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Die Mär vom Nutzen sicherer Herkunftsländer

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Der Ruf, weitere Balkanstaaten als sichere Herkunftsländer auszuweisen, wird immer lauter. Sachliche Gründe dafür gibt es nicht. Im Gegenteil: Analysen zeigen, dass die Maßnahme ihre gewünschte Wirkung verfehlt.

Manfred Schmidt nennt den Satz "Kein Mensch ist illegal" einen Kampfbegriff. Seit Monaten zieht der Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durch die Republik. Keineswegs, um für mehr Personal in seiner chronisch unterbesetzen Behörde zu kämpfen oder für eine bessere finanzielle Ausstattung. Schmidt will der politischen Forderung nach weiteren sicheren Herkunftsländern den Boden bereiten – mit dem Habitus des Fachmanns. Dabei braucht er nur in seine eigenen Zahlen zu schauen oder erst recht in die der EU, um festzustellen, dass Zehntausenden Auswanderern egal ist, ob sie aus einem sicheren Herkunftsstaat kommen oder nicht. Sie wollen einfach weg, weil sie in ihrer alten Heimat hungern, frieren, keine Arbeit haben oder erleben müssen, dass ihren Kindern der Schulbesuch verweigert wird. Alles scheint ihnen besser, als zu bleiben.

Zum Beispiel in der Republik Kosovo. Die ist von Österreich als sicherer Herkunftsstaat eingestuft worden, Deutschland will sich anschließen. Nach den Zahlen der Statistiker von Eurostat haben im ersten Quartal 2015 etwa 50 000 Menschen aus dem Kosovo Asyl in EU-Ländern beantragt. Gut 21 000 Anträge wurden in Deutschland gestellt, 22 000 im deutlich kleineren Ungarn, das alles andere ist als ein attraktives Land für Zuwanderer. Mehrere Gerichtsentscheidungen untersagen die Rückführung von Flüchtlingen, die über Ungarn eingereist sind, sogar, weil eine menschenwürdige Behandlung dort nicht sichergestellt sei. EU-Migrationsexperten erklären die hohe Zahl der Anträge dementsprechend ausschließlich mit der geografischen Lage.

Die Einstufung der Sicherheitslage spielt eine absolut nachrangige Rolle. Was auch der Blick nach Österreich belegt. Dort reisten in den ersten drei Monaten 2015 rund 1600 Kosovaren ein – pro Kopf der Bevölkerung sind das etwa genauso viel wie nach Baden-Württemberg. Im ersten Fall aus einem als sicher eingestuften Herkunftsstaat, im zweiten nicht. "Wir müssen die Perspektive wechseln", heißt es in einem Papier der österreichischen Asylkoordination. Wer sich zur Flucht entschlossen hat, lasse sich "von Beurteilung der Lage in seiner Heimat durch Regierungen in europäischen Hauptstädten nicht abhalten". Schweden und Italien verzichteten gänzlich auf jede Abstufung. Der Strom der Einwanderer aus der früheren jugoslawischen Teilrepublik bricht erst im April nach einer Anzeigenkampagne des österreichischen Innenministeriums ab, in der eine Erledigung aller Verfahren binnen zwei Wochen angekündigt wird.

In Deutschland dauern Asylverfahren am längsten

Unstrittig könnten nach der deutschen Rechtslage die Verfahren beschleunigt werden, wenn Bewerber aus einem Land auf der inzwischen wieder ziemlich langen Positivliste kommen. Was aber, gerade angesichts der bevorstehenden Wintermonate, kaum abschreckende Wirkung haben dürfte auf jene, die schon zum Aufbruch bereit sind. Vor allem, weil es noch immer die Aussicht statt auf zwei Wochen in Österreich auf fünf Monate in Deutschland gibt. In keinem anderen Land der EU ist die Verfahrensdauer länger – und das bedeutet, zumindest für diese Zeit ein Dach über dem Kopf zu haben und Essen zu bekommen, sich selbst und Kinder in Sicherheit zu wissen und vom Taschengeld vielleicht etwas sparen zu können für später.

Fachleute haben errechnet, dass das BAMF seine Beschäftigtenzahl von 2200 im Jahr 2014 mindestens verdoppeln müsste, um auch nur auf die angestrebten drei Monate Verfahrensdauer zu kommen. Einfach nachzuverfolgen ist anhand der EU-Statistik die Entwicklung, dass die Zahl der Asylanträge in Deutschland zwar schon seit acht(!) Jahren wieder steigt, dass aber personell nicht reagiert wurde. Immer in der falschen Annahme, lange Verfahren könnten abschrecken. Obendrein werden hierzulande im Vergleich mit anderen EU-Staaten auffallend viele negative Entscheidungen korrigiert. Die Bertelsmann-Stiftung urteilt in einer im Juni veröffentlichten Studie hart: Es sei davon auszugehen, "dass bei den Entscheidungen des BAMF beträchtliche Qualitätsmängel bestehen". Immerhin in 13 Prozent der Fälle urteilten Gerichte anders, besonders betroffen waren Flüchtlinge aus dem Iran und aus Afghanistan.

Dass Schmidt immer neue Ideen zur Verschärfung geltender Regelungen produziert, bringt nicht nur Hilfsorganisationen gegen das Amt auf. Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt sogar, nicht mehr allein die BAMF-Zahlen zur Beurteilung der Sachlage heranzuziehen, sondern auf europäische Daten zurückzugreifen. Denn Eurostat erfasst alle Verfahren, auch die vor Gerichten. 2014 hatten etwas mehr als 200 000 Menschen in der Bundesrepublik einen Asylantrag gestellt, noch aus dem Vorjahr anhängig waren weitere 134 000. Was belegt, dass die größte Herausforderung nicht darin liegt, politische Mehrheiten für die Ausweisung neuer sicherer Herkunftsländer zu organisieren, sondern in der Einstellung von mehr Personal. "Die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine wichtige humanitäre Aufgabe", sagt Jörg Dräger vom Stiftungsvorstand und drängt auf eine Beschleunigung der Verfahren und eine rasche Integration in den Arbeitsmarkt, weil dann die Bedenken "eher entkräftet werden, Deutschland stößt bereits jetzt an seine Belastungsgrenze".

Gerade an der Verfahrensdauer aber hat die Einstufung von Serbien, Bosnien, Mazedonien nichts geändert. Denn die hat sich, wie der Flüchtlingsrat bezogen auf alle Anträge analysierte, um gerade mal drei Tage verkürzt. Und in diesem Punkt wird ebenfalls alles andere als sauber argumentiert. Schmidt selber nennt eine Verkürzung von 7,1 auf 5,3 Monate. Was allerdings auf mehr Personal und die bevorzugte Behandlung der Staaten auf dem Balkan zurückzuführen ist. Dafür blieben andere Anträge liegen, darunter ausgerechnet jene von Syrerinnen und Syrern. Am längsten warten nach der offiziellen Statistik Pakistani mit fast 16 Monaten.

EU-weite Richtlinien gibt es längst

Die Brüsseler Experten kritisieren auch den Ruf nach europaweit gültigen Regelungen, am Wochenende sogar erhoben von der Kanzlerin. Denn schon seit zwei Jahren gilt die neue umfangreiche Asylverfahrensrichtlinie, aus der unter anderem hervorgeht, dass jeder Einzelfall ohnehin geprüft werden muss, selbst wenn das Herkunftsland als sicher bewertet wird: Es sei "wichtig, dass ein als sicher eingestuftes Land für einen Antragsteller nicht länger als solches gelten kann, wenn dieser aufzeigt, dass es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass das betreffende Land für ihn in seiner besonderen Situation nicht sicher ist".

Staaten, die davon abweichen und pauschale Ablehnungen einführen wollen, geraten überdies in Konflikt mit der Genfer Flüchtlingskonvention. Noch einmal Ungarn, das aktuell die meisten Einreisenden in der Union aufzunehmen hat und seit zwei Wochen eine vom Parlament beschlossene Pauschalregelung anwendet. "Es liegt nicht im Entscheidungsspielraum der ungarischen Behörden oder dem irgendeines anderen Staates, Asylsuchenden den Zugang zu einer Einzelprüfung ihres Antrags zu verwehren", urteilt Amnesty International und verlangt eine rasche Überprüfung dieser neuen Praxis. Denn alle EU-Staaten seien verpflichtet, "diejenigen zu unterstützen, die Asyl beantragen, und jeden Antrag von Fall zu Fall zu prüfen".

Politiker, vor allem von CDU und CSU, hindert das indessen nicht daran, immer neue Hürden zu fordern. Die Drohung mit Kontrollen an der Grenze zu Österreich hat sogar die EU-Kommission auf den Plan gerufen, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Bayern ist eingeleitet. Auch Innenminister Thomas de Maizière gab alle Zurückhaltung auf und verlangt "eine Debatte über europäische Standards der Menschenwürde und der Leistungen". Die Zahl der Flüchtlinge vom Balkan möchte er am liebsten "auf null" bringen und jenen, die sich mit Fluchtgedanken tragen, sagen: "Ihr habt keine Chance."

Da kann Thomas Strobl nicht zurückstehen. Der CDU-Landesvorsitzende, der in keiner seiner üppig verbreiteten Pressemitteilungen den Zusatz vergisst, dass er als stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion "für Innenpolitik zuständig" ist, fordert, anstelle von Bargeld wieder Sachleistungen auszugeben, außerdem drei neue sichere Herkunftsstaaten. Und fast täglich flickt er inzwischen Winfried Kretschmann am Zeug, nach der immer gleichen Melodie: "Seine Grünen verantworten, dass monatelang nichts passiert." Als könnte die Ökopartei neues Personal beim BAMF einstellen.

Was passiert beim nationalen Flüchtlingsgipfel im September?

Bleibt Kretschmann bei seiner Haltung, die Sinnhaftigkeit der Einstufung müsse belegt sein, verhallt jedoch auch dieser Appell ungehört. Zu Recht. Denn da gibt es nichts zu belegen. Allerdings könnte bis zum nationalen Flüchtlingsgipfel am 9. September in Berlin eine Situation ähnlich jener vor einem Jahr eintreten, in der ein neuer Kompromiss geboren wird: Einwanderungsgesetz plus Aufnahme von Kosovo, Albanien und Montenegro in den Katalog sicherer Staaten. Oder ein generelles Bleiberecht für Syrerinnen und Syrer? Oder deutlich mehr Geld vom Bund?

Anders als 2014 reichen die baden-württembergischen Stimmen allein im Bundesrat allerdings nicht mehr aus. Die Begehrlichkeiten der Union sind deshalb neuerdings zusätzlich an die Adresse der Grünen in der hessischen Landesregierung gerichtet. Im Nachhinein hatte der stellvertretende Ministerpräsident Tarek Al-Wazir durchblicken lassen, er hätte schon vor einem Jahr zustimmen können, diesmal müsste er, um die Mehrheit im Bundesrat herzustellen. Derzeit sieht er sich jedoch vor allem zunehmender Kritik wegen der immer voller werdenden Zeltcamps in sieben Städten ausgesetzt. Vor allem, weil die schon im vergangenen November in Kraft getretene Änderung des Baugesetzbuchs zur Errichtung von Unterbringungen in Gewerbegebieten bisher nicht genutzt wurde. Und bei richtiger Organisation sei Hessen noch lange nicht am Ende seiner Aufnahmekräfte, heißt es in der Diakonie.

Die Aufnahmequoten variieren enorm

Ein Satz, der für ganz Europa richtig ist, wobei es nicht nur um das schäbige Verhalten einzelner osteuropäischer Staaten geht. In der Slowakei kommen laut Eurostat 2015 auf 1000 Einwohner zwei Einreisende, in Ungarn sind es 676. Sondern es geht vor allem darum, zu stemmen, was im eigenen Verantwortungsbereich machbar ist. Österreich hat nach einer höchstpeinlichen Ohrfeige von Amnesty International für die unhaltbaren Zustände in einem Erstaufnahmelager mithilfe der oppositionellen Grünen ein Gesetz von Verfassungsrang auf den Weg gebracht: nicht um das Asylrecht zu verschärfen, sondern um die Verteilung der Menschen im Land neu zu regeln. Von 1. Oktober an muss jede Gemeinde mit mehr als 2000 Einwohnern 1,5 Prozent Flüchtlinge bezogen auf die Bevölkerung aufnehmen. Hochgerechnet auf die Bundesrepublik wären das 1,2 Millionen Menschen. Davon ist Deutschland insgesamt weit entfernt.

Stuttgart allerdings nicht. Die Stadt, die in ihren Sammelunterkünften nicht nur – bundesweit gelobt – ohne Container oder Zelte auskommt, dokumentiert auch ihre Zahlen vorbildlich. Die Bezirke Nord, Feuerbach, Mühlhausen, Untertürkheim oder Möhringen liegen im 1,5-Prozent-Bereich, der Westen, Cannstatt, Degerloch oder Hedelfingen leicht darunter. Die meisten Zuwanderer haben bisher in Stammheim, Wangen und Plieningen eine Bleibe gefunden, bei null liegt die Quote (noch) in Obertürkheim und Münster.

Die EU will jetzt eine Detailkarte für alle Mitgliedsstaaten fertigen. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, wie die für Überraschungen gerade unter selbst ernannten Aufnahme-Musterknaben sorgen wird.


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5 Kommentare verfügbar

  • muehue
    am 23.08.2015
    Antworten
    Zu Schwabes Link

    Wer den Artikel von Jens Berger erhellend findet, sollte auch den Beitrag des ehemaligen Richters Peter Vonnahme, der am gleichen Tag auf Telepolis erschien, beachten:

    http://www.heise.de/tp/artikel/45/45765/1.html

    Schönen Tag noch,

    Gabriel
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