Claudia Emmert, die Kuratorin der Triennale, hat ihre berufliche Laufbahn in Fellbach begonnen. Seit 2014 ist sie Direktorin des Zeppelin-Museums in Friedrichshafen, Ende 2025 wechselt sie ans Kunstmuseum Bonn. Sie engagiert sich für Klimaschutz im Museum, im Deutschen Kulturrat und in der Bundeszentrale für politische Bildung, ist Mitglied der Ankaufkommission der Bundeskunstsammlung und im Vorstand des Museumsrats ICOM Deutschland. (dh)

Triennale Kleinplastik Fellbach
Von Untergangsszenarien und Lösungen
Fotos: Jens Volle
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Ein letztes Haus steht noch auf einem steilen Hügel mitten in einer riesigen Baugrube in Istanbul: Das Foto ging 2014 um die Welt, ein Sinnbild der Gentrifizierung und der undurchsichtigen Immobiliengeschäfte in der Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Bewohnbar war das Haus im Stadtteil Fikirtepe zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. Doch der türkische Konzeptkünstler Ahmet Öğüt hat den Bewohnern ein Denkmal gesetzt: mit einem Modell wie aus einem Faller-Modellbaukasten.
Unter dem Titel "Habitat", von habitare, lateinisch für wohnen, steht die diesjährige, die 16. Triennale Kleinplastik Fellbach. Untertitel: "Über_Lebensräume". Claudia Emmert, die Kuratorin, erläutert: "Klimawandel, Insektensterben, Kriege: Wir wissen, es geht so nicht weiter." Doch die Gesellschaft hält in der Polykrise am Alten fest. "Wir brechen das einfach mal runter in kleinere Einheiten", so beschreibt Emmert das Konzept ihrer Triennale.
Eigentlich ist Habitat ein Begriff aus der Biologie und bezeichnet eine Untereinheit des Biotops: den Lebensraum einer oder mehrerer Tier- und Pflanzenarten. Dieser Aspekt wird auch in der Ausstellung – wie in den Vorjahren in der Alten Kelter in Fellbach – aufgegriffen: Angelika Loderer hat für ihre Arbeiten unter anderem Maulwurfsgänge und Spechthöhlen ausgegossen, um sie als plastische Formen im Raum sichtbar zu machen. Auf ähnliche Weise geht die polnische Architektin und Künstlerin Natalia Romik in ihrem Werkblock "Architekturen des Überlebens" unterirdischen Lebensräumen nach, in denen sich jüdische Menschen während der NS-Zeit versteckten.
Stabschrecke und Gottesanbeterin tanzen im Club
Kunst lässt sich indes nicht klassifizieren wie die Arten in der Biologie, in ihr sind Grenzen nur dazu da, um sie zu überschreiten. So dient das Modell eines unterirdischen Clubs dem Künstlerduo M+M aus München in seiner Arbeit "Club Bunker" als Kulisse für einen 3D-Film, in dem eine Stabschrecke und eine Gottesanbeterin mit ihren langen, dürren Beinen einen seltsamen Tanz aufführen. Gleichwohl hat auch das Modell selbst, detailliert und liebevoll gestaltet bis hin zu den reichlich versifften Toiletten des Clubs, beachtliche Qualitäten.
Die Triennale Kleinplastik Fellbach entstand 1980 auf Initiative des kunstsinnigen Fellbacher Oberbürgermeisters Friedrich Wilhelm Kiel (FDP). Von der zweiten Ausgabe an stand die Begegnung mit einem osteuropäischen Land im Mittelpunkt. 1989, kurz vor der Wende, war dies die DDR. Da der Ost-West-Gegensatz entfiel, stand 1992, 500 Jahre nach der Entdeckung Amerikas, Mexiko auf dem Programm, gefolgt von Ostasien und Afrika. Da der Fellbacher Gemeinderat den Höhenflügen des Bürgermeisters nicht länger folgen wollte, fand die Triennale zu jener Zeit im LBBW-Forum in Stuttgart statt. 2001 zog sie nach Fellbach zurück und fand unter dem beeindruckenden Dach der Alten Kelter ein neues Zuhause. (dh)
Das Habitat, als Teil eines Biotops, ist definiert als Lebensraum. Es gibt allerdings auch Räume, in denen nichts mehr lebt. Für Emma Adler sind Schottergärten der Inbegriff spießbürgerlichen Ordnungswahns. Streng symmetrisch und geometrisch ist ihr Vorgarten des Grauens in ihrer Installation "O Mutter deine Blumen / Bleich wie du im Neonlicht" aufgebaut. Die einzigen organischen Formen sind zwei bronzierte Hände, die ungefähr fünfeinhalb Finger haben, nachgebildete Details aus einer KI-generierten AfD-Kampagne sind und die Fake News dieser Partei verkörpern sollen. Alle halbe Stunde fegt ein dröhnendes Blitzlichtgewitter über die Skulptur und die Ausstellung hinweg.
Viele Habitate weltweit sind bedroht oder bereits zerstört. Dies zeigt die Ausstellung mit Arbeiten, die Zerstörungen von der Antarktis bis in die tropischen Breiten thematisieren, von der Tiefsee bis hin zum Kalksteinabbau für den weltgrößten Betonhersteller in der Schweiz. Oder am Persischen Golf: Die kuwaitische Künstlerin Monira Al Qadiri breitet in ihrer Installation "Onus" wie auf einem riesigen Leichentuch in schwarzes Erdöl getränkte Vögel aus. Als Kind hatte sie 1991 erlebt, wie die Vogelkadaver während des Zweiten Golfkriegs im Persischen Golf an Land gespült wurden.
Auch das Lokale ist ohne die globalen Beziehungen nicht zu denken. Die gesamte Erdoberfläche, also auch Fellbach, wird von Satellitenkameras erfasst. Die kanadische Künstlerin Sarah Friend zeigt mit ihrer Skulptur "Remote Viewing" auf einer Fläche von einem Quadratmeter, wie genau dieser Teil der Erdoberfläche aus dem Weltall aussieht. Der Blick der Kamera durchdringt nicht das Dach der Alten Kelter, das stark gepixelt auf dem Satellitenbild erscheint.
Granathülsen als Blumenvasen
Ganz anderen Beziehungen widmet sich Sammy Baloji aus der Demokratischen Republik Kongo. Für eine Installation hat er vierzig Granathülsen aus dem Ersten Weltkrieg mit Pflanzen aus seiner Heimatregion Katanga bepflanzt, die als Zimmerpflanzen längst auch in Europa verbreitet sind. Aus dem Bergbaugebiet im Osten der DR Kongo stammt auch das Kupfer, aus dem die Hülsen hergestellt sind. Von Soldaten in den Schützengräben Flanderns mit Gravierungen verziert, werden die rund fünfzig Zentimeter hohen Rohre gern als Vasen verwendet. Hinter der Schönheit des Arrangements verbirgt sich eine gewaltsame Geschichte, die Baloji auch als Sinnbild der Migration begreift.
Christ Mukenge stammt aus Kinshasa, der Hauptstadt der DR Kongo, Lydia Schellhammer aus Konstanz. Beide malen, leben abwechselnd mal hier, mal dort und interessieren sich auch für die Populärkultur in beiden Ländern. Dass die bekannten westlichen Marken in Kinshasa ein hohes Prestige genießen, greifen die beiden in einer neu für die Kleinplastik-Triennale entstanden Arbeit auf: Mit "Misu Na Misu" haben die beiden ein kissenartiges Objekt aus Wachstuch geschaffen, auf dem "Chenal" statt "Chanel" steht. Ein kleiner Bildschirm zeigt die Zoom-Bar, ausgestaltet mit der digitalen 3D-Malerei des Künstlerpaars.
Scheinbar saubere Bildschirm-Technologien benötigen seltene Erden, die zu 95 Prozent im Gebiet um Baotou in der Inneren Mongolei, China, abgebaut werden. Für seine Arbeit "Rare Earthware hat das internationale Kollektiv "Unknown Fields" dort mit versteckter Kamera gefilmt. Stellvertretend für die gigantischen Umweltzerstörungen, die mit der Gewinnung der begehrten Mineralien verbunden sind. stehen im Ausstellungsraum drei Vasen, getöpfert aus (schwach) radioaktivem Abfallschlamm.
Gegen die Zerstörung von Lebensräumen regt sich allenthalben Protest. Vom Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt hat die Fellbacher Ausstellung zahlreiche Modelle von Protestcamps übernommen: von Gorleben und der Startbahn West, Frankfurt, über Occupy Wall Street, New York, bis zum Tahrir-Platz in Kairo. An der Herstellung waren auch Studierende der Hochschule für Technik Stuttgart beteiligt. Der Karlsruher Künstler und Aktivist Rokas Wille hat für "Lützi bleibt!" wiederum das Protestcamp von Lützerath nachgebildet. In Manheim, am anderen Ende des Braunkohleabbaugebiets, sammelt derweil Silke Schatz in einem Langzeitprojekt alles, was noch zu retten ist: Wild- und Kulturpflanzen, Bauschutt und Obst, konserviert in Einmachgläsern, stellt sie unter dem Titel "Never Walk Alone" zu schönen, gleichwohl traurigen Installationen zusammen.
Die britische Künstlerin Anna Dumitriu geht mithilfe von Künstlicher Intelligenz der Verbreitung von Infektionen nach, eine Frage, die seit der Corona-Pandemie an Aktualität gewonnen hat. Am Bildschirm zeigt sie ein Modell der Ausbreitung der Cholera-Epidemie 1854 in London. Eine Schaufensterpuppe ohne Kopf in einem viktorianischen "Cholera Dress" macht das Thema greifbarer. Dass ihre "Fotos" von Cholera-Opfern KI-generiert sind, zeigt sich an den durchweg attraktiven Frauenfiguren und den graubraunen Farben der schlammig-verregneten Umgebung, die das historische London illustrieren soll.
Schon im Titel – vollständig "Habitate. Über_Lebensräume" – weist die Triennale darauf hin: Es geht ums Überleben angesichts des Klimawandels, anderer ökologischer Katastrophen, aber auch – wie kürzlich beim Literaturfestival Stuttgart – um Krieg. Der Stuttgarter Künstler OA Krimmel, bekannt als Covergestalter der Fantastischen Vier, nimmt für seine Arbeit "Extinction To Go / The Football" den schlimmsten Fall in den Blick: "Nuclear Football" nennen die Amerikaner einen schwarzen Lederkoffer, dessen Inhalt ihren Präsidenten befähigen soll, einen Atomkrieg zu steuern. Was passiert, wenn Trump nicht mehr weiß, was er tut, fragt sich Krimmel besorgt.
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch, dichtete einst Friedrich Hölderlin. Die zeitgenössische Kunst gibt sich nicht mit Untergangsszenarien zufrieden. Sie kann und will Teil der Lösung sein: Das Berliner Büro Raumlaborberlin etwa arbeitet seit 25 Jahren daran, Stadt und Gesellschaft neu zu definieren. Drei der Architektinnen zeigen mit "Third Space" auf der Triennale, wie sich der Klimawandel radikal bekämpfen lässt: Den Flugverkehr einstellen und die ausrangierten Flugzeugteile als Baumaterial verwenden, um Ressourcen zu sparen. Ein Modellbausatz soll auch Laien befähigen, das Formenrepertoire zu erproben.
Kunst kann und will Teil der Lösung sein
Raumlaborberlin hat auch die Ausstellungsarchitektur entwickelt: ausschließlich aus vorhandenem Material. Ein verbindendes Element sind Jalousien, die an einer langen, geschwungenen Schiene überall im Raum hängen. "Kohabitation", steht darauf, "Terraforming", "Perspektivwechsel", "Mut zur Zukunft". Es sind keine Handlungsanweisungen, sondern Stichworte, die zum Denken anregen sollen, wie die Kunstwerke in der Halle der Alten Kelter.
Anregungen für Lösungen gibt es mehrere: Die in Helsinki lehrende Designerin Julia Lohmann entwickelt für "Corpus Maris II" leichte, lampenschirmartige Skulpturen aus Meeresalgen, die sie über ein Rattangewebe zieht. Die dänische Gruppe Superflex hat mit einer Biologin hautfarbene, durchlöcherte Ziegelsteine entwickelt, in die bei steigendem Meeresspiegel Fische oder Korallen einziehen können – Titel der Arbeit: "Pink Element No. 4 /Penthouse". Das Kollektiv Blockadia Tiefsee wiederum zeigt auf mehreren Erdbetten das gemeinsam mit Regenwürmern und Mikroben angefertigte Werk "Wurmcohabitate-Bedrock Intelligence". Die Kunst ist der Hingucker, um Aufmerksamkeit auf die Leistungen der nichtmenschlichen Akteure zu lenken.
Aus dem Bereich der Blockchain-Technologie, der Kryptowährungen und der Non Fungible Tokens (NFT), der fälschungssicheren digitalen Kunstwerke, die vor einigen Jahren einen kurzzeitigen Hype erlebten, stammt der Begriff der dezentralen autonomen Organisation (DAO). Im Fall des Projekts BeeDAO wird mit einem NFT allerdings kein Kunstwerk erworben, sondern die Mitgliedschaft an der DAO, die dem Wohl der Bienen gewidmet ist. Sensoren liefern Daten zu Bienenstöcken in aller Welt. Bei Handlungsbedarf entscheiden die Mitglieder, zumeist Imker:innen, gemeinsam, wie Projektleiter Matthias Einhoff berichtet. Die Strukturen sind dezentral und nicht hierarchisch. Ein kleines Beispiel, das als Vorbild für große Lösungen dienen könnte.
Die Kleinplastik-Triennale läuft bis zum 28. September in der Alten Kelter in Fellbach, Untertürkheimer Straße 33. Alle Informationen zu Öffnungszeiten, Eintrittspreisen und zum umfangreichen Rahmenprogramm hier.
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