KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Die Macht der Bürgerschaft

Die Macht der Bürgerschaft
|

Datum:

Zur 250. Montagsdemo waren die Ikonen wieder da. Egon Hopfenzitz, Volker Lösch und Walter Sittler. Die gut 5000 Teilnehmer waren vor allem von einem begeistert: von Lösch, der die Grünen und ihren OB Fritz Kuhn geißelte. Kontext veröffentlicht ihre Reden in Auszügen.

Die größte Lüge

Von Volker Lösch

Seit fast fünf Jahren gibt es eine wache und kritische Bürgerschaft in dieser Stadt, die sehr genau beobachtet, was sich in und um Stuttgart politisch tut – oder eben nicht tut. Es ist eine aktive Bürgerschaft, die hinterfragt, interveniert und aufklärt, und die mächtig ist. Es ist die Macht dieser Protestbewegung, die deutschlandweit politische Debatten befördert hat und immer noch befördert, eine Macht, die Themen in den Fokus der Öffentlichkeit bringt, die sonst kleingeredet und vernachlässigt werden. Und es war die Macht dieser Protestbewegung, die eine Landesregierung gestürzt hat. 

Fakt ist aber auch: Bis hierhin, bis heute haben wir, was S 21 betrifft, verloren. Nicht endgültig verloren, aber das ist der Stand der Dinge. Fakt ist auch, dass wir in den letzten fünf Jahren viele Fehler gemacht haben. Das bei vielen grenzenlose Vertrauen auf die Grünen als Vertreter der Bürgerbewegung war der vielleicht schmerzlichste Fehler. Das Wahlversprechen der Grünen, die Bürgerinnen und Bürger radikal anders und ernsthaft an Politik zu beteiligen, war die größte Lüge dieser inzwischen erschreckend opportunistischen, mit nichts Außergewöhnlichem mehr ausgestatteten Mainstream-Partei, die sich konsequenterweise auf ihrem jüngsten Landesparteitag als neue Wirtschaftspartei profiliert hat.

Woran kann man in Stuttgart noch glauben, und wem sollte man keinen Glauben mehr schenken? Das Recht des Stärkeren wird hier derzeit im Rathaus beansprucht, und wer jemals an die Kritikfähigkeit des nicht mehr ganz so neuen OB Kuhn geglaubt hat, wird nun eines Besseren belehrt. Kuhn, der noch im Wahlkampf den Stuttgarter Einkaufszentren-Bauwahn gegeißelt hat, ist inzwischen zum kritiklosen Investorenpaten mutiert. Anstatt Schaden von der Stadt abzuwenden, lässt er sich von Konzernen ins Stammbuch diktieren: 

• Statt für Alternativen gegen die Stadtzerstörung zu streiten, schwätzt er bei der Gerber-Eröffnung von "wohnen und arbeiten", wohlwissend, das sich fast niemand Kaltmieten zwischen 13 und 17 Euro pro Quadratmeter leisten kann! 

• Statt zu schweigen, schwadroniert er lieber, dass die Stadt ein elementares Interesse daran hätte, dass es dem Milaneo gut gehe, und setzt somit die Interessen der Shoppingmall-Vertreter mit denen der Bevölkerung gleich. Da hätte man auch Wolfgang Schuster im Amt belassen können, der hätte es nicht schöner formulieren können. 

• Statt den Bahnhofskritiker/innen angemessene Orte für ihren Protest zur Verfügung zu stellen, unterstützt er die Etablierung stadtzerstörender Einkaufszentren. 

• Statt den Bahnhof als den Schwachsinn zu benennen, der er ist (was Kuhn im Wahlkampf noch getan hat), versucht er geschickt, das Vokabular der Protestbewegung zu nutzen, um einen Pseudofrieden zu arrangieren. Zitat Kuhn: "Ich hoffe darauf, dass sich auch Menschen, die den Tiefbahnhof kritisch sehen, an der Diskussion um die bestmögliche Nutzung der frei werdenden Flächen beteiligen."

• Statt also den Durchmarsch der Investoren in Stuttgart wenigstens zu erschweren oder zu behindern, lädt er zum "Bürgerdialog" zur Bebauung des Rosensteinquartiers auf dem Gleisvorfeld ein.

Solange das Bauen nur den Marktgesetzen unterliegt, solange Boden lediglich Ware ist, solange Konzerne sich zusammenkaufen können, was sie wollen, solange Autokonzerne hofiert werden, solange die Kuhn-Politik des Schweigens, des Sich-Raushaltens und des "unkritischen Begleitens" politische Praxis in Stuttgart ist, solange kann dort, wo neu gebaut wird, eben nichts Urbanes wachsen, nichts Soziales entstehen, nichts Neues entwickelt werden, sondern nur das, was die besten Renditen abwirft. Solange Kuhn den Kretschmann macht, bleibt alles – beim ganz Alten!

Die Bewegung der Gegnerinnen und Gegner von S 21 hat aber die bessere Alternative. Wir haben K 20, K 21 tausendfach angeboten und beworben und werden weiterhin mit den besseren Argumenten dafür kämpfen, dass der Rosensteinpark und die Gleisflächen überhaupt nicht bebaut werden. Darüber können Sie jederzeit gerne mit uns reden, wir verweigern keinen Dialog, doch wir reden nur über Redenswertes.

Der Kampf um das Tempelhofer Feld in Berlin hat gezeigt, dass Stadtentwicklung auch anders funktionieren kann, dass Bürgerinnen und Bürger sich die politische Handlungsmacht zurückerobern können. Was können wir von den BerlinerInnen lernen? Wie können wir das Politische wieder mehr ins Zentrum unserer Aktivitäten rücken? 

Wir können alle wichtigen Fragen durch konkrete Aktionen beantworten:

• Die Bauarbeiten an S 21 schreiten fort? Machen wir der Bevölkerung unmissverständlich klar, dass S-Bahn-Chaos, dass Staus, dass Lärmbelästigung und Dreck hauptsächlich wegen S 21 vorkommen.

• Es sollen noch mehr verkaufsoffene Sonntage stattfinden? Boykottieren wir diese Konsumveranstaltungen.

• Die nächste Lohnsenkungsspirale für die MitarbeiterInnen bei Karstadt wird schon angeschoben? Unterstützen wir die Gewerkschaften, die gegen Lohnabbau streiten, in ihrem Protest.

• Der Geschäftsführer der Buchhandlung Wittwer will, dass ihm die Bettler und politischen Kundgebungen vom Hals geschafft werden? Kaufen wir also unsere Bücher in Stadtteilläden ein.

• Die Mieten steigen weiter? Unterstützen wir aktiv die Mieterinitiativen, die für bezahlbaren Wohnraum kämpfen.

• Der Protest scheint überaltert? Gehen wir mit den Protestmaterialien vor die Schulen und in die Universitäten.

• Die Bahnbediensteten wollen trotz Medienschelte weiterstreiken? Solidarisieren wir uns mit ihnen. 

• Es sollen in Stuttgart noch mehr Malls betrieben werden? Boykottieren wir die großen Einkaufszentren, stärken wir den Einzelhandel, verbünden wir uns mit denjenigen, die für eine urbane, nachhaltige und soziale Stadt kämpfen. Auch die Macher von S 21 sehen die Stadt lediglich als Verkaufs-und Konsummaschine. 

Denken wir die Themen zusammen, bringen wir unser enormes Potenzial ein und stellen wir es anderen Initiativen zu Verfügung. Politisieren wir uns damit neu und nachhaltig im Sinne einer Bürgerbewegung, mit der auch in Zukunft zu rechnen sein wird. Unten wird dann kein Bahnhof sein, sondern all das, was unten hingehört: Erde, Grundwasser und Mineralquellen. Genau so wird es kommen, liebe Leute, freut euch drauf, denn wir werden – oben bleiben!

 

Fata Morgana

Von Walter Sittler

Eine wann auch immer getroffene Entscheidung, die sich als falsch herausstellt, kann nicht mit noch so viel Geld in eine richtige umgemodelt werden. Jedes Versprechen einer goldenen Zukunft, wenn man nur jetzt massive Einschränkungen und endlose Kosten auf sich nimmt, alle solche Zukunftsversprechungen haben sich am Ende als Fata Morgana erwiesen.

Ein klügerer Mensch als ich hat es so formuliert: Die Politik in diesem Lande kann man definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mithilfe der Gesetzgebung.

Apropos Zukunft: Unsere Kanzlerin hat vor einigen Jahren gesagt: Die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands hängt an diesem Bahnhof. Haben wir dann so lange keine Zukunft, bis der Bahnhof in fernen Zeiten fertig wird? Und was macht die Zukunft bis zur ungewissen Fertigstellung – geht sie so lange spazieren, macht sie Urlaub, geht sie woanders hin?

Der neue Untergrundbahnhof mag noch so schön werden, der Nesenbachdüker vielleicht doch funktionieren, der Filderbahnhof irgendwie gebaut werden – er ist und bleibt unnötig, war unnötig und wird auch in Zukunft unnötig gewesen sein. Nötig wäre ein durchdachtes Konzept für eine an den Bürgerinteressen, an den wirtschaftlichen Notwendigkeiten und der Nachhaltigkeit orientierte und mit optimaler Betriebsqualität ausgestattete Bürgerbahn; Anschluss oder Wiederanschluss der ländlichen Regionen, Wiederanschluss vieler inzwischen abgehängter großer Industriebetriebe, überall funktionierende Bahnhöfe, Elektrifizierung der letzten 40 Prozent des Gleisnetzes. 

Nötig wäre ein von normal begabten Menschen durchschaubares Preissystem, Erhalt der Autoreisezüge, der Nachtzüge, Ausbau des Schienennetzes, welches viele Menschen vom Auto weg auf die Schiene lockt. Das geht – es gibt Länder, die es uns vormachen, die beraten gerne. Die Bürger dieses Landes unterstützen die DB AG jährlich mit vielen Milliarden an Steuergeld. Die Bürgerinnen und Bürger können dafür die bestmögliche, auch mit einem kleinen Geldbeutel bezahlbare Bahn erwarten, und zwar für alle. Um einen ehemaligen Leiter der SBB aus der Schweiz zu zitieren: "Es gibt drei wichtige Kriterien für die Qualität einer Bahn: Sie muss sicher, sauber und pünktlich sein."

Seit fünf Jahren wird gegen den Untergrundhaltepunkt – denn das wird es werden: ein Haltepunkt, an den weniger strenge Maßstäbe angelegt werden als an einen richtigen Bahnhof –, seit über fünf Jahren wird dagegen auf vielfältige Weise demonstriert, werden Gutachten und fundierte Untersuchungen eingereicht, welche die Sinnhaftigkeit des Projekts mehr als in Frage stellen. Trotz all dieser Anstrengungen ist es sehr unwahrscheinlich, dass der Bau deswegen gestoppt werden wird.

Dennoch war und ist das, was die Projektgegner gemacht und versucht haben, nicht vergebens. Im Gegenteil. Es beweist, dass eine kritische, gut informierte, politische Öffentlichkeit möglich ist. Dass aufmerksame Bürger den Finger in die Wunde legen. Die ständig erneuerten Informationen auf dem Büchertisch, die bewundernswerte Institution der Mahnwache – unglaublich, was da geleistet wird –, die verschiedenen Foren: der Architekten, der Ingenieure, der Journalisten, der Behinderten, der Lehrer, der Juristen usw. sind ein sichtbares Zeichen dafür.

Dass eine leider deutliche Mehrheit der Abgeordneten in den gewählten Gremien diese Kraft, das Wissen und das Können nicht für die tägliche Politik nutzen wollen oder können, stellt ihnen ein Armutszeugnis aus. Politisch informierte, wissbegierige und diskussionsfreudige Bürgerinnen und Bürger sind für ein modernes, aufgeschlossenes Gemeinweisen unerlässlich.

Es hilft nichts, sich gegenseitig zu beschimpfen, zu demütigen, anzuschreien, das gilt für alle Beteiligten, ob mächtig oder nicht. Beharrliche, nachvollziehbare, gut informierte Argumentation, klare Haltung, das wird am Ende die politische Kultur befördern – keine kleinliche Rache, kein Nachtreten, keine Rechthaberei.

 

Großer Mist

Von Egon Hopfenzitz

Unerledigt sagt man in Schwaben zu einer Sache, die nicht fertig wird. Großer Mist sagt man in Schwaben zu einer Sache, die nichts taugt. Daher ist Stuttgart 21 derzeit immer noch ein unerledigter großer Mist. 

Was ist noch unerledigt, und was kommt noch auf Stuttgart zu? Beginnen wir bei der alten Neckarstraße, die oben verläuft und darunter die neue Straßenbahnhaltestelle. Im zweiten Untergeschoß folgt der neue Bahntunnel vom Flughafen her und nochmals darunter der Nesenbachdüker, jedoch nicht als Tunnelbaustelle, sondern im störenden Tagebau. Allesamt ein gigantisches Bauwerk in vier Ebenen mit monatelangen Umleitungen des Straßen- und Straßenbahnverkehrs. Die Bahn hat die Genehmigung erhalten, dieses gigantische Loch an der engsten Talstelle in offener Bauweise zu errichten und wie sie sagt "im öffentlichen Interesse".

Gehen wir weiter in Richtung Bahnhof, so stoßen wir im bereits baumlosen und zerstörten, früher so schönen Mittleren Schlossgarten auf den inzwischen sogenannten Feldherrnhügel, in dessen Nähe am Schwarzen Donnerstag zahlreiche S-21-Gegner durch Wasserwerfer schwer verletzt wurden. Hier ist ein Wunder geschehen! Als dort ein Polizeipräsident und ein Oberstaatsanwalt – allesamt Befürworter von S 21 – die Lage beobachteten, wurde plötzlich aus den gefährlichen Wasserstößen ein friedlicher Nieselregen.

Bald stoßen wir auf den markanten Bahnhofsturm: 1916 fertiggestellt und 58 Meter hoch. Sechs Buchautoren schreiben von Eichenpfählen, auf denen er stehen soll. Eine Institution, die Bahn, spricht von Eisenpfählen. Wer hat recht? Eine bautechnisch schnelle und einfache Freilegung könnte dies klären, so man dies überhaupt will. Die Bahn weigert sich jedoch, dies zu tun. Warum? Dafür gibt es für mich nur einen Grund: Die Bahn weiß, dass der Turm auf Eichenpfählen steht und diese auf den geplanten Wasserentzug sehr empfindlich reagieren können.

Zur Herstellung des riesigen Bahnhofstrogs von der Neckarstraße bis zur Kriegsbergstraße müssen 3500 Betonpfähle, allesamt 15 m lang, bis zu 29 m unter Erdniveau eingerammt werden, und zwar mit je 125 Schlägen. Es werden dazu erforderlich:

• alle 15 Sekunden ein Schlag 

• pro Minute vier Schläge 

• pro Stunde 240 Schläge 

• pro 24 Stunden 5760 Schläge 

Das sind insgesamt eine Million 36 tausend und 800 Schläge mit Schallwellen vom Kessel bis zu den Höhen.

Aber alle diese Betonpfähle bleiben für immer und ewig ein Betonbollwerk quer durch den Talkessel mit nicht abschätzbaren Folgen. Und das scheint niemand zu stören: nicht die Bahn, nicht die Stadt, die von einem grünen OB geführt wird, nicht die CDU, nicht die FDP, nicht die Grünen, offenbar nur die Linken und offensichtlich nur Sie und mich.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


18 Kommentare verfügbar

  • Jupp
    am 16.12.2014
    Antworten
    @Gaigeler
    Ohne S21 geht BW sicher genausowenig den Bach runter wie mit S21.
    Dafür ist das Projekt sicher zu klein.
    BW hat ein BIP>400 mrd im Jahr.
    Und hat eine Beteiligung von <1 mrd.
    Wie soll von so einem Projektle die Zukunft abhängen?
    Aber das Leben wird mit S21 ein wenig besser.
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:




Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 11 Stunden
Alles gut


Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!