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"Hallo, was machen Sie hier?"

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 Fotos: Annette Wandel 

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Datum:

Mehr als einmal am Tag knallt es irgendwo in Stuttgart hinter verschlossenen Türen: Nach den offiziellen Zahlen musste die Polizei im vergangenen Jahr 485 Mal ausrücken, um gegen prügelnde Männer und – deutlich seltener – prügelnde Frauen vorzugehen. Aber die Dunkelziffer liegt viel höher. Die Initiative "Stop" hat sich einem neuen Ansatz verschrieben: Sie bestärkt darin, einzugreifen – bei anhaltendem Lärm in der Nachbarwohnung oder bei Gewaltszenen auf der Straße. "Stop" lehrt Zivilcourage für Situationen, in denen viele aus Unsicherheit wegsehen. Eine Schaubühne.

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Dieser Fake ging gründlich schief: Zwei Schauspieler simulierten im Rathaus zum Auftakt des Aktionstags "Zivilcourage – Nein zu Beziehungsgewalt" einen Wortwechsel, der in Sekundenschnelle bis zur Handgreiflichkeit eskalierte – während der Rede des Oberbürgermeisters. Fritz Kuhn war informiert und sollte in die Rolle des Eingreifers schlüpfen. Er konnte aber nicht, weil er, wie ihm der Konfliktexperte Ralf Bongartz später bescheinigte, intuitiv die Intervention nicht spielte, sondern tatsächlich eingriff. Lektion Nummer eins für das überraschte Auditorium: Die Bereitschaft, heiklen Situationen couragiert zu begegnen, steigt um 50 Prozent, sobald die Hemmschwelle überwunden ist.

"Es geht nie um die zwei Möglichkeiten, in die Situation reinzugehen und sie zu regeln oder gar nichts zu tun", so Bongartz. Es gehe darum, die Grauzonen dazwischen richtig zu nutzen. Kuhn war entschlossen auf das Pärchen zugegangen, stoppte vor Erreichen der Trittdistanz, stellte sich stabil "und mit breiter Körpersprache hin", so der Konfliktexperte. Die Hände vor den Oberkörper zu ziehen, vielleicht sogar noch – aus Unsicherheit – zu Fäusten geballt, signalisiert Angriffsbereitschaft. Das aber lenkt den oder die Täter zwar möglicherweise von ihren Opfern ab, bringt aber den Eingreifer selbst in Gefahr.

Eingreifen erfordert "sozialen Mut"

Einen Tag lang haben sich Multiplikatoren im Rathaus theoretisch und praktisch mit den Möglichkeiten befasst, zivilcouragiert zu intervenieren. Bongartz, ein früherer Kriminalhauptkommissar, der an sich selber erlebt hat, wie sich das Selbstverständnis ohne die Insignien einer Uniform ändert, präsentierte seinen Sieben-Punkte-Katalog: von der "stillen Intervention" – auf der Straße stehen bleiben, Präsenz und Aufmerksamkeit zeigen im Angesicht eines Übergriffs – über die verbale Einmischung ("Hallo, was machen Sie hier?"), die körperliche Nähe ohne Selbstgefährdung und die sogenannte Kontaktintervention, etwa durchs konzentrierte Stellen kurzer Fragen im Stakkato, bis hin zur Suche nach Miteingreifern und der Alarmierung der Polizei über Notruf 110.

Noch schwieriger als das Einschreiten gegen Gewalttäter in der Öffentlichkeit sei die Intervention im häuslichen Bereich, so Waltraud Ulshöfer, die als Botschafterin des Projekts gegen häusliche Gewalt durch den Aktionstag führte. Es gehöre noch mehr "sozialer Mut" dazu, bei Nachbarn einzugreifen oder bei entsprechenden Beobachtungen im Bekanntenkreis. Nach Schätzungen der Fachleute in der Landeshauptstadt sind in 5500 bis 15 000 Familien Handgreiflichkeiten an der Tagesordnung. Stuttgart, so die Gleichstellungsbeauftragte Ursula Matschke, verfüge über ein "extrem gutes Expertennetz". Das könne aber nur greifen, wenn der individuelle Impuls "Ich will mich nicht einmischen, weil ich nicht weiß, was auf mich zukommt" überwunden werde.

<link http: www.stuttgart.de item show _blank>Kooperationspartner in "Stop" sind die Polizei, das Amt für öffentliche Ordnung, der Krisen- und Notfalldienst der Stadt, die einschlägigen Beratungs- und Interventionsstellen, die Staatsanwaltschaft, die Gerichtshilfe, das Kinderschutzzentrum und Zeugenbegleiter. Ein Ziel ist die Prävention, die Verhinderung häuslicher Gewalt. Weitere sind der erfolgreiche Opferschutz und Sensibilisierung: vor allem auch der betroffenen Kinder. Es sei, sagt Matschke, erstaunlich zu erfahren, wie viel sich Kinder und junge Menschen gefallen lassen.

Was würden Sie tun?

Und Frauen ohnehin. Wie jene beiden, die zur Versinnbildlichung häuslicher Gewalt geladen waren. Hinter einer Stellwand spielten sich nur hörbar für die Zuschauer schlimme Szene ab. Schlagartig wurde die Stimmung im Raum beklemmend. Sofort, erzählt danach eine der Rathausbesucherinnen, habe sie überlegt: "Was würde ich jetzt wirklich tun?"

Ein versöhnliches Ende hatte die Tanzszene, die Choreograf Eric Gauthier mit drei Mitgliedern seiner Truppe Gauthier-Dance für den Aktionstag erarbeitete: häusliche Gewalt hinter der symbolischen Tür mitten im großen Sitzungssaal. Die immer weiter bedrohte Frau kann doch nicht von ihrem Mann lassen, Flucht erkennt sie offensichtlich nicht als reale Alternative. Erst Hilfe von außen entspannt die Situation. Die Moral von der getanzten Geschichte:

Nie wieder weghören, wegsehen und nicht handeln.


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