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Vom Dickbrettbohrer lernen

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Feiern sind ihm ein Gräuel. Beim Abschied von seiner Stadtratstruppe ließ sich Gangolf Stocker (72) vergangene Woche dann doch ehren. Mit einem verkehrspolitischen Abend und einer Rede von seinem Schützling, die hier gekürzt steht.

Lieber Gangolf, ich weiß gar nicht mehr genau, wann unsere Zusammenarbeit begonnen hat. Auf jeden Fall vor vielen, vielen Jahren, als wir den heutigen Referenten Hermann Knoflacher nach Stuttgart geholt haben. Vielleicht war es kurz nach 1999. Wir hatten gerade erfolglos mit "Parteilos glücklich" für den Gemeinderat kandidiert. Doch statt frustriert zu sein, haben wir außerparlamentarische Lobbyarbeit mit einer wunderbaren Veranstaltungsreihe "Wege zur Nachhaltigkeit" gemacht. Boden, Verkehr und Energie waren damals schon zentrale Themen für uns, die andere erst jetzt entdecken.

Oder denk an den Buvko, den bundesweiten Umwelt- und Verkehrskongress 2005. Damals war ich gerade Stadtrat geworden, und gemeinsam haben wir das Rathaus unsicher gemacht. Schon damals waren wir mit Gehzeugen auf der Konrad-Adenauer-Straße unterwegs. Was für ein Armutszeugnis für die herrschenden politischen Mehrheiten, was für ein Kompliment für dich, dass du deiner Zeit weit voraus warst!

In der Zeit mit dir habe ich viel gelernt.

Erstens: Politische Arbeit ist das Bohren von dicken Brettern und nicht die schnell gestrickte PR-Arbeit, die für die Mülltonne ist. Diese Erkenntnis hilft mir, es zu ertragen, wenn die SPD mal wieder, nachdem sie erst einen Antrag von uns abgelehnt hat, ihn zwei Monate später als ihre Erfindung in der Presse verkauft. Das haben wir in dieser Woche wieder erlebt. Plötzlich ist die SPD auch dagegen, dass bei unserem Nahverkehr die Preise steigen.

Zweitens: Politische Aufklärung gelingt nur, wenn du mit den Menschen direkt redest. Sie wollen wissen, was du willst, wofür du stehst, wofür sie einstehen sollen. Ich weiß noch, wie wir bei "Parteilos glücklich" versprochen haben, jeden Samstag auf dem Marktplatz zu stehen. Tja, eine Zeit lang haben wir das auch hingekriegt, und ich weiß, dass du in dieser Zeit für viele Menschen eine wichtige Stütze und Motivation warst, gegen Stuttgart 21 aktiv zu sein.

Drittens: Politische Aufklärung gelingt nur, wenn die Menschen deine Argumente und Aktionen nachvollziehen können. Du hast mich kritisiert, wenn ich über Polizeiabsperrungen gesprungen bin oder den Nordflügel mit besetzt habe. Ja, ich kenne deine Skepsis gegenüber Aktionismus. Aber wer glaubt, das habe etwas mit angepasster Gutbürgerlichkeit zu tun, der irrt. Du hast dich nie verbogen, um der guten Gesellschaft lieb Kind zu sein. Egal, ob sie grün, schwarz oder rot ist. Im Gegenteil.

Viertens: Wenn du das politische System revolutionieren willst, dann darfst du nicht den Fehler machen, dazugehören zu wollen. Weder äußerlich noch innerlich. Wer Gangolf in Sandalen im Fernsehstudio bei "Zur Sache Baden-Württemberg" gesehen hat, weiß, was ich meine. Und wenn ich mich dann noch an das typische Gangolf-Grinsen erinnere, zum Beispiel, als wir unseren Antrag auf eine Garagen-Ein- und Ausfahrtsgebühr gestellt haben, weiß ich, dass das auch ein Ausdruck geistiger Unangepasstheit war.

Fünftens: Daraus folgt, dass man sich selbst nie zu ernst nehmen darf. Und ebenfalls wichtig: nie die Freude an Grundsätzlichem verlieren, gerade auch in kommunalpolitischen Niederungen, in denen sich Menschen so ungeheuer bedeutend fühlen können.

Sechstens: Wenn dir im politischen Alltag die Freude abhandenkommt, dann geh zu den Leuten, motiviere sie, selbst aktiv zu werden, hilf, wo du kannst. Wenn du in der Parlamentspolitik nichts bewegen kannst, dann werde Teil einer größeren APO-Bewegung. Sie wird der Politik schon Feuer machen. Wie beim Hotel Silber oder bei der Rekommunalisierung der Stadtwerke oder eben bei Stuttgart 21.

Siebtens: Erhalte dir die Lust am Experiment. Wie war das damals noch, 2009 am Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs? Vier Leute wollten jeden Montag dort demonstrieren, und du hast gesagt: Sollen die mal machen, wir gucken uns das an. Drei Wochen später hast du entschieden, dass ein paar Bretter, ein gutes Mikro und kurze Reden reichen. Künstler, Schriftsteller und Musiker waren dir wichtig, und ich bin mir sicher, dass ohne das Gangolf-Gespür die "Oben-bleiben-Bewegung" nicht so bunt und groß geworden wäre.

Von Gangolf lernen heißt weiterbohren die Bretter bei Stuttgart 21 oder jetzt bei der Verkehrspolitik oder bei der Baupolitik, bei dieser unsägliche Mode, in Stuttgart alles Alte und auch nicht so Alte abzureißen. Deshalb kann es für mich nur heißen, den Kampf für ein ökologisches und sozialeres Stuttgart fortzuführen.

Lieber Gangolf, du bist für mich einer der wichtigsten politischen Köpfe in der Stadt, und du musst es bleiben, damit wir gemeinsam mit dir weiter dazulernen können.


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2 Kommentare verfügbar

  • Hans D. Christ
    am 11.07.2016
    Antworten
    Er hat eine ganze Stadt und ihre Institutionen vernetzt und geöffnet. Vieles, was der Württembergische Kunstverein in den letzten Jahren im Umfeld des Widerstands gegen Stuttgart 21 realisiert hat, beruhte auf seinem Rat und seiner Art Widerstand als eine kulturelle Praxis zu verstehen. - DANKE!

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