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Demokratische Defizite

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Wahlaufrufe haben Hochkonjunktur, nicht jedoch bei der Initiative Mitmachen ohne Mitzuspielen. Ihr Vorhaben klingt kurios: Mit ihrem Aufruf, das Nichtwählen sei ebenfalls legitim, wollen sie die Demokratie demokratisieren.

Mitten im Stuhlkreis steckt eine Sonnenblume in einer blauen Vase, sie macht einen etwas geknickten Eindruck. Drum herum sitzen rund 40 Menschen, darunter auch fünf aktive Mitglieder bei der Initiative Mitmachen ohne Mitzuspielen. Sind das alle? Nein, sagt Konrad Nestle, einer ist im Urlaub. Der Deutsch- und Lateinlehrer im Ruhestand findet es nicht so entscheidend, wie viele Menschen sich für etwas einsetzen: "Wichtiger ist doch die Frage, ob das, was sie fordern, sinnvoll ist." Interessierte lädt der Mann mit dem krausen grauen Haar daher ein, mal bei den offenen Debatten des von ihnen gegründeten Demokratie-Forums der Empörten und Engagierten mit der sperrigen Abkürzug DemFEmpEng vorbeizuschauen. Benannt haben sie sich in Anlehnung an die Schriften des ehemaligen französischen Résistance-Kämpfers und Diplomaten Stéphane Hessel.

Hier wollen Konrad Nestle und seine Mitstreiter diskutieren, über den Zustand der Demokratie in Deutschland, den Abbau von Freiheitsrechten, der Beteiligung an Kriegen, Waffenexporte, ausufernden Lobbyismus, die Grenzen wirtschaftlichen Wachstums. Und am vergangenen Donnerstag im Stuttgarter Forum 3 über das Wahlsystem, das sie als ungerecht betrachten und daher ablehnen. Während man sich in Deutschland zwar "verglichen mit vielen anderen Ländern auf einem hohen Niveau" beschwere, gebe es dennoch "vor der eigenen Haustüre einiges zu kehren".

Den Parteien, auch den sogenannten Sonstigen, haben die Empörten und Engagierten daher Anfang Juni einen Fragekatalog zu den Themen Fünf-Prozent-Hürde, Berufspolitiker, Parteienfinanzierung und Direkte Demokratie zugeschickt. Geantwortet haben, wenn auch unterschiedlich umfangreich, alle, mit Ausnahme von CSU und AfD. Zur Präsentation der Ergebnisse ließ sich jedoch kein einziger Vertreter einer (angehenden) Bundestagspartei blicken. Stattdessen aber Kandidaten der Piratenpartei, des Bündnis' Grundeinkommen, der Partei Mensch Umwelt Tierschutz, der Ökologisch-Demokratischen Partei und der wenig bekannten Transhumanen Partei.

All diesen Klein- und Kleinstparteien wird die Möglichkeit, im Bundestag mitzuwirken, durch die im Wahlrecht verankerte Fünf-Prozent-Hürde genommen. Wenn die Wahlberechtigten am 24. September ihr Kreuz machen, wird nach den aktuellen Prognosen etwa jede zwanzigste abgegebene Stimme keine Berücksichtigung im Parlament finden. Bei einer unterstellten Wahlbeteiligung von 75 Prozent betrifft das mehr als 2,3 Millionen Menschen, für die ein zentraler Grundsatz des deutschen Wahlrechts außer Kraft gesetzt wird. Alle Stimmen sind gleich – aber manche sind gleicher.

Bei den vergangenen Bundestagswahlen sind sogar 6 859 439 Stimmen unberücksichtigt geblieben. Das ist mehr als ein Achtel und damit ein historischer Höchststand. Berücksichtigt man die große Gruppe der Nichtwähler, ist das bestehende Parlament nicht einmal von 60 Prozent der Wahlberechtigten legitimiert. Im Anschluss forderten namhafte Politologen, Staatenrechtler und sogar ehemalige Bundesverfassungsrichter, die Hürde abzuschaffen oder zumindest abzusenken.

Schwieriges Standing

Während das Bundesverfassungsgericht eine solche Sperrklausel bei Europawahlen seit 2011 <link http: www.der-postillon.com bundestag-plant-neue-299999999999999.html external-link-new-window>mehrmals als verfassungswidrig außer Kraft setzte, erklärte es Prozent-Hürden auf Bundesebene für grundsätzlich verfassungsgemäß. Laut Begründung sei dies gestattet, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu sichern. <link http: www.servat.unibe.ch dfr bv082322.html external-link-new-window>In dem Urteil von 1990 betonten die Verfassungsrichter allerdings auch, es stehe dem Gesetzgeber ebenso "frei, auf eine Sperrklausel zu verzichten, deren Höhe herabzusetzen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen." Ferner lässt sich dort lesen: "Die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Gleichheit kann nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden."

Womöglich wäre es also an der Zeit, die Regelung beinahe 30 Jahre nach dem Urteil erneut auf den Prüfstand zu stellen. Denn während zur Begründung der Sperrklausel gerne negative Erfahrung aus der Weimarer Republik ins Feld geführt werden, existiert kein eindeutiger Beleg dafür, dass die Funktionsfähigkeit des Bundestags durch eine Herabsetzung oder auch Abschaffung der Hürde konkret gefährdet wäre. Stattdessen gibt es aber im europäischen Ausland Gegenbeispiele, etwa die Niederlande, wo auf 150 Sitzen im Parlament ganze zwölf Parteien vertreten sind – was die Gesetzgebungsprozesse zum Teil aufwändiger und langwieriger gestaltet, aber nicht verhindert.

Dieses Beispiel führt Matthias Ebner gerne an, der Bundesvorsitzende der Partei für Mensch Umwelt Tierschutz und am vergangenen Donnerstag mit dabei bei der Diskussion im Forum 3. Denn die niederländischen Kollegen der Partij voor de Dieren haben 2012 den Einzug ins Parlament mit zwei Sitzen und 1,3 Prozent der abgegeben Stimmen geschafft und sich innerhalb einer Legislaturperiode auf 3,2 Prozent und fünf Sitze steigern können. "Wenn man vorweisen kann, welche Anfragen und Anträge man als Partei gestellt hat, ist es natürlich viel leichter, für seine Positionen zu werben", sagt er. Letzteres ist für Klein- und Kleinstparteien ohnehin eine große Herausforderung. Denn hinzukommt, dass das mediale Interesse an den sogenannten Sonstigen ohnehin überschaubar ist, und wenn überhaupt berichtet wird, dann häufig herablassend oder belächelnd. Exemplarisch dafür ist ein Format von Spiegel-TV, das unter dem Titel "Politik bizarr" zeigt, wie Kleinstparteien um Stimmen werben.

Ernste Anliegen und bereichernde Visionen

Dabei gibt es neben exotischen Sonderlingen, die eine dankbare Zielscheibe für Spott darstellen, ebenso zahlreiche Anliegen in den Parteiprogrammen der Sonstigen, die ausführlicher und, im Sinne einer pluralistischen Demokratie, mit deutlich mehr Stimmen und Positionen diskutiert werden könnten. Etwa der Kampf für <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik kampfansage-an-den-lobbyismus-4369.html internal-link-new-window>mehr Transparenz im Bundestag und gegen überbordenden Lobbyismus, oder gegen den fliegenden Wechsel vom politischen Amt in Unternehmensvorstände. Oder ein "Paradigmenwechsel im Bildungssystem durch individuelle Förderung persönlicher Interessen und intrinsischer Motivation, weitgehend unabhängig von wirtschaftlichen Interessen", wie ihn der Transhumanist Marcel Mayr fordert. Pirat <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik pirat-harald-hermann-1090.html internal-link-new-window>Harald Hermann, Direktkandidat im Wahlkreis Stuttgart II, beklagt in der Stuttgarter Diskussionsrunde, dass er und seine Partei medial weitgehend ignoriert würden, obwohl sie noch vor wenigen Jahren in mehreren Landtagen vertreten waren. Und obwohl sie sich klarer als alle anderen gegen <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik gefaehrder-hinter-jedem-busch-4592.html internal-link-new-window>zunehmend ausufernde staatliche Überwachung positionieren würden.

Im Gegensatz dazu ist Peter Jakobeit, stellvertretender Landesvorsitzender der <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik zu-wenig-kohle-in-der-tasche-4151.html internal-link-new-window>erst wenige Monate alten Ein-Themen-Partei Bündnis Grundeinkommen zufrieden mit der öffentlichen Resonanz: Es gebe sogar mehr Berichterstattung als gedacht. Er rechnet mit einem Ergebnis von etwa einem Prozent bei der Bundestagswahl für seine Partei. Es gehe nicht um den schnellen Erfolg, wichtiger sei ihm und seinen KollegInnen zunächst, das Thema Grundeinkommen stärker im demokratischen Diskurs zu verankern. "Die Menschen, mit denen wir über das Thema sprechen, sind meistens direkt angetan", erzählt er. Zwar gebe es Skeptiker, die das Projekt als utopisch abstempeln würden. Doch sobald Menschen beginnen, darüber nachzudenken, was sich für sie verändern könnte, wenn eine Grundsicherung gewährleistet wäre, sei das erste Ziel erreicht. "Wir wollen einen Kulturimpuls geben", sagt Jakobeit, "für eine positive gesellschaftliche Vision" – hin zu einer Arbeits- und Sozialpolitik, die Menschenwürde und Selbstverwirklichung in den Vordergrund rückt. An der Basis bei den Grünen und den Linken rumore es da schon heute gewaltig, dem Thema mehr Raum zu geben und es fest ins Programm zu nehmen.

So diskutierten am Donnerstag Grundeinkommler Jakobeit, Pirat Hermann, Tierschützer Ebner und Transhumanist Marcel Mayr gemeinsam mit einem kleinen, aber interessierten und informierten Publikum rund zwei Stunden lang deutlich spannendere Themen als beispielsweise die <link https: www.kontextwochenzeitung.de medien verlierer-waren-die-zuschauer-4583.html internal-link-new-window>Kanzlerkandidaten im TV-Duell vor einem Millionenpublikum. Und das erfreulich undogmatisch und ohne den krampfhaften Zwang, in jedem zweiten Nebensatz auf vermeintliche Erfolge ihrer Partei rekurrieren zu müssen. Gerade mehr Raum für die Kleinen könnte belebend wirken auf eine Parteienlandschaft, der gerne Schnarchnasigkeit attestiert wird, und politisch Ermüdeten bessere Alternativen bieten als <link https: www.heise.de tp features afd-keiner-kann-mehr-sagen-von-alldem-nichts-gewusst-zu-haben-3834973.html external-link-new-window>Rechtsradikalismus mit faschistoiden Tendenzen.

Konrad Nestle ist jedenfalls rundum zufrieden mit der Diskussionsrunde. Bis vor Kurzem, erzählt er, waren sie entschiedene Nichtwähler und hätten auch explizit dazu aufgerufen – etwa bei der vergangenen Landtagswahl und der Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart. Und das finden sie auch weiterhin völlig legitim. Denn das sei nicht zwangsläufig ein Ausdruck politischen Desinteresses, es könne auch eine grundlegende Ablehnung eines Wahlsystems ausdrücken, welches den Machterhalt der Etablierten auf Kosten parlamentarischer Vielfalt zementiere. Diesmal, sagt Konrad aber, werde er seine Stimme doch abgeben.


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4 Kommentare verfügbar

  • Philipp Horn
    am 20.09.2017
    Antworten
    Nicht wählen stärkt die AfD!
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