KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Internationaler Roma-Tag

"Ich bin auch Rom"

Internationaler Roma-Tag: "Ich bin auch Rom"
|

Datum:

Auch wenn die letzten Zeitzeugen verschwinden, bleibt der NS-Völkermord für junge Sinti und Roma noch immer ein prägendes Ereignis. Wie sie damit umgehen, dieser Frage gehen dieser Tage mehrere Veranstaltungen in Stuttgart nach.

In ihrer Kindheit lebte Elisabeth Guttenberger in der Stöckachstraße im Stuttgarter Osten, wo sich heute das EnBW-Areal befindet. Ein schöner Stadtteil, schreibt sie im Auschwitz-Gedenkbuch, mit vielen Gärten und Grünflächen. Sie hatte vier Geschwister, ging in den katholischen Kindergarten St. Nikolaus, dann in die Grundschule Ostheim und spielte mit den Nachbarskindern, deren Väter Bauarbeiter und Handwerker waren. Dass sie und ihre Familie Sinti waren, spielte dort keine Rolle. "Niemand hat uns diskriminiert, alle waren freundlich zu uns", unterstreicht sie. "Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, so muss ich sagen, dass sie die schönste in meinem Leben war."

Ihr Vater Joseph Schneck handelte mit Violinen und Antiquitäten. Zuvor ist er im Stuttgarter Adressbuch in der Neckarstraße, dort wo später das Arbeitsamt war, als Schirmflicker verzeichnet. Sinti fanden kaum Zugang zu alten Handwerksberufen, nutzten aber findig die Lücken, die sich ihnen boten. Als Instrumentenhändler war Schneck anerkannt, Orchestermusiker kamen zu ihm. Manchmal fuhren große Autos vor, erinnerten sich Nachbarn später.

Elisabeth Guttenberger ist vor zwei Wochen im Alter von 98 Jahren verstorben. Sie war eine wichtige Zeitzeugin des NS-Völkermords an den Sinti und Roma, dem ihre gesamte Familie, über 30 Angehörige, zum Opfer fiel. "Man kann Auschwitz mit nichts vergleichen", gab sie im Auschwitz-Prozess 1965 zu Protokoll. Ihre Worte hallen im kollektiven Gedächtnis nach. Doch wie gehen junge Sinti und Roma heute damit um? Sie nehmen sich zum Beispiel ein Vorbild an denen, die Widerstand leisteten – auch davon wusste Elisabeth Guttenberger zu berichten.

Mit bloßen Händen gegen Maschinenpistolen

"Ich vergesse niemals den Tag, als der SS-Mann Buch zu uns in die Schreibstube kam und sagte, dass wir am nächsten Tag alle vergast werden sollten", erzählte sie am 16. Mai 2004 in einer Gedenkveranstaltung mit dem damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau in Berlin. Der 16. Mai 2004 war der sechzigste Jahrestag des Aufstands der Sinti und Roma im sogenannten "Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau.

Eine Gedenkstätte für Elisabeth Guttenberger

Sechs Stolpersteine für die Eltern und Geschwister von Elisabeth Guttenberger liegen seit 2008 in der Stöckachstraße 28. Einen weiteren für sie selbst hat bereits eine Schulklasse finanziert. Die Stuttgarter Schulrektorin Gudrun Greth möchte mehr: Elisabeth Guttenberger war eine wichtige Zeitzeugin. Wenn aus dem EnBW-Areal einmal der "Neue Stöckach" wird, meint Greth, sollte es dort einen Erinnerungsort für sie geben.  (dh)

"Wir waren wie gelähmt", fuhr Elisabeth Guttenberger fort, "denn wir sahen keinen Ausweg. Wie soll man sich mit bloßen Händen gegen Maschinenpistolen wehren?" Doch die Männer beschlossen, bis zum Äußersten zu gehen. "Im Gegensatz zu den meisten Menschen, die täglich in Auschwitz eintrafen, wussten wir genau, welches furchtbare Schicksal uns bevorstand. Daher waren unsere Leute, unter denen sich auch ehemalige Soldaten befanden, fest entschlossen, sich nicht ohne Widerstand in die Gaskammer führen zu lassen."

Mit aus einfachen Blechen hergestellten Messern und Stöcken setzten sich die Sinti- und Roma-Männer so erfolgreich zur Wehr, dass der erste Versuch, das Lager aufzulösen, abgebrochen werden musste. Nun wurden die starken, arbeitsfähigen Häftlinge selektiert und in andere Lager verschleppt. Auch Elisabeth Guttenberger – für die dies immer mit Schuldgefühlen verbunden blieb, da sie wusste: Die Zurückbleibenden werden ermordet.

Der Aufstand zeigte: Man kann sich wehren

Widerstand ist für den Landesverband der Sinti und Roma seit einiger Zeit ein zentrales Thema. Lange haben die traumatisierten Überlebenden in der Nachkriegszeit gebraucht, bis sie angefangen haben, sich gegen fortdauernde Diskriminierung zu wehren. Für die erste Generation der Aktiven um Romani Rose und den Zentralrat stand zunächst die Anerkennung des Völkermords im Mittelpunkt. Doch die Opferrolle bietet auf Dauer keine befriedigende Perspektive. Der Aufstand am 16. Mai 1944, den die Sinti und Roma heute als Resistance Day feiern, zeigt: Man kann sich wehren, noch in der aussichtslosesten Situation.

Unter dem Titel "Romani Voices – Resistance!" beleuchtet ein kleines Symposium am heutigen Mittwoch im Hotel Silber das Thema erstmals in breiter, europäischer Perspektive. Iulius Rostas, Gastprofessor in Bukarest, früher Leiter der Abteilung Romani Studies an der Central European University in Budapest, die dann auf Druck der Orbán-Regierung nach Wien umziehen musste, gibt einen Überblick über die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Forschungsperspektiven. Joanna Talewicz, Kulturanthropologin aus Warschau, berichtet über den Widerstands in Polen. Ihr Vater war Aktivist der Bürgerrechtsbewegung, mit der sich Daniela Gress von der Forschungsstelle Antiziganismus der Uni Heidelberg seit ihrer Masterarbeit beschäftigt.

Die Veranstaltung anlässlich des Internationalen Roma-Tags am 8. April steht am Anfang einer neuen Reihe unter dem Titel "Romani Voices – Sinti/Roma/Stimmen". Am zweiten Termin, dem 19. Juni, soll es um die Perspektiven und Handlungsspielräume von Frauen gehen, im Herbst um die kürzlich vorgestellte Enzyklopädie des NS-Völkermords an den Sinti und Roma in Europa.

Das größte Festival seiner Art in Europa

Ebenfalls anlässlich des Roma-Tags veranstaltet das Theater am Olgaeck in Stuttgart nun schon zum fünften Mal ein Festival, das größte seiner Art in Europa, sagt die Leiterin Nelly Eichhorn. Musik, Gesprächsrunden, Workshops, Filme, Theater: Das Programm ist breit und niederschwellig angelegt. Der Gitarrist Mano Guttenberger, der bereits zur Eröffnung am 6. April gespielt hat, wird noch ein zweites Mal am 12. April mit einer anderen Gruppe auftreten, er wird Rudolf Guckelsberger begleiten, wenn dieser Geschichten des russischen Schriftstellers und Revolutionärs Maxim Gorki vorträgt. Und am 17. April will er in einem Workshop die Geheimnisse des Jazz Manouche à la Django Reinhardt auch Anfänger:innen vermitteln.

Um den Sinto-Boxer Johann Rukeli Trollmann geht es in dem Stück "Der Fall Trollmann". Antonio Vaca Lagares spielt einen Freund von Trollmann, der sich nach dem Krieg an ihn erinnert. Nelly Eichhorn hat ein Dreivierteljahr recherchiert und das Einpersonenstück selbst inszeniert, das am 19. April im Theater am Olgaeck uraufgeführt wird.

Trollmann ist für viele ein Held. 1933 wurde er deutscher Meister im Halbschwergewicht. Ein Sinto schlägt einen kruppstahlharten Arier nieder: Das passte den Nazis nicht ins Bild. Wegen "undeutschen Boxens" wurde ihm der Titel aberkannt. Erst 70 Jahre später nahm der Bund Deutscher Berufsboxer die Entscheidung zurück. Über Trollmann gibt es bereits einen Film mit Hannelore Elsner als Mutter des Boxers und ein Theaterstück von Felix Mitterer, das sich Nelly Eichhorn in Wien angesehen hat. Aber sie findet, weniger ist mehr. Sie will den eigenen Vorstellungen der Zuschauer:innen mehr Raum lassen.

Sinto-Boxer Trollmann ließ sich nicht alles gefallen

Ein erster Blick in die Proben bestätigt: Nur mit seiner Erzählung und seinen Bewegungen auf der Bühne gelingt es Lagares, die Geschichte lebendig werden zu lassen. Auch ohne die historischen Boxhandschuhe, die noch nicht eingetroffen sind, und die Einspielungen historischer Filmausschnitte, die der Geschichte ein wenig Zeitkolorit verleihen sollen. Der Schauspieler hat tatsächlich einmal in einem Verein geboxt, er weiß, wie sich ein Boxer bewegt.

Trollmann war ein Opfer der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Trotzdem hat er sich nicht alles gefallen lassen. Als Soldat eingezogen, wurde er 1942 entlassen und ins KZ eingeliefert. Juden und Sinti, die Boxer waren, mussten dort SS-Männer trainieren und Schaukämpfe aufführen. Emil Cornelius, ein Kapo, der gegen ihn antrat, provozierte ihn. Trollmann gab ihm eins auf die Nase. Cornelius erschlug ihn anschließend mit einem Knüppel. Er blieb unbestraft. Einem Augenzeugen schenkte das Gericht nach dem Krieg keinen Glauben. Der Grund: Er war Sinto.

Mit der jüngeren Generation der Sinti und Roma heute beschäftigt sich "Wir sind hier!", ein neuer Film der Pfarrerin und Filmemacherin Silke Stürmer, der am Sonntag, den 14. April Premiere feiert. Der Titel stammt von einem Bildungsprogramm und Theaterstück in Berlin, Brandenburg und Sachsen. In Stürmers Film geht es um Diskriminierungserfahrungen: in der Schule, bei der Wohnungssuche, im Restaurant. Wie gehen junge Sinti und Roma in Berlin oder Stuttgart damit um? Stürmer hat auch einen jungen Mann zur Gedenkstätte nach Auschwitz begleitet.

Elisabeth Guttenberger würde ihre Freude daran haben. Bis zuletzt hat sie sich in der Bildungsarbeit engagiert. Sie hat davon profitiert, dass ihr Vater, der viele Bücher besaß, auf die Schulbildung seiner Kinder Wert legte. Sonst wäre sie nicht in der Schreibstube gelandet und hätte Auschwitz eher nicht überlebt. Und sie hätte nicht ihre Aussage im Auschwitz-Prozess eingereicht: Schriftlich, da sie ehemaligen Beamten des NS-Staats, die es in der Justiz immer noch gab, nicht gegenübertreten wollte.

2008 entdeckte Gudrun Greth, die Rektorin der Ostheimer Schule, in Auschwitz Guttenbergers Klassenfoto. Sie lud sie ein, an ihre ehemalige Schule zu kommen, um mit ihren Schüler:innen ihre Geschichte aufzuarbeiten. Diese verlegten Stolpersteine für die Familie Schneck: ein preisgekröntes Projekt. Mehrmals kam es vor, dass ein Schüler oder eine Schülerin aufstand und sagte: "Ich bin auch Rom." Oder Romni. Und die anderen fielen aus allen Wolken: "Was, du?"

Genau das ist mit dem Titel des Films, des Berliner Bildungsprojekts und Theaterstücks gemeint: Eine heutige Generation von Sinti und Roma will sich nicht länger verstecken. "Wir sind hier!" meint: Sinti, die seit 600 Jahren in Deutschland leben, und Roma, zum Teil auch schon seit über 100 Jahren, wollen ein Ende der Diskriminierung. Sie fordern Anerkennung und gleiche Bildungschancen. Das wäre mehr als überfällig.
 

Das Symposium "Romani Voices – Resistance!" am heutigen Mittwoch, 10. April im Hotel Silber beginnt um 19 Uhr, Info hier. Zum Programm des Roma-Tag-Festivals im Theater am Olgaeck (läuft noch bis 21. April) geht es hier.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!