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Der ewig Suchende

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In seinem Comic "El Eternauta" schildert Héctor Germán Oesterheld 1957 den Untergrundkampf gegen außerirdische Invasoren. 20 Jahre später geht er während der argentinischen Militärdiktatur selbst in den Untergrund – und verschwindet. Sein Comic wird zum nationalen Mythos, dem sich nun eine Ausstellung in Stuttgart widmet. Comicfan Peer Steinbrück kommt auch.

Ob als Graffiti an Hauswänden oder in U-Bahnstationen, in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires sind die Chancen groß, Comicfiguren zu begegnen. Vor allem einer bestimmten: einem Mann in Schutzanzug, vor dem Gesicht eine Art Taucherbrille, ein Gewehr geschultert, der stoisch voranschreitet.

Die Figur ist "El Eternauta", der Protagonist aus dem gleichnamigen Comic des argentinischen Comicautors Héctor Germán Oesterheld (1919–1977). "El Eternauta" gilt heute nicht nur als bedeutendster Comic des Landes, er wird auch zu den wichtigsten Werken der argentinischen Literatur überhaupt gezählt und ist eng verknüpft mit einem nationalen Trauma und den Versuchen, es aufzuarbeiten. 

Oesterheld ist der Sohn eines deutschstämmigen Vaters und einer aus Spanien stammenden Mutter. Er wurde in Buenos Aires geboren, studierte erst Geologie, arbeitet eine kurze Phase als Journalist, ehe er Szenarist für Comicgeschichten wurde. Die Jahre zwischen 1944 und 1966 gelten als das goldene Zeitalter des argentinischen Comics, denn viele ausländische Künstler sind vor dem Zweiten Weltkrieg ins Land geflohen.

In den Fünfzigerjahren arbeitet Oesterheld unter anderem mit dem italienischen Zeichner Hugo Pratt zusammen, der später mit seiner Figur "Corto Maltese" Comicgeschichte schreiben sollte. Gemeinsam schaffen sie die Serien "Sergeant Kirk" und "Ernie Pike"; beide eint der humanistische Grundton und die ernste bis düstere, eher an Erwachsene gerichtete Erzählweise. Doch keines seiner Werke wird so berühmt wie die Science-Fiction-Serie "El Eternauta".

1957 beginnt Oesterheld gemeinsam mit dem Zeichner Francisco Solano López mit der Arbeit an der Serie, die in dem wöchentlichen Comicmagazin "Hora Cero Semanal" erscheint. Am Anfang der Geschichte steht eine Alien-Invasion in Buenos Aires: Mithilfe einer Art giftigem Schnee, der durch alle Ritzen dringt, töten die Außerirdischen in kurzer Zeit die meisten Bewohner der Stadt. Zu den wenigen Überlebenden gehören Juan Salvo, Besitzer einer kleinen Batterienfabrik, seine Frau und Tochter sowie einige Freunde, die gerade zu Gast waren. 

Kein Superheld, sondern nur in der Gruppe stark

Mit improvisierten Schutzanzügen erkunden sie die Lage, treffen auf weitere Überlebende, schließen sich einer Widerstandsgruppe an. Gemeinsam kämpfen sie gegen die Außerirdischen, die sich in verschiedenen Formen zeigen: als Rieseninsekten, elefantenähnliche Monster oder eine humanoide Spezies, alle aber offenbar ferngesteuert von einer nie in Erscheinung tretenden Macht, die immer nur SIE genannt wird.

Die zusammengewürfelte Gruppe gewinnt einige Kämpfe gegen die Invasoren, bleibt aber letztlich ohne Chance. Nachdem die meisten seiner Kameraden getötet oder in willenlose Robotermenschen verwandelt worden sind, versucht Juan mit seiner Frau und seiner Tochter in einer Raumkapsel der Außerirdischen zu fliehen. Er aktiviert versehentlich eine Zeitmaschine – die drei werden in verschiedene Raum- und Zeitebenen katapultiert, und Juan reist fortan auf der Suche nach seiner Familie durch die Jahrhunderte, er wird zum "Eternauta", dem ewig durch die Zeit Reisenden, ewig Suchenden.

Der Comic wird schnell erfolgreich, auch weil er sich deutlich von anderen Science-Fiction-Comics seiner Zeit abhebt: Er spielt in einer den Lesern vertrauten Gegend, er zeigt psychologisch nachvollziehbar handelnde Akteure, schildert ihre Ängste, Sorgen und Hoffnungen. Vor allem aber ist sein Protagonist Juan Salvo kein Superheld, sondern nur im gemeinsamen Kampf mit seinen Freunden stark, ein Held in der Gruppe. So macht Oesterheld seinen Comic zu einem starken Plädoyer für Solidarität und Humanismus, mit einem differenzierten soziopolitischen Subtext.

Harte Systemkritik in Bilder verpackt

Wie viele andere Science-Fiction-Geschichten jener Zeit verarbeitet "El Eternauta" allegorisch die atomare Bedrohung im Kalten Krieg, zugleich aber kann man ihn als Reflexion über die im Entstehungszeitraum virulente kubanische Revolution und den US-Imperialismus sehen. Und nicht zuletzt lässt sich der Comic als Parabel auf die politische Lage in Argentinien deuten: Nachdem Präsident Juan Péron 1955 durch einen Militärputsch abgesetzt worden ist, beginnt eine jahrzehntelange Phase der Instabilität, noch mehrmals putscht das Militär. Oesterheld spart in seinem Comic nicht mit impliziten Kommentaren zur politischen Lage in Argentinien und im ebenfalls diktatorisch regierten Nachbarland Chile, kritisiert über die Science-Fiction-Handlung soziale Ungleichheiten und die Herrschaft der Militärjuntas.

Der deutliche politische Unterton der Serie bringt Oesterheld und López bald in Konflikt mit der argentinischen Regierung, die die beiden einzuschüchtern versucht. Als Reaktion darauf emigriert López 1959 nach Spanien. Oesterheld bleibt. 1959 ist die erste Version von "El Eternauta" beendet, zehn Jahre später beginnt er jedoch mit der Arbeit an einer neuen Version, nun mit noch deutlich mehr politischen Referenzen. Gezeichnet hat diese neue Version Alberto Brecchia, mit dem Oesterheld bereits 1968 eine Che-Guevara-Biografie umgesetzt hatte.

1976 putscht das Militär einmal mehr, doch dieses Mal sind die Folgen am verheerendsten. General Jorge Rafael Videla installiert eine bis 1983 dauernde Militärdiktatur und kündigt gleich zu Beginn an: "Es müssen so viele Menschen wie nötig in Argentinien sterben, damit das Land wieder sicher ist."

Nach diesem Putsch wird "El Eternauta" gewissermaßen für Oesterheld zur Prophezeiung: Er geht, wie knapp 20 Jahre zuvor der von ihm geschaffene Juan Salvo, in den Untergrund, um die neuen Machthaber zu bekämpfen; gemeinsam mit seinen vier Töchtern schließt er sich der linken Stadtguerilla der "Montoneros" an. Auch hier wird der Gegner zu stark sein. Oesterheld und seine Töchter verschwinden, nur von einer Tochter kann die Leiche begraben werden. Tot sind vermutlich alle – wie 30 000 weitere Argentinier, die der Junta zum Opfer fallen.

Nestor Kirchner als Eternauta

Nach dem Ende der Diktatur entwickelt sich "El Eternauta" auch deshalb zum Mythos. Der Comic und sein Held werden zum Symbol für den Widerstand und die Suche nach den Vermissten. Oesterhelds Witwe Elsa Sánchez wird zudem zu einer der Sprecherinnen der "Großmütter der Plaza de Mayo", einer Organisation, die es sich zum Ziel gemacht hat, die während der Diktatur zwangsadoptierten Kinder von "Verschwundenen" aufzufinden und zu ihren Ursprungsfamilien zurückzubringen.

Wie sehr sich "El Eternauta" mittlerweile von der konkreten Comicfiguren zur politischen Chiffre gewandelt hat, zeigt auch, dass die verbreiteten Graffiti mit der Figur im Schutzanzug mittlerweile oft auch das Gesicht des ehemaligen argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner oder seiner Ehefrau und Nachfolgerin im Amt, Cristina Kirchner, zeigen. Vor allem kurz nach dem Tod des Ersteren im Oktober 2010 waren solche Stencils (Schablonen-Graffiti) plötzlich in ganz Buenos Aires zu sehen. Das liegt daran, dass erst Nestor Kirchner mit Beginn seiner Amtszeit 2003 die juristische Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur wirklich in Gang brachte – die ersten Aufarbeitungsversuche Mitte der 1980er waren schnell auf Druck des Militärs von einem Amnestiegesetz abgewürgt worden.

Und so taucht selbst auf Wahlplakaten der Kirchners mitunter das Motiv der Figur im Schutzanzug auf, manchmal auch nur eine Darstellung des Gesichts hinter der charakteristischen Taucherbrille – das reicht offenbar schon, um den Kontext klarzumachen.

Es mag an der engen Verknüpfung mit der Geschichte Argentiniens liegen, dass "El Eternauta" außerhalb des Landes bislang kaum bekannt ist. Dies könnte nun die von der Journalistin Anna Kemper kuratierte Ausstellung "Der Mythos Eternauta" ändern, die ab dem 18. Januar im Stuttgarter Literaturhaus zum ersten Mal präsentiert wird. Parallel dazu wird der Comic – seine erste Version vom Ende der 1950er – unter dem Titel "Eternauta" im Berliner <link http: www.avant-verlag.de comic eternauta _blank external-link>Avant-Verlag erstmals auf Deutsch erscheinen, in einer rund 400-seitigen Ausgabe.

Bei der Ausstellungseröffnung im Literaturhaus ist neben Anna Kemper und dem argentinischen Comiczeichner José Muñoz kurioserweise auch Peer Steinbrück als Gast angekündigt – nicht in seiner Funktion als Ex-Kanzlerkandidat der SPD, Ex-Finanzminister oder Wirtschaftsexperte, sondern als leidenschaftlicher Comicsammler und Oesterheld-Fan, wozu er sich schon 2012 <link http: www.tagesspiegel.de kultur comics interview-ein-kanzlerkandidat-fuer-den-comic _blank external-link>in einem Interview bekannte.

 

Info:

"Der Mythos Eternauta", 18. 1.–15. 4. 2016, <link http: www.literaturhaus-stuttgart.de _blank external-link>Literaturhaus Stuttgart, Breitscheidstr. 4, 70174 Stuttgart.


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