Susanne Jallow wohnt mit ihrem siebenjährigen Sohn Amadou rund 100 Meter vom Neckartor entfernt: sie selbst seit 14 Jahren, ihr Sohn, seit er auf der Welt ist. "Es ist eigentlich ein schönes Wohnviertel, in dem sehr viele Familien mit Kindern leben", sagt sie. "Das Gebiet hat zu Unrecht einen schlechten Ruf." Wenn da nicht das Problem mit dem Feinstaub wäre. Um mit ihrem Sohn in den Schlossgarten zu gelangen – die einzige größere Grünfläche weit und breit –, muss sie wie alle anderen, die in dem Quartier wohnen, den Fußgängersteg überqueren, unter dem das Messgerät steht, das seit Jahr und Tag die höchsten Feinstaubwerte Deutschlands ausspuckt. "Ich informiere mich über das Problem von Anfang an", erzählt Susanne Jallow, "und beobachte mit großer Sorge und zunehmendem Zorn, dass die Verantwortlichen keine ausreichenden Maßnahmen ergreifen, sondern das Problem nur vor sich her schieben." Selbstredend nimmt sie an der <link https: old.kontext-wochenzeitung.de fileadmin user_upload demo_gegen_feinstaub.pdf _blank download>nächsten Demo gegen Feinstaub in Stuttgart teil.
Mittlerweile sind es schon sieben Jahre: Seit dem 1. Januar 2005 gilt laut 22. Bundes-Immissionsschutzverordnung (BImSchV), welche die EU-Richtlinie 1999/30/EG in deutsches Recht umsetzt, dass die Feinstaubkonzentration der Luft einen mittleren Tageswert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft nicht öfter als 35-mal im Jahr überschreiten darf. Ebenso lange zeigt das Messgerät am Neckartor Jahr für Jahr sehr viel mehr Überschreitungen an: 2005 an 187 Tagen, doch auch 2008 und 2011, in den bisher glimpflichsten Jahren, noch an 89 Tagen im Jahr, das heißt zweieinhalbmal so oft wie zulässig. Im bundesweiten Vergleich sind dies Spitzenwerte. Dieses Jahr war der Grenzwert schon bis zum 11. März an 34 Tagen überschritten.
Als Feinstaub gelten Partikel in einer Größe von bis zu 10 Mikrometer (PM 10). Medizinische Untersuchungen zeigen, dass dieser besonders feine Staub und Ruß die Gesundheit in höherem Maße schädigt als gröbere Partikel, weil er ungehindert bis in die Lunge vordringen kann. Kinder sind besonders gefährdet, sogar schon im Mutterleib. In unmittelbarer Nähe der B 14 gibt es zahlreiche Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen, bis hinauf zur Hauptstätter Straße, die mit Sicherheit nicht weniger belastet ist. Susanne Jallow erinnert an das Zeppelin-Gymnasium und das Königin-Katharina-Stift und fragt sich, wie stark die Kindertagesstätte der Friedensgemeinde betroffen ist. "Das sind unsere Kinder, die man von Anfang an dieser Gefahr aussetzt."
Direkteinspritzer produzieren mehr Feinstaub als Diesel
Feinstaub setzt sich aus unterschiedlichsten Bestandteilen zusammen: Asche von weit entfernten Vulkaneruptionen zählt ebenso dazu wie Pollen von Pflanzen der näheren und weiteren Umgebung oder bei entsprechender Windrichtung Staub aus der Sahara. Neben solchen natürlichen Ursachen spielt aber vor allem die Verbrennung eine Rolle: also die Emissionen von Heizungen, Kraftwerken, Industriebetrieben und eben auch von Verbrennungsmotoren. Als Verursacher galten bisher nur Dieselmotoren. Susanne Jallow korrigiert: "Eine neuere Untersuchung des ADAC hat gezeigt, dass inzwischen die ganz neuen Benzin-Direkteinspritzer mehr Feinstaub produzieren als Dieselfahrzeuge. Die bekommen aber ungeprüft eine grüne Plakette und dürfen in alle Umweltzonen einfahren." Wenn also schwarze Rauchwolken aus dem Auspuff eines Alt-Lkw Artikel zum Feinstaub illustrieren, führt dies gleich zweifach in die Irre: Für den Feinstaub sind keineswegs nur die Dieselmotoren verantwortlich. Was aber als Qualm sichtbar wird, ist nur der grobe Ruß, der bei neueren Dieselfahrzeugen kaum noch anfällt.
Damit ist das Problem aber noch nicht gelöst. Werden allerdings die Grenzwerte nicht eingehalten, sieht die EU-Richtlinie vor, dass ein Aktions- und Luftreinhalteplan aufzustellen ist: Der Luftreinhalteplan schreibt Maßnahmen vor, die zu ergreifen sind, um eine entsprechende Luftqualität zu erreichen. Der Aktionsplan bestimmt, was zu unternehmen ist, wenn die Werte dennoch überschritten werden. Zuständig ist das Regierungspräsidium. Nun hatten bereits 2005 zum ersten Mal zwei am Neckartor ansässige Bürger gegen die Stuttgarter Behörde geklagt und recht bekommen. Das Verwaltungsgericht verdonnerte damals das Regierungspräsidium, sofort einen Aktionsplan aufzustellen, was dann auch geschah. Der Plan sah ab 1. Januar 2006 ein Lkw-Durchfahrverbot vor und zu einem späteren Zeitpunkt die stufenweise Einführung der sogenannten Umweltzonen. Seit 1. März 2008 dürfen nur noch Fahrzeuge mit Plakette – rot, gelb oder grün – nach Stuttgart einfahren, seit 1. Juli 2010 nur noch die mit gelber und grüner und seit 1. Januar diesen Jahres nur noch solche mit grüner Plakette. Das Lkw-Durchfahrverbot wurde zwischenzeitlich aufgehoben, 2010 jedoch wieder eingeführt.
Denn erneut hatte das Verwaltungsgericht 2009 auf die Klage eines Bürgers geurteilt, der bisherige Aktionsplan des Regierungspräsidiums sei völlig unzureichend. Die Fortschreibung des Luftreinhalte- und Aktionsplans aus dem Jahr 2010 sieht daher wieder ein Lkw-Durchfahrverbot vor und dazu eine Reduzierung der Geschwindigkeit von 60 auf 50 km/h auf der gesamten Strecke der B 14 vom Schwanenplatztunnel bis zum Marienplatz. Und das war noch nicht alles: Das Regierungspräsidium gab Gutachten und Untersuchungen in Auftrag, startete 2007 einen Versuch mit einer Feinstaubkehrmaschine und, wie in der Fortschreibung des Aktionsplans im Winter 2010/2011 vorgesehen, mit einem Feinstaubkleber, dem Bindemittel Calcium-Magnesium-Acetat. Mit dem kaum überraschenden Ergebnis, dass alle Bemühungen zu keinem nennenswerten Resultat führten.
Verzweifelte Versuche mit Kehrmaschine und Kleber
Denn dass die Umweltzonen die Situation zwar verbessern würden, aber nicht in ausreichendem Maße, war von vornherein klar. Bereits 2005 hatte das Zentrum für Umweltmessungen, Umwelterhebungen und Gerätesicherheit (UMEG) in Karlsruhe, die heutige Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz (LUBW), welche die Messgeräte aufstellt und die Ergebnisse auswertet, einen Bericht für das Jahr 2004 vorgelegt, aus dem hervorging, dass der Feinstaub am Neckartor nur zu einem Sechstel aus Auspuffabgasen stammte: Die Hälfte kommt aus der weiträumigen Umgebung. Und von der anderen Hälfte, für die also der Verkehr auf der B 14 zuständig ist, sind dieser Untersuchung zufolge zwei Drittel auf Reifenabrieb, Straßenabrieb und Bremsabrieb zurückzuführen. Selbst mit Elektroautos ließen sich folglich die Grenzwerte niemals einhalten. Dies war der Grund für die verzweifelten Versuche mit Feinstaubkehrmaschine und Feinstaubkleber, die aber ohne greifbares Ergebnis blieben.
Nun hat ein neueres Gutachten des Ingenieurbüros Lohmeyer aus dem Jahr 2010 auf der Grundlage anderer Modellierungsverfahren zwar ein anderes Ergebnis erbracht. Demnach stammt der Feinstaub aus lokalem Verkehr nicht zu zwei Dritteln aus den verschiedenen Abrieben und Aufwirbelungen, sondern nur zu 40 Prozent. Der Anteil der Auspuffabgase an den Feinstaubemissionen zeigt sich im Übrigen auch daran, dass die Zahl der Tage, an denen die Grenzwerte überschritten wurden, seit Einführung der Umweltzonen zurückgegangen ist: um rund ein Drittel, wenn man die Jahre 2004 bis 2006 mit den Jahren 2007 bis 2011 vergleicht. Dies bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass Umweltzonen und Lkw-Durchfahrverbot nicht ausreichen.
Mehr Messgeräte wären zu teuer gewesen
Unbezweifelbar ist, dass die Stadtluft in Stuttgart im Vergleich zu früheren Zeiten durch Maßnahmen wie die Rauchgasentschwefelung von Kraftwerken sehr viel sauberer geworden ist und dass auch die Emissionen der Dieselmotoren dank Partikelfilter, Abgasrückführung und SCR-Katalysatoren stark zurückgegangen sind. Aber das Feinstaubproblem besteht fort, und zwar keinesfalls nur am Neckartor, sondern auf der gesamten Länge der B 14 bis zum Marienplatz, ebenso auf der B 10 am Neckarufer und bis hinauf zum Pragsattel sowie auf der Heilbronner Straße und der Hohenheimer Straße. Auch noch an der Staatsgalerie, am Charlottenplatz und am Marienplatz Messgeräte aufzustellen wäre schlicht und einfach zu teuer gewesen.
Nun hat im vergangenen Jahr erneut ein Bürger geklagt. Im September stimmte daraufhin das Regierungspräsidium einem Vergleich zu. Die Behörde verpflichtete sich, bis Ende des Jahres über eine Reduktion der Geschwindigkeit auf 40 km/h im gesamten Stadtgebiet und vor allem am Neckartor zu entscheiden. Andernfalls müsse das RP eine ausführliche schriftliche Begründung vorlegen. Doch es kam nicht zu Tempo 40. Die Begründung liegt vor, sie ist in Teilen nachvollziehbar: Auch eine Herabsetzung der Geschwindigkeit auf 40 km/h wird nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Für diesen Fall hat sich das Land in dem Vergleich allerdings verpflichtet, bis Ende März über die Festsetzung weiterer verkehrsbeschränkender Maßnahmen zu entscheiden.
Ulrich Reuter, der Leiter der Abteilung Stadtklimatologie im Amt für Umweltschutz, gibt offen zu, dass mit dem derzeitigen Verkehrsaufkommen von 80 000 und mehr Fahrzeugen am Tag die EU-Grenzwerte seiner Meinung nach nicht einzuhalten sind. Auf Anfrage der Bürgerinitiative Neckartor, um wie viele Fahrbewegungen man den Verkehr am Neckartor verringern müsse, damit die gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte dort dauerhaft unterschritten werden, gab Reuter zu Protokoll, seines Erachtens müsse der Verkehr mindestens halbiert werden.
Ehernes Gesetz der "autogerechten Stadt"
Das Regierungspräsidium steckt nun in der Zwickmühle. Topografie und Klima, geringe Luftbewegung und häufige Inversionswetterlagen führen in Stuttgart dazu, dass sich die Emissionen gerade an der Nordseite des Talkessels sammeln. Seit dem Umbau zur "autogerechten Stadt" in der Nachkriegszeit gilt aber zugleich unausgesprochen das eherne Gesetz, dass der Talkessel den Autoverkehr mit offenen Armen zu empfangen habe. Unter dieser Voraussetzung lässt sich das Feinstaubproblem nicht lösen. Die Alternative wäre eine Verkehrsplanung, die den öffentlichen Verkehr bevorzugt. Der funktioniert in Stuttgart immerhin so gut, dass, einer neueren Untersuchung zufolge, 44 Prozent der Stuttgarter Bürger mittlerweile ihre täglichen Wege lieber mit Bahn und Bus zurücklegen: gegenüber 2005 eine Steigerung um 25 Prozent. Schwieriger ist dies in den Außenbezirken und im Umland. Hier liegt einer der Gründe für das hohe Verkehrsaufkommen. Gegenzusteuern wäre die erste Aufgabe einer grünen Verkehrspolitik.
"Der Verkehr muss weniger werden", meint auch Susanne Jallow. "Ich habe schon alle Ämter angerufen", ärgert sie sich, "man wird nur von einem zum anderen verwiesen." Aber es müssen nicht unbedingt Zwangsmaßnahmen wie eine City-Maut sein. Jallow erinnert an das belgische Städtchen Hasselt, wo der Omnibusverkehr seit 1997 kostenlos ist: Das Fahrgastaufkommen ist dort seither auf das Dreizehnfache gestiegen. Die Kosten für den öffentlichen Verkehr liegen zweieinhalbmal so hoch wie vorher, aber das sind immer noch nicht mehr als 18 Euro pro Jahr und Steuerzahler. Zugleich kommen 30 Prozent mehr Menschen aus dem Umland in die Stadt: Die Umsätze der Einzelhändler sind entsprechend gestiegen.
Aber für solche weit reichenden Maßnahmen fehlen offenbar der Stadt und der grün-roten Landesregierung der Mut, der politische Wille oder die Konzepte. Das Regierungspräsidium jedenfalls scheint der Meinung zu sein, mit der bisherigen Salamitaktik weiter wirtschaften zu können. Nicht mehr als minimale Kosmetik sind die zwei verkehrsbeschränkenden Maßnahmen, welche die Behörde nun zum Stichtag 31. März vorgesehen hat, wie vor Gericht im September vereinbart: Tempo 40 auf der Hohenheimer Straße und eine Pförtnerampel an der B 14, die den Verkehr "verstetigen" soll. Damit wird allenfalls ein Teil des Feinstaubaufkommens am Messgerät Neckartor an der Kreuzung Cannstatter/Heilmannstraße künftig 150 Meter weiter in Richtung Innenstadt verlagert. Wenn man weiß, dass die Anzahl von 35 Tagen, an denen das Feinstaublimit überschritten werden darf, Ende März bereits überschritten war und die Situation an der Staatsgalerie oder am Marienplatz, auch wenn dort kein Messgerät steht, keinen Deut besser ist, ein geradezu klägliches Eingeständnis des eigenen Versagens.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!