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So viel Raum

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Der öffentliche Raum ist der Ort, an dem sich Menschen begegnen könnten. Aber häufig rennen sie eher aneinander vorbei. Ein Theaterprojekt in Stuttgart lädt ein, näher hinzusehen. Geflüchtete und Architekturstudenten treffen auf Passanten.

"Was macht ihr da?", fragt eine Kinderstimme. Sie sehen witzig aus, die dreißig Erwachsenen, die sich in der Theaterpassage unweit des Stuttgarter Hauptbahnhofs auf Kissen niedergelassen haben mit schwarzen Pappbrillen auf der Nase. Die Brillen sollen das Gesichtsfeld einschränken. Der Ausschnitt, den sie von der Königstraße wahrnehmen, hat das Format einer Kinoleinwand. Der Film, der gespielt wird: Einkaufstrubel am Samstagmittag in der Vorweihnachtszeit.

Menschen rennen hin und her, Einkaufstaschen in der Hand. Sie gehen aneinander vorbei, ohne einander zu beachten. Es braucht einige Zeit, um zu bemerken, dass da eine Frau im Regen sitzt mit einem gefalteten Hut aus Papier, auf dem steht: "Überdachter Raum". Sie nimmt den Hut ab, darunter ein weiterer Hut. Darauf steht: "Raum des Traums". Auf der Einkaufstasche eines Passanten ist "Lebensraum" zu lesen. Auf einer anderen "Zwischenraum". Da, noch eine! Es werden immer mehr. Die Akteure nehmen sich die Taschen gegenseitig ab. Taschendiebstahl? Hehlerware? Was wird hier eigentlich gespielt?

Die Kunst der Beobachtung

Was hier – auf Stuttgarts Straßen – gespielt wird, ist der erste Teil des Projekts Linien.Grenzen.Räume der Regisseurin Adelheid Schulz und der bildenden Künstlerin Victoria Turnbull. Sie nennen sich Theater.Prekariat, zu ihrem ursprünglich studentischen Ensemble gehören seit zwei Jahren auch Flüchtlinge. Adelheid Schulz möchte sie nicht Laiendarsteller nennen, das klingt so herablassend, sie spricht lieber von Experten des Alltags. Mit Architekturstudenten der Universität haben sie drei Orte in Stuttgart ausfindig gemacht, die sie mit den Teilnehmern des geführten Stadtspaziergangs in den Blick nehmen und durch ihre Darbietungen in ein etwas anderes Licht rücken.

"Praktische Übungen. Von Zeit zu Zeit eine Straße beobachten, vielleicht mit etwas systematischer Aufmerksamkeit. Sich dieser Beschäftigung hingeben. Sich Zeit lassen." So beginnt der Text des französischen Schriftstellers Georges Perec, der die Grundlage des Projekts bildet. Auf dem Weg zur nächsten Station des Spaziergangs, an der Haltestelle und in der S-Bahn, lesen die Darsteller daraus vor. "Träume von Räumen" lautet der deutsche Titel, im Original "Especes d'espaces", eigentlich Arten von Räumen. Es geht darum, verschiedene Arten von Räumen aufmerksam zu beobachten. Wie gehen Menschen miteinander um? Wie verhalten sie sich? "Aufschreiben was man sieht. Was sich an Erwähnenswertem ereignet. Vermag man zu sehen, was erwähnenswert ist? Gibt es etwas, das uns auffällt?"

Butterhörnchen aus dem Ghettoblaster

Die zweite Station ist der S-Bahn-Ausgang am Feuersee vor der Metzgerei Kübler. Es gibt kein Innehalten: Im Rhythmus der Ampeln bewegen sich Autos und Fußgängergruppen voran. Menschentrauben quellen periodisch aus dem Untergrund hervor. Da steht einer neben einem Ghettoblaster, aus dem eine Endlos-Schlaufe aus rhythmischem Klingen und Bestellungen an der Bäckerei-Theke ertönt: "Eine Rosinenschnecke bitte! Ein Butterhörnchen bitte!" Der ganze Trupp setzt sich in Bewegung und überquert die Fußgängerampel, umrundet zwei Mal die Kreuzung. Dabei kommen ihnen andere Menschengruppen entgegen, unter denen sich bei näherer Betrachtung die Flüchtlinge und studentischen Schauspieler befinden.

Sie tragen rote Handschuhe oder Binden am Handgelenk und nehmen in weit ausladenden Gesten den Platz ins Visier. Sie stehen an der Ampel und lassen den Oberkörper hängen. Ein Passant weiß nicht, warum sie sich plötzlich vor ihm verneigen. Ein kräftiger Mann kommt aus der Metzgerei und will den Flüchtling mit dem Ghettoblaster zurechtweisen. Als er erfährt, dass es sich um ein Theaterprojekt handelt, muss er sich gedanklich neu sortieren. Aber wo sind sie auf einmal hin? Gackernd und flügelschlagend wie die Hühner kommen die Darsteller plötzlich auf der Rolltreppe aus der U-Bahn-Passage hervor.

Auf der Flucht gibt es keine Privatsphäre

Wer auf der Flucht ist, hat keine Privatsphäre, in die er oder sie sich zurückziehen kann. Die Betten der Sammelunterkünfte sind oft genug nur durch Stoffbahnen getrennt. Alles spielt sich vor den Augen der Anderen ab. Die Geflüchteten in der Truppe von Adelheid Schulz haben allesamt diese Erfahrung gemacht. Jetzt führen sie die Situation an der dritten Station künstlerisch vor Augen führen. Auf dem Weg dorthin lesen sie aus einem Text des englischen Autors John Berger: "Nichtsdestoweniger bewahren die Vertriebenen sich dadurch, dass sie sich im Kreise drehen, ihre Identität und schaffen sich ein improvisiertes Obdach. Und woraus ist das erbaut? Aus Gewohnheiten, meine ich ..."

Am Geländer oben, über dem Club Schocken, hängt einer Wäsche auf. Dazu muss er die Zuschauer bitten, ein wenig zur Seite zu treten. Unten auf dem Platz gärtnert einer in einem Baumbeet. Einer rasiert sich, ein anderer bastelt, ein dritter zeichnet. Eine Frau spült Geschirr und rastet immer mehr aus. Passanten, die zufällig vorbeikommen, fühlen sich nicht unbedingt angesprochen, wenn sie ihnen nachruft: "Verpiss dich!" Der gedachte Mann drückt sich um die Hausarbeit. Teilnehmer werden gebeten, ein bisschen mit abzutrocknen.

Der Raum zwischen den Häusern

"Wir sind sehr froh, dass durch die Flüchtlinge das Thema des öffentlichen Raums neu angesprochen wurde", sagt Markus Vogl, einer der beiden Architekten, die das Seminar an der Uni Stuttgart leiten, "und dass die Theaterleute an uns herangetreten sind." Für ihn ist wichtig, dass die Studierenden nicht nur Häuser entwerfen, sondern hinausgehen in die städtische Umgebung, um zu sehen, wie der Raum zwischen den Häusern tatsächlich funktioniert. Da das Semester erst Mitte Oktober begonnen hat, hatten sie nicht sehr viel Zeit, Räume für das Projekt ausfindig zu machen. Sie werden die drei Orte aber noch bis zum Semesterende weiter im Detail analysieren.

Für Adelheid Schulz steht der öffentliche Raum als Ort der Begegnung im Mittelpunkt. "Wie handeln wir Raum untereinander aus?", fragt sie. "Wodurch wird ein fremder Raum zu meinem eigenen?" Ihr geht es um einen Austausch zwischen allen Beteiligten: Theaterleute, Studierende, Geflüchtete, Architekten, Künstler, Passanten. Und darum, den öffentlichen Raum neu wahrzunehmen, "bis man für einen sehr kurzen Augenblick den Eindruck hat, in einer fremden Stadt zu sein", wie Georges Perec schreibt.

 

Info:

Das Projekt <link http: www.theater-prekariat.de linien-grenzen-raeume external-link-new-window>Linien.Grenzen.Räume ist eine Koproduktion mit dem Staatstheater, das an seinem Nordlabor die nächsten Veranstaltungen beherbergt: Ende Februar ist eine szenische Lesung von Texten aus einer Schreibwerkstatt mit der Autorin Sudabeh Mohafez geplant; Ende April eine Performance; und am 19. Mai die abschließende Aufführung in der Spielstätte Nord des Schauspiel Stuttgart.

 


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