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Die Gockelretterin

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Skandalthema Kükenmord: Inga Günther kämpft dagegen – und gegen die Vorherrschaft der Agrarkonzerne. Sie züchtet das "Ökohuhn der Zukunft". Schmeckt gut, ist glücklich und gesund.

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Sie sind sooo süß, so drollig, so flauschig klein, und sie hüpfen munter herum und fiepen fröhlich. Normalerweise wären sie jetzt schon tot. Jedenfalls viele von ihnen. "Die sind heute früh geschlüpft", sagt Inga Günther vom Hofgut Rengoldshausen bei Überlingen am Bodensee und nimmt zwei von ihnen hoch. Eins ist klassisch gelb, das andere grau-bräunlich meliert. Es hat schon ein kleines Flügelchen. Und einen Chip: Nummer 2759. Darauf sind die wichtigsten Daten gespeichert, wer Papa und Mama sind, zum Beispiel. Denn sie sind ja nicht zum Spielen da. Sie haben schließlich eine große Aufgabe. Sie müssen nicht nur die Menschen ernähren. Sie haben auch einen Kampfauftrag. Es geht darum, die Herrschaft der Konzerne zu brechen. Sie sollen, so würde man in Amerika sagen, die Welt ein bisschen besser machen. Und Inga Günther hilft ihnen dabei.

Das Besondere: "Hier sind Jungs und Mädels zusammen." Normalerweise werden im Produktionsbereich Legehennen die Buben unter den Küken gleich nach dem "Schlupf" getötet. Sie müssen ihr Leben hingeben, damit ihre Schwestern mehr leisten können. "Performance" bringen, wie das so heißt in der Welt der Agrarindustrie. Kükenmord, massenhaft. Zerhäckselt, geschreddert, vergast. Und das nur für die Rendite. Das ist tatsächlich schwer vermittelbar.

Das wollen sich viele nicht mehr bieten lassen. Die Öffentlichkeit ist empört, auch die Politik ist aufgescheucht. Die Branche sucht nach Auswegen. Schließlich drohen nicht nur Verbote dieser brachialen Praktiken, sondern auch Akzeptanzverlust.

Gesund ist das nicht, weder für die Tiere noch für die Menschen. Dabei geht es nicht nur um die in Massenställen üblichen Antibiotika. Es geht auch um die Folgen der Massenproduktion: Das superbillige Überangebot führt zur Überdosis Protein – die, nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, bei vielen Zivilisationskrankheiten eine Rolle spielen kann. Sogar das Geflügelfleisch, das bislang als gesund galt, kann im Übermaß zu Bluthochdruck führen, wie Forscher jetzt herausfanden.

Inga Günther kämpft nicht nur gegen den Kükenmord. Sie führt auch den Kampf gegen die Praktiken der Agrarkonzerne, will wieder Freiheitsräume zurückerobern, mehr Unabhängigkeit von den Agro-Monopolen. Es geht ja nicht nur um die Küken. Es geht auch um die Frage, wie in Zukunft die Menschheit ernährt werden soll. Es geht um Macht, um Milliarden, es geht aber auch ums Wohl der Tiere – und um die Gesundheit der Menschen. Inga Günther ist so unversehens zum Star der Bewegung geworden. Die ganze Branche schaut auf sie und das, was sie hier tut.

Die Frontfrau in diesem Kampf ist viel unterwegs, hält Vorträge auf Fachtagungen, Biomessen, bei Zuchtworkshops mit Landwirten und in politischen Arbeitsgruppen zum Thema. Günther ist Agrarwissenschaftlerin, hat an der Universität Kassel-Witzenhausen studiert, lacht viel, trägt silbernen Ohrschmuck, eine bräunliche Fleecejacke, einen roten Wollschal und grüne Jeans. Sie hat zwei Kinder, die vier und sechs Jahre alt sind, außerdem, sagt sie, "einen Mann, einen Hund, zwei Katzen". Sie ist hier seit fünf Jahren für die Hühnerzucht verantwortlich und jetzt auch Geschäftsführerin der Firma Ökologische Tierzucht GmbH, die getragen wird von den großen Bio-Labels Demeter und Bioland. Und sie soll nichts weniger als den Ruf der Öko-Hühnerbranche retten. Denn auch der leidet unter dem massenhaften Kükenmord, der in der modernen Agrarindustrie Alltag ist.

Profit mit dem Leid von Mensch und Tier

Unliebsame Küken werden gleich nach der Geburt eliminiert: beim Typ "Legehennen" die zum Eierlegen untauglichen Brüder, beim Typ "Masthähnchen" die weniger brustmuskulösen Schwestern. Heute stammen 98 Prozent aller Masthähnchen weltweit von nur drei Firmen, darunter die Wiesenhof-Dynastie, die zum Imperium des Agro-Industriellen-Clans der norddeutschen Familie Wesjohann gehört. Der Einfluss dieser Familie ist kaum zu überschätzen, erstreckt sich sogar auf ganze Tiergattungen und deren Gestaltung. Geflügeldesign, sozusagen.

In Deutschland stammt fast jedes dritte Hähnchen aus dem Herrschaftsbereich der Hühnerdynastie, die in zwei getrennten Zweigen operiert. In ihren Brütereien schlüpfen allein hierzulande 270 Millionen Hähnchen pro Jahr. Weltweit stammen 70 Prozent aller Hühner, die weiße Eier legen, aus ihrer Produktion. Der Agro-Clan steckt hinter jedem dritten Ei, das weltweit gelegt wird, ist nach eigenen Angaben der größte Anbieter von Legehennen weltweit.

Insgesamt hat der Familienclan über 150 Tochterunternehmen auf allen Kontinenten, darunter auch die global aktive Firma Lohmann Tierzucht aus Cuxhaven sowie die Firma Aviagen, Weltmarktführer für Masthennen- und Putenzucht, Hauptsitz Huntsville im US-Staat Alabama. Die ursprünglich zur Familie gehörende Pharmafirma Lohmann Animal Health gehört mittlerweile zum amerikanischen Pharmaproduzenten Elanco und damit zum Großkonzern Eli Lilly and Company. Der verdient mithin gleichermaßen an tierischen wie menschlichen Leiden.

Das ist auch eines der Merkmale im globalen Hühnergeschäft: Die Krankheiten gehören dazu. Sie werden mitgezüchtet, gehören mithin ab Werk zu den patentierten Wesen, die die globalen Zuchtfabriken verlassen.

Das Gegenmodell: Inga Günthers "Küken-Kinderstube". Hier ist es nicht nur schön warm, 25 Grad, unter den Wärmelampen sogar 30 Grad. Die Küken haben eine kleine hölzerne Schaukel knapp über dem Boden, der mit Sägespänen bedeckt ist. Bekommen Wermuttee verabreicht über einen kleinen Tränkapparat: "Fürs Immunsystem. Für die Verdauung."

Und dann geht Helen Plüschke durch den Raum, Agrarwissenschaftlerin wie Inga, benetzt mit einer Sprühflasche wie aus dem Gartencenter für die Zimmerpflanzen das Futter für die kleinen Knäuel. Das soll der Gesundheit dienen, "ihre Immunabwehr stärken", sagt Chefin Günther. Denn in der Sprühflasche stecken "effektive Mikroorganismen", wie im Joghurt. Es ist aber kein Joghurt, sondern: "Kanne Brottrunk". Ein berüchtigter Trank aus dem Ökomilieu. Und das hier ist Ökomilieu in Reinkultur. Eigentlich.

Inkonsequenz im Ökomilieu

Im Geflügelwesen herrscht Inkonsequenz – die Naturkostbranche sitzt in der Glaubwürdigkeitsfalle. Denn auch für Ökoeier müssen Küken sterben. Mehr noch: Auch die Ökobauern sind auf die Hühner aus den Laboren der norddeutschen Tierdesigner angewiesen. "Lohmann Brown", sozusagen die Hausmarke des Agro-Konzerns, ist auch das Standardhuhn in Bioställen, in der Version "Lohmann Brown Plus".

Inga Günther soll das ändern. Sie soll das "Ökohuhn von morgen" züchten. So die Zielvorgabe. Sie soll Hühner züchten, bei denen Jungs und Mädchen leben dürfen – und beide ihre Aufgaben haben. Die Hühner sollen Eier legen, die Hähne Fleisch ansetzen. Das Problem: Hühnerzucht - das gibt es eigentlich in Deutschland gar nicht mehr außerhalb des Imperiums der Wiesenhof-Familie Wesjohann. Hier am Bodensee wollen sie jetzt das Monopol brechen: Die Truppe vom Hofgut Rengoldshausen arbeitet auch an Saatgut für Gemüse und in der Rinderzucht. Es ist eine eindrucksvolle Anlage mit 50 Mitarbeitern und 190 Hektar insgesamt: Wiesen, Wälder, Felder, Gewächshäuser. Im Zentrum ein stattliches, mehrstöckiges Bauernhaus, daneben eine kleine Piazza, mit einem riesigen Baum in der Mitte, einem Brunnen, Parkplätzen für die vielen Besucher, Gäste, Kunden, die etwa im Hofladen Schlange stehen oder ins Café kommen. Drum herum einige Wohnhäuser, weiter hinten Ställe, für Pferde und Kühe. Das Federvieh ist fruchtbar und mehrt sich prächtig auf Streuobstwiesen.

Das ist es, was dieses Projekt unterscheidet von anderen, auch in der Ökobranche. Dem Projekt Bruderhahn beispielsweise vom norddeutschen Bauckhof und anderen Betrieben. Oder der Hähnlein-Initiative des Bio-Massentierhalters Friedrich Behrens und seiner Geschäftspartner vom ostdeutschen Erzeugerzusammenschluss Fürstenhof. Sie lassen einfach die Brüder der Legehennen ein bisschen länger leben. Bei denen es sich weiter um die üblichen Designerhühner aus den Laboren der Agro-Konzerne handelt.

Die haben sogar ihrerseits ein sogenanntes Zweinutzungshuhn geschaffen, das Modell "Lohmann Dual", zum Beispiel, oder "Sandy", das als Basishuhn dient beim "Gockelprojekt" der baden-württembergischen Landesregierung, aber auch bei österreichischen Biobauern beliebt ist: "Mit Sandy werden künftig auch Hähne glücklich", meldete schon die österreichische "Bauernzeitung". So ganz glücklich allerdings auch wieder nicht. Denn: Vermehren dürfen sie sich nicht. Auch sie sind sogenannte Hybridhühner, die immer wieder nachgekauft werden müssen. Pech für den stolzen Hahn, der in seiner Kernkompetenz beschnitten wird.

Ganz anders bei Inga Günther, der Gockelretterin vom Bodensee. Da stolzieren die stattlichen Hähne, erhobenen Hauptes, geschwollenen Kammes, über die Wiese. Da dürfen sie noch Hahn im Korb sein. Ein Paradies für die Hähne – und die 20 Hennen, die jeweils mit ihnen zusammenleben, im Schäferwagen, mit Wiese drum herum, jeder aufgeteilt in zwei Abteile. Beim ersten steht links "Don", rechts "Moses". Doch sie sind nicht zum Spaß da, stehen unter steter Beobachtung. Züchterin Günther sucht schließlich die "Superhühner", die auch wirtschaftlich erfolgreich sind. Hier sollen "Henne und Hahn eigenständige Produkte sein: Jedes hat seinen Wert, jedes hat seinen Preis". Es sollen aber nicht nur "Zweinutzungshühner" sein, die Fleisch und Eier produzieren können. Sie sollen auch gesund sein, widerstandsfähig. Kurz: das Gegenmodell zu den kranken Parallelwesen aus den Laboren der Geflügeldesigner.

Die sind hoch spezialisiert, aber mit defizitären Erbanlagen. So hatten Wissenschaftler um Hans H. Cheng vom Agrarforschungsdienst des US-Landwirtschaftsministeriums festgestellt, dass das Erbgut der rund 40 Milliarden Industriehühner, die jedes Jahr "produziert" werden, nur noch über höchstens halb so viele Varianten verfügt wie das der ursprünglichen Artgenossen. Das mache die Tiere anfälliger für Infektionskrankheiten, ebenso das genetisch einprogrammierte "schnelle Wachstum". Es führe zu "Skeletterkrankungen", zu "Lahmheit", sogar zu "plötzlichem Herztod", stellte die europäische Lebensmittelbehörde Efsa fest. Diese Monsterhühner könnten ohne das Turbofutter mit künstlichen Vitaminen, Proteinen oft gar nicht überleben. Für die Naturkostbranche sind sie daher eigentlich ungeeignet.

"Open Source" für mehr Autonomie

Deshalb will sich Inga Günther davon abkoppeln. Für sie ist das nicht nur eine Machtfrage, sondern auch eine Herzensangelegenheit. Und, so sagt sie: "Das hat auch was mit Freiheit zu tun." Und mit Selbstbestimmung: "Wissen, wie die Züchtung funktioniert, wie ein Ei ausgebrütet wird, wie ich die Küken aufziehe, impfe, schlachte. Das sollte selbstverständliches Handwerkszeug eines Landwirts sein, der Geflügel hält." Seit vielen Jahren sei das Geflügel sogar größtenteils aus den Lehrplänen an der Uni verschwunden: "Zu kompliziert, zu schwierig." Das neue Huhn vom Bodensee schaffe Autonomie: Die Hühnerhalter wissen wieder, was sie tun, die Tiere haben mehr Verbindung mit ihrer Umgebung und können fressen, was auf dem Hof wächst – nicht die Turbomixturen der Konzerne. Und anders als bei den patentgeschützten Designerhühnern herrscht Offenheit: Jeder Bauer kann weiterzüchten – Günther nennt das, in Anlehnung an die Software-Rebellen aus dem IT-Kosmos, "Open Source".

Könnte sein, dass dieses Konzept erfolgreicher ist als das halbherzige Modell aus den Konzernlaboren. Denn dessen Erfolg liegt hierzulande genau bei: null. Es gibt "leider aktuell keine Nachfrage nach Lohmann Dual in Deutschland", sagt die Firma. Inga Günther hingegen verschickt regelmäßig ihre "Open Source"-Zuchtergebnisse an Interessenten. Im Stallbüro sind die Eier schon einsortiert in blaue Träger. Manche tragen Nummern, damit die Bauern informiert sind über die Abstammung. "Die sind für einen Demeter-Betrieb in Norddeutschland." Andere gehen nach Irland, Italien, Bosnien. Sie sind beliebt, die Erzeugnisse der Modellhühner vom Bodensee. Auch im Hofladen stehen die Kunden Schlange.

60 Cent kostet ein Ei und 18,50 Euro das Kilo Hähnchen. Aber es lohnt sich offenbar. Das jedenfalls zeigte sich bei einer Blindverkostung auf der Slow-Food-Messe in Stuttgart. Im Rennen waren: ein konventionelles Supermarkt-Hähnchen, ein Biohähnchen und eins aus Günthers Herde. Zwar stellten die Tester keinen Unterschied zwischen bio und konventionell fest, aber "unseres hat den meisten am besten gefallen, vom Geschmack her, vom Geruch, von der Festigkeit und der Optik". Ein qualitativer Sprung also, den das Superhuhn da macht – und gesünder ist es dann auch noch, das glückliche Huhn vom Bodensee. Hoffen wir mal.

 

Hans-Ulrich Grimm ist Nahrungskritiker und Autor. Mehr über Tierisches und die menschliche Gesundheit in seinem Buch "Die Fleischlüge. Wie uns die Tierindustrie krank macht", jetzt erschienen im Droemer Verlag.


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4 Kommentare verfügbar

  • maguscarolus
    am 17.04.2016
    Antworten
    Welche Zukunft hat all diese Mühe und Arbeit, wenn gleichzeitig absurde Vertagswerke wie TTIP, TISA, CETA in Europa mit aller Macht gegen den Willen der Bevölkerung durchgepeitscht werden können, ohne dass irgendwo ein Ansatz für einen wirksamen Widerstand existiert. So ist es doch nur eine Frage…
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