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Theater Rampe und Oper Stuttgart

Das Auto ist kaputt

Theater Rampe und Oper Stuttgart: Das Auto ist kaputt
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Ein altes Autohaus verkauft nichts mehr. Doch in seinen Räumen lässt es sich ganz gut aushalten, wenn Spitzentänzer:innen und Popstars aus Elfenbeinküste und anderswo mit Musiker:innen der Oper "Cité d'or – Aufstieg und Fall der Stadt Stuttgart" zelebrieren.

Es ist eine zweistündige interkulturelle Explosion aus Musik, Tanz, Kapitalismuskritik und trotz aller Krise Zuversicht, die die internationale Gruppe La Fleur und das Theater Rampe in Kooperation mit der Staatsoper Stuttgart am Pfingstwochenende auf die Fliesen eines leerstehenden Autohauses brachte. Eine Tanz-Performance, die den Klassiker "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" von Bertolt Brecht und Kurt Weill neu beleuchtet und mit Musikstilen von Coupé-Décalé bis Techno verbindet.

Im Gespräch zwischen der Oper und dem Theater Rampe entstand die Idee: ein Stück über die Autostadt wie schon Schorsch Kameruns "Motor City Super Stuttgart" in der Stuttgart-21-Baugrube, an dem Oper und Rampe beteiligt waren. Ein geeigneterer Ort als das frühere Citroën-Autohaus Spahr an der Metzstraße hätte sich kaum finden können. Es steht seit Jahren leer. Etwas abgelegen zwar, doch die Premierengäste finden den Weg. Der Saal ist voll bis zum letzten Platz.

Zackig dirigiert Luka Hauser das 14-köpfige Ensemble der Staatsoper. Nach der Ouvertüre erläutert Hauke Heumann, Conférencier wie in einer Nummernrevue, das Konzept. Wie bei Brecht soll eine Stadt gegründet werden. Die Holzfäller aus Alaska wollen sich amüsieren, die Witwe Begbick will Geld verdienen. Die dritte Gruppe sind diejenigen, die für die Unterhaltung sorgen: Das ist harte Arbeit, das wissen alle: in der Realität wie im Stück.

Damit von vornherein klar ist, dass Geschlechterrollen hier nicht als biologisch vorgegeben verstanden werden, gibt der Mexikaner Carlos Martinez, ein Mann mit graumeliertem Vollbart, die Witwe Begbick. Und "Der Cora Frost", die dem männlichen Artikel zum Trotz doch eher wie eine Frau aussieht, spielt (unter anderem) den Jimmy – oder die vielen Jimmys, die aus Alaska kommen und auf den Putz hauen wollen. Jim ist am Ende verschuldet, verrät Heumann schon mal. Hätte er Geld, könnte er das Gericht bestechen. Da er keines hat, wird er hingerichtet. Denn das ist die einzige Regel, die in Mahagonny gilt: Es ist verboten, kein Geld zu haben. Heumann: "So ist das ja heute auch noch, außer dass man nicht gleich zum Tode verurteilt wird. Aber vielleicht wird unser Kanzler Merz das ja noch ändern." Ein Raunen geht durch die Reihen.

Die sechs Akteure, die über die Bühne tanzen und singen, gehören zum Ensemble La Fleur. Ordinateur, Vetcho Lolas und Annick Choco stammen aus Elfenbeiküste, Carlo Martinez aus Mexiko, Der Cora Frost und Hauke Heumann aus Deutschland. Monika Gintersdorfer, die Regisseurin, arbeitet seit zwanzig Jahren mit Musiker:innen und Tänzer:innen aus Elfenbeinküste zusammen. Dem Modedesigner Abdoulaye Kone, der in Hamburg-Sankt Georg mit seiner außergewöhnlichen Kleidung Aufmerksamkeit erregte, half sie, ein Modelabel zu gründen, genannt Bobwear, aus dem auch die vom kongolesisch-deutschen Künstlerpaar Mukenge/Schellhammer entworfen Kostüme stammen.

Internationale Zusammenarbeit mit viel Spaß

"In ihren Tanz- und Theaterstücken dekonstruieren sie Autor*innen wie Honoré de Balzac, Émile Zola, Margret Mitchell oder Bertolt Brecht aus weißer und nicht-weißer Perspektive", steht im Programmblatt zur Arbeit von La Fleur. Dekonstruieren heißt auseinandernehmen und neu zusammensetzen. "Die Luft ist kühl und klar", rufen die Darsteller:innen in einem Nachspiel in der benachbarten Montagehalle, in die sie mit dem Publikum umziehen. Im Original-Mahagonny steht diese Szene am Anfang des Stücks, als die Holzfäller, noch in Alaska, singen: "Auf nach Mahagonny!" Sie ans Ende zu verlegen, darf als Hinweis verstanden werden, dass es nach dem Untergang irgendwie weitergeht.

Ein anderes Detail ist vom Anfang des Originals ins Zentrum gerückt: Leokadia Begbick gründet Mahagonny, nachdem ihr Auto liegen geblieben ist und nicht mehr anspringt. "Cette voiture-là, elle ne va plus", singen die Ivorer. "Das Auto – ist kaputt", übersetzen Heumann und Der Chora Frost. Und weiter: "Die Automobilindustrie springt nicht mehr an. Denn die Automobilindustrie springt jetzt in China an."

Heumann erklärt: Hersteller wie Mercedes hatten sich auf die CASE-Strategie festgelegt: Connected, autonomous, shared, electric. Doch der Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper arbeite dagegen, habe sich bei einem Autogipfel im Januar für eine Abkehr von den Klimazielen und für den Verbrenner ausgesprochen. Dazu kommt: Für Batterien braucht es seltene Erden, die weitgehend aus China stammen. Was wenn China sie nun selber verarbeiten will, statt sie zu exportieren? "Die ganze Industrie ist völlig verwirrt", meint Heumann: "Wie geht das jetzt weiter, Batterie, Wasserstoff … ." Oder wird sie auf Rüstung umstellen?

Was passiert, wenn die Autoindustrie zugrunde geht, kann man an Detroit sehen, der einstigen Motor City. Mitte der 1980er-Jahre brachte die Firma Roland den TR-909 Drumcomputer auf den Markt, der zuerst ziemlich teuer war. Als er billiger wurde, erfanden DJs in Detroit den Techno. Timor Litzenberger, der für die musikalischen Teile verantwortlich zeichnet, die nicht von Kurt Weill stammen, legt ein Exemplar auf den Boden und legt los. Nach und nach schaltet er einen maschinell anmutenden Rhythmus nach dem anderen zu – Techno wummert durch die Autohaushalle.

Musikalisch ruht das Stück auf drei Säulen: einmal die Musik von Kurt Weill, gespielt vom Staatsorchester-Ensemble; anderes stammt von Lietzenberger, der mit der Elektrogitarre daneben steht und auch mit dem Laptop hantiert; und schließlich die Musik aus Abidjan. Vetcho Lolas ist dort ein Star. Lässig sitzt er auf der Treppe, verwendet wie die anderen ein Mikrophon, das er allerdings gar nicht bräuchte: Spielend füllt er mit seiner kräftigen Stimme den Saal. Wenn er die Trommel schlägt, wird der zackige Rhythmus geschmeidiger. Mit seiner Stimme und dem Mund bringt er den Techno in Bewegung.

Aus dem Autohaus könnte doch eine Disco werden

In Abidjan gibt es keine Autoindustrie. Aber dass ein Auto seinen Geist aufgibt und nicht mehr anspringt, das kann einem auch dort passieren. Ordi sei nicht nur Tänzer, erklärt Heumann. Er verdiene sein Geld daheim auch als Gebrauchtwagenhändler. Falls jemand im Saal vielleicht einen Zweitwagen loswerden will, schlägt er nun vor – einen Porsche Jahrgang 2021 vielleicht oder einen Mercedes –, könne der sich nach dem Programm gern an ihn wenden, sie würden sich sicher einig werden.

Ordi ist die Abkürzung von Ordinateur, das heißt Computer: Weil seine Bewegungen so exakt wirken wie programmiert. "Ich wüsste schon, was ich mit einem solchen Raum anfangen würde", meint er, nachdem ihm die Zuhörerschaft in einen verspiegelten Nebenraum gefolgt ist. In Elfenbeinküste gab es um die Jahrtausendwende eine Krise, berichtet er, die sich fast zu einem Bürgerkrieg ausgewachsen hätte. Da gründeten sich ganz viele Clubs, die wie dieser Raum ausgesehen hätten. Hier könnte man doch auch eine Disco aufmachen, schlägt Ordinateur vor.

Nun aber tritt Der Cora Frost als Manager auf: Wer Ordi tanzen sehen will, muss zahlen. Der eine oder andere ist nach einigem Zögern bereit, mal zwanzig, mal nur zwei Euro hinzulegen. Dafür gibt es Akrobatik pur: zuerst von Ordi, dann von Carlos und schließlich auch von Annick Choco, der Jenny. Ganz nach der Brechtsschen Vorlage erzählt sie von ihrer weißen Mutter aus Havanna, die sie ermahnt habe, sich nicht zu billig zu verkaufen.

Er hätte zuerst ein bisschen Angst gehabt, nach Stuttgart zu kommen, bekennt Carlos. Er habe so viel von Gewalt gegen Ausländern gehört. Und dass Stuttgart ein Wasser-Problem habe mit seinen vielen versiegelten Flächen. Carlos kann da nur lachen. Mexico City hat 20 Millionen Einwohner, mehr als dreißigmal so viele wie Stuttgart. Da käme es schon vor, dass kein Wasser zum Duschen da sei. "In der Krise lässt es sich aushalten", übersetzt Heumann aus dem Spanischen.

Zum Ausgleich gibt's Brennnessel-Wodka

"Bei Brecht ist das immer so zugespitzt", bemängelt er, "so moralisch. Ich weiß nicht, die Menschen sind vielleicht gar nicht so." Doch dann spielen sie eine Szene, in der jemand wirklich dringend Geld braucht. Wie Jim in Brechts Oper. Er geht zu seinem besten Freund. Sie haben sich immer gut verstanden. Doch beim Geld hört die Freundschaft auf. Seine Freundin meint: "Ich finde es ganz gut, dass wir getrennte Konten haben." Es gebe manchmal Gründe, nichts zu geben, wendet Annick Choco ein: Man traue dem Bittsteller nicht. Oder man wisse selber nicht, wie man über die Runden kommen soll.

Es hilft nichts: Jim muss ins Gefängnis und wartet nachts in seiner Zelle auf die Hinrichtung. "Mahagonny ist gespickt mit Anspielungen auf Jesus Christus", bemerkt Vetcho Lolas. Der Chora Frost findet es "traurig, dass Brecht den Jimmy so allein gelassen hat, nur wegen seiner Volkspädagogik". Jimmy sei der einzige, den das ganze Amüsement zunehmend langweilt, der einzige, der erkenne, dass Geld nicht alles ist. "Jimmy ist vielleicht die komplexeste Figur", analysiert Heumann, "ein intuitiver Anarchist." Fazit: "Ein Jimmy allein kann nichts ausrichten. Wir brauchen viele viele viele viele Jimmys."

Damit wäre das Stück eigentlich zu Ende. Doch es gibt zwei weitere Schlüsse, nebenan in der Montagehalle. Zuerst, zum Öffnen der Fenster, ein langsamer Song und dann noch eine ausgelassene Tanznummer. Denn es hilft ja nicht, traurig auf die Krise zu warten. "Brennnessel" singen die Akteur:innen immer wieder fröhlich. Denn: "Cité d'or" ist gefördert durch das Programm "Zero" der Bundeskulturstiftung für klimaneutrale Kunst. Zwar sind die Abidjaner und der Mexikaner weit geflogen, auch die Emissionen der Zuschauer:innen werden berechnet. Doch das alles kompensiert ein neu gepflanztes Brennnesselfeld in Nürtingen. Und ganz zum Schluss gibt es Brennnessel-Wodka für alle.

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