau mit den Umrissen des Iran auf dem Shirt findet es wichtig, dass "niemand das mehr vergisst." "Wenn ich in der Zeit gelebt hätte, hätten sie mich vielleicht auch umgebracht", meint Djuliana. Dann erzählen die beiden, wie sehr sie der Aufstieg der AfD beschäftigt. "Wir wollen doch eine gute Zukunft", sagt Arina. "Und jetzt? Israel, Gaza, Ukraine." Djuliana sagt: "Wahnsinn, Digger."
"Den Leuten hat man gesagt, sie gehen duschen"
Mittlerweile ist der Wald Weinbergen gewichen. Rechts des Wegs liegt ein Spielplatz mit Grillstelle, hinter dem Zimmerer am Tag zuvor Feuerholz versteckt hat. Buche, Kiefer, Eiche. "Deshalb haben wir eine gute Werkstatt, damit wir gutes Feuerholz haben", scherzt der Sozialpädagoge Holger Hexel. Michele und Lennart machen die Grillmeister. "1a Glut, gut gemacht", sagt Hexel. Im Hintergrund futtert der Rest der Klasse an einem Holztisch Stachelbeeren aus dem Garten von Arinas Eltern, Zimmerer schneidet neben einem Berg Brötchen Schlitze in die Würstchen. "Wer will vegetarisch, wer will halal?"
Klara und Romy, beide 17, sitzen mit am Tisch. In der Schule haben sie die Bundestagswahl Anfang des Jahres nachgestellt und viele, sagt Klara, hätten da einfach aus Spaß ihr Kreuz bei der AfD gemacht. Ihre Familie kommt aus Kroatien. "Ich hab' Angst, dass sie uns irgendwann wegschicken." Mit seinen Schüler:innen hat Zimmerer einen Film geschaut über die grauen Busse, die Deportationen nach Grafeneck, erzählt die junge Frau. "Den Leuten hat man gesagt, sie gehen jetzt duschen. Und dann hat man sie vergast." Grausam sei das.
Das BAZ ist an die Diakonie angeschlossen, gehört also zur selben Institution wie die Diakonie Stetten, eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Und gerade deshalb ärgert sich Klaus Zimmerer auch so sehr über die fehlende Erinnerungskultur für die Korker Frauen und Kinder. Voriges Jahr hat er zum ersten Mal die Initiative ergriffen und die Holzstelen aufgestellt. Vier Monate hat die Diakonie sie stehen lassen, bevor sie entfernt wurden.
Als die Würstchen verspeist sind, geht's weiter. Die Weinberge lösen sich auf, Kirschbäume und Apfelbäume säumen den Weg. Dann beginnt Stetten mit seinen sauberen Fachwerkhäusern, pinke Pfingstrosen-Köpfe schieben sich durch weißlackierte Vorgartenzäune.
Im Hof der Diakonie steht ein Steinkreuz und drei Steinquader mit Namen. Die allerdings sind im Spalt zwischen den Steinen eingraviert und manche deshalb kaum lesbar. Das darauf wachsende Moos, sagt Zimmerer, werde immer weggekärchert. "Und dabei kärchern sie halt auch die Buchstaben weg." Er fährt mit dem Finger über den ersten Namen, der schon glatte und glänzende Stellen hat. Tilly Bayer steht dort, das jüngste Opfer.
"Darf man das?"
Zimmerer holt einen Packen Stelen aus dem Rucksack. Insgesamt hat er 70 Dachlatten dabei, die ihm die "Holzer" aus dem zweiten Lehrjahr in der BAZ-Werkstatt zurechtgesägt haben, mit Spitze unten, damit sie fest im Boden stehen. Auf jede Stele hat der Lehrer einen Namen und das Alter der Person eingebrannt. "Mit unserem neuen Laser, den wollt' ich eh mal ausprobieren." Die Namen der Opfer haben seine Schüler:innen bunt bemalt. "So, wie jeder Mensch anders ist, so ist jede unserer Stelen anders", sagt Zimmerer.
Klara nimmt die Stele von Gisela Leicht in die Hand: "Die war erst neun", sagt die junge Frau und hämmert das Holz in die Wiese, die die Gedenksteine umgibt. "Darf man das eigentlich?", will Michele plötzlich wissen. Zimmerer lacht laut auf. "Das machen wir einfach", sagt er und zieht mit dem Maßband eine weitere Linie, damit auch alles gerade wird.
Nach und nach, Hammerschlag um Hammerschlag, schlagen die Schüler:innen die 70 Stelen ein. Lennart die von Klara Schwarzwälder, 41 Jahre alt. Michele die von Rosa Reidel, 13 Jahre alt. Romy die von Toni Held, 63 Jahre alt. Reihe um Reihe, bis fast die ganze Wiese voll ist mit Hölzern, bunt und stolz stehen sie im gleißenden Sonnenlicht.
Die letzte Stele schlägt Klaus Zimmerer selbst ein. In das Holz hat er das Motto der Diakonie eingebrannt, den Werbeclaim: Damit alle dabei sind. "Jetzt stimmt das wenigstens", sagt er. Und dann stehen diese jungen Männer und Frauen da und schauen sich ihr Werk nochmal an. "Heftig, wie viele das sind. Das sind ja alles Menschen gewesen", sagt Lennart. "Hoffentlich macht das keiner weg."
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