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Matthias Lieb und die Deutsche Bahn

Anwalt der Fahrgäste

Matthias Lieb und die Deutsche Bahn: Anwalt der Fahrgäste
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Seit Oktober kümmert sich Matthias Lieb hauptamtlich um die Qualität des baden-württembergischen Bahnverkehrs. Da klemmt es an vielen Stellen. Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) will mit einer Qualitätsoffensive abhelfen.

Schulausflug von Donaueschingen nach Freiburg: Fehlanzeige. "Jüngster Aufreger: Man darf auf dieser Strecke keine Schulklassen mehr anmelden", schreibt der SPD-Kreisverband Breisgau-Hochschwarzwald im Dezember auf seiner Website. Gemeint ist die Breisgau-S-Bahn, genauer gesagt die Ost-West-Linie, die sogenannte Höllentalbahn. Seit mehr als einem halben Jahr sind die Züge dort restlos überfüllt, fallen immer wieder aus oder halten nicht an allen Bahnhöfen.

Auch im Online-Bürgerdialog des Verkehrsministeriums zur Qualität des Zugverkehrs am 6. Februar kommen die Probleme sogleich zur Sprache. Rund 70 Bürger:innen nehmen teil, den Wortmeldungen nach zu urteilen vor allem solche, die sich bereits zusammengetan haben, um gegen die anhaltenden Missstände anzugehen. Eltern und Lehrer:innen im Filstal zum Beispiel, wo ähnlich wie an der Breisgau-S-Bahn zeitweise kein regulärer Unterricht stattfinden konnte, weil der Schüler:innentransport nicht funktionierte.

"Wir leiden unter den Folgen der Bahnreform", konstatiert Matthias Lieb wenige Tage nach dem Bürgerdialog. Seit Oktober ist er Qualitätsanwalt der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg (NVBW), die seit 1996 den Schienenverkehr des Landes dirigiert. Anwalt der Fahrgäste ist Lieb eigentlich schon viel länger: Zwanzig Jahre lang war er Landesvorsitzender des Verkehrsclub Deutschland (VCD).

Höhere Strafen für Verspätungen und Ausfälle

Vor dreißig Jahren wurde die damalige Deutsche Bundesbahn privatisiert. Seitdem wurden Strecken stillgelegt, Schienenareale verkauft, Personal reduziert, und die unzureichend gewartete Infrastruktur führt immer wieder zu Ausfällen und Behinderungen. "Schauen Sie sich doch mal die Signale und Stellwerke an", sagt Lieb, "die sind so alt, die hätten schon vor dreißig Jahren erneuert werden müssen." Die Kapazität, die der Tiefbahnhof Stuttgart 21 haben sollte, wurde damals ermittelt. Doch inzwischen haben sich die Fahrgastzahlen verdreifacht.

Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) hat im September 2023 eine Qualitätsoffensive angekündigt und den "Aktionsplan Qualität im Schienenpersonennahverkehr" gestartet. Unter anderem drohen für Verspätungen und Ausfälle, die Bahnbetreiber selbst zu verantworten haben, höhere Strafzahlungen. Pünktlicher und zuverlässiger soll das Bahnfahren werden, besser die Fahrgastinformation, robuster die Infrastruktur und die Fahrzeuge, die Wagen und Bahnhöfe sauberer und besser gewartet. Für all das braucht es auch mehr Personal – dabei will das Land den Verkehrsunternehmen helfen.

Seit zwei Jahren kümmert sich die DB Netz AG, die sich neuerdings DB InfraGO nennt, nicht mehr um die Anschlusssicherung. Das soll nun im Südwesten die NVBW übernehmen. Doch so einfach ist das nicht: Zwar ist ausgearbeitet, wo Züge auf andere warten können, erklärt Lieb. Doch die Informationen müssen zwischen den Bahnunternehmen weitergereicht werden – und zwar automatisch –, sonst treffen an der Leitstelle zu bestimmten Zeiten zu viele Anrufe ein. Das muss wiederum programmiert werden. Im Moment läuft die Ausschreibung.

Keine Züge wegen überlasteter Werkstätten

Seit den frühen 1990er-Jahren hat sich nicht nur die Fahrgastzahl verdreifacht, sondern auch das Angebot im Schienen-Regionalverkehr verdoppelt, so umriss Markus Gericke beim Bürgerdialog einleitend die Lage. Gericke ist Leiter des Referats Schienenpersonenverkehr im Verkehrsministerium.

Müsste bei steigender Nachfrage nicht auch das Schienennetz ausgebaut werden? Lieb antwortet mit einem klaren Jein. Einerseits gibt es jede Menge Engpässe: eingleisige Abschnitte und fehlende Ausweichgleise. Der Ausbau der hoffnungslos überbelegten Rheintalbahn zwischen Karlsruhe und Basel ist immer noch nicht in Sicht: 1987 begonnen, soll sie nun 2040 fertig werden. Häufig sind es Fernverkehrszüge, die den Regionalverkehr behindern. Jeder dritte Fernzug ist unpünktlich, im Regionalverkehr nur jeder zehnte – nach den Kriterien der Bahn, die erst bei sechs Minuten Verspätung zu zählen anfängt.

Andererseits lässt sich auch im bestehenden Netz etwas verbessern. Lieb erläutert das am Beispiel der Filstalbahn zwischen Ulm und Stuttgart: Früher verkehrte dort der Regionalexpress nach Friedrichshafen in einem engen Intervall zwischen einem Intercity und einem ICE. Seit die Abfahrtzeit um eine halbe Stunde verschoben wurde, ist er wieder pünktlicher. Schulen und Elternvertreter:innen können aufatmen, auch wenn dafür der eine oder andere Anschluss in Ulm nicht erreicht wird.

Die Probleme der Höllentalbahn im Schwarzwald sind dagegen weniger leicht zu lösen. Von den 26 Zügen des Herstellers Alstom waren oft nur 16 oder weniger verfügbar. Nach einem Drittel der angegebenen Zeit machten die Radsätze schlapp. Aber den Werkstätten fehlten die Ersatzteile. So ist es landesweit, erklärt Lieb: 20 Prozent der Fahrzeuge fahren nicht, weil die Werkstätten überlastet sind, weil die Ersatzteile zwischen sechs und 18 Monaten Lieferzeit haben und weil das Personal fehlt.

Natürlich steht in den Verkehrsverträgen, dass die Betreiber ihre Fahrzeuge in Schuss halten müssen, einschließlich Toiletten und Türen. Doch zumeist sind Subunternehmen beauftragt, die wiederum an den Werkstätten der Deutschen Bahn Schlange stehen. In der Ausschreibung für 130 neue Doppelstock-Triebwagen ist daher vorgesehen, dass die Hersteller selber die Wartung übernehmen. Das könnte sich als wegweisender Ansatz erweisen, denn dann gibt es klare Zuständigkeiten und keine Ketten von Abhängigkeiten.

Kürzungen im öffentlichen Verkehr

Liebs Aufgabe ist es, sich die Stellen, wo Probleme auftreten, anzuschauen – auch vor Ort –, um im Dialog mit den Fahrgästen Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Bereits seit 2012 gibt es den Fahrgastbeirat, dem Lieb bis Herbst 2023 vorstand und an dem sich neben Verbänden auch interessierte Bürger:innen beteiligen können. Jede:r kann überdies online Wünsche und Verbesserungsvorschläge zum nächsten Fahrplan einbringen: für den Fahrplan 2025 noch bis zum 15. Februar.

Künftig könnten Fahrtzeiten verlängert werden oder einzelne Halte entfallen, damit Anschlüsse sicher erreicht werden. Der Bund, so Lieb, plane in der Regel ein betriebswirtschaftlich optimiertes Konzept. Doch den Fahrgästen nützt es wenig, wenn sie in der Theorie drei Minuten zum Umsteigen haben, in der Praxis ihr Zug aber dauernd fünf Minuten Verspätung hat.

Zudem hat der Bund, der eigentlich für den Bahnausbau zuständig ist, nun die Mittel gekürzt. Ist es so, wie die "Wirtschaftswoche" schreibt, dass die Bahn alle Neubaupläne streicht, weil der verbleibende Etat nur für die Instandhaltung reicht? "Eigentlich müsste man beides machen", bemerkt Lieb. Es bestehe ein enormer Sanierungsstau. Wenn nun weniger Geld für den Ausbau da ist, sei mit dem Deutschlandtakt, einem bundesweit abgestimmten integralen Taktfahrplan, nicht vor 2070 zu rechnen.

Obwohl Deutschland das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens bereits verfehlt hat, baut die Bundesregierung weiter Autobahnen und kürzt beim öffentlichen Verkehr. Die FDP führt die anderen Koalitionspartner am Nasenring durch die Manege. Das Land kann nur versuchen, über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz kleinere Vorhaben voranzutreiben, erklärt Lieb. Da müssten sich jedoch auch die Kommunen beteiligen, die das – wie aktuell am Bodensee – nicht immer können oder wollen.

Ist auch der Pfaffensteigtunnel, der die Gäubahn an den neuen Stuttgarter Tiefbahnhof anbinden soll, von den Kürzungen betroffen? Die Bahn hat dementiert. Aber sie rechnet derzeit noch mit Kosten von einer Milliarde. Der gut vergleichbare Tunnel Offenburg im Rheintal, so Lieb, sei aktuell bei 3,8 Milliarden angekommen. "Niemand sagt, dass der Pfaffensteigtunnel nicht gebaut wird", bemerkt der Qualitätsanwalt. "Aber ein Datum will auch keiner nennen." Es ist wohl wie in Italien: Es funktioniert alles, sagen Spötter dort, man weiß nur nicht wann.

Gericke hat im Bürgerdialog einige "externe Faktoren" genannt, die den Regionalverkehr behindern. An erster Stelle: der Bahnknoten Stuttgart mit der S21-Baustelle, an zweiter die Gäubahn und an dritter die Stammstrecke der Stuttgarter S-Bahn. An all dem wird sich bis zur Inbetriebnahme von Stuttgart 21 nichts ändern. Aber wird es danach besser? Lieb bleibt freundlich: "Es kann schon sein, dass der Bahnhof, wenn alles gut läuft, in den ersten paar Jahren funktioniert."

Die Schweiz macht es besser

Ins Hintertreffen gerät auch Hermanns Mobilitätsgarantie. Eigentlich hatte der Verkehrsminister versprochen, im ganzen Land wäre bis 2026 jeder Ort wenigstens in der Hauptverkehrszeit im Halbstundentakt mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar, in den Ballungsräumen im Viertelstundentakt. Das steht so auch im Koalitionsvertrag der Landesregierung. Doch vor 2030 ist nun nicht mehr damit zu rechnen. Es fehlt an Lokführer:innen und Busfahrer:innen, aber auch an Geld für Fahrzeuge und die nötige Infrastruktur.

Die NVBW prüft ständig und systematisch die Qualität des Schienenverkehrs in Baden-Württemberg und die Ergebnisse gehen in ein Qualitätsranking ein. Auf Platz eins, drei und sieben von 32 Netzen lagen beim letzten Mal drei Strecken an der Südgrenze des Landes, die von der Schweizer Bundesbahn betrieben werden. Schlusslicht war dagegen das Neckartal von Tübingen bis Mannheim, Karlsruhe und Osterburken. Insbesondere die Pünktlichkeit lässt hier schwer zu wünschen übrig.

Was macht die Schweiz besser? 92,5 Prozent aller Züge haben dort weniger als drei Minuten Verspätung, 99 Prozent aller Anschlüsse werden erreicht. In Deutschland, erklärt Lieb, wird verspäteten Fernverkehrszügen – also jedem dritten – Priorität eingeräumt. Sie bremsen damit auch den Regionalverkehr aus. In der Schweiz funktioniert der Taktfahrplan. Wenn in seltenen Fällen ein Zug doch einmal verspätet ist, muss er warten, bis die Strecke frei ist. Österreich investiert dreimal, die Schweiz viermal so viel pro Kopf in die Eisenbahn wie Deutschland.

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