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100 Jahre Süddeutscher Rundfunk

Drahtlos ins Wohnzimmer

100 Jahre Süddeutscher Rundfunk: Drahtlos ins Wohnzimmer
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Neue Medien verändern die Welt. Oder jedenfalls die Wahrnehmung. So war es vor 100 Jahren, als der Süddeutsche Rundfunk in Stuttgart seinen Sendebetrieb aufnahm. Und später, als das Radio aufhörte, Leitmedium zu sein und Begleitmedium wurde.

Alfred Bofinger, der erste Direktor der Süddeutschen Rundfunk AG (Sürag), erkannte frühzeitig die Möglichkeiten des neuen Mediums: In ganz Deutschland steckte 1923 der Rundfunk in den Startlöchern, kam jedoch wegen der Inflation nicht in Gang. Dann gingen im ganzen Deutschen Reich, angefangen mit der Berliner Funk-Stunde, innerhalb eines Jahres neun Sender an den Start, darunter am 11. Mai 1924 die Sürag.

Alfred Bofinger 1924. Foto: SWR-Archiv

Nazi oder Gegner?

Nach der Gleichschaltung des Rundfunks 1933 blieb Alfred Bofinger als einziger der Vorstände im Amt und war zumindest nominell der Intendant des neuen Reichssenders Stuttgart. Von 1940 bis 1944 arbeitete er als Gruppenleiter für den Rundfunk im besetzten Frankreich. Er soll aber auch Kontakte zu General Carl-Heinrich von Stülpnagel aus dem Kreis der Stauffenberg-Attentäter gehabt haben. Als der SDR-Intendant Fritz Eberhard (SPD), geboren 1896 als Hellmut Baron von Rauschenplat, 1954 wiedergewählt werden sollte, brachten Gegner erneut Bofinger als Gegenkandidaten in Stellung. "Der Spiegel" schrieb damals: "Bofinger ist nicht belastet. Das Spruchkammer-Urteil singt auf sechs Seiten ein Loblied auf diesen braven Rundfunkmann." Doch Eberhard behielt schlussendlich seinen Posten. Laut SWR ist die Rolle Bofingers in der NS-Zeit "bis heute ungeklärt"(dh)

"Was kann man durch den Rundfunk bringen?", fragt Bofinger in einem Vortrag zu Beginn seiner zwanzigjährigen Amtszeit. "Die Antwort ist sehr einfach: 'Alles!'" Im Einzelnen nennt er Politik, Religion, Philosophie, Physik, Astronomie und Dichtung, ja sogar die bildenden Künste. Denn die Sprache sei "eine solch universelle Vermittlerin menschlichen Denkens und menschlicher Anschauung, dass es schlechterdings nichts gibt, das sie nicht zu benennen, zu umschreiben, kurz, in irgendeiner Form zu ergreifen vermöchte".

Heute, wo fast jede:r ständig in sein oder ihr mobiles Endgerät tippt und schaut, fällt es schwer, sich eine Welt vorzustellen, in der es noch kein Internet, kein Fernsehen, ja nicht einmal Radio gab. Jedes dieser Medien hat die Wahrnehmung der Welt nachhaltig verändert, wie die Geschichte des Südfunks – so wurde der Sender intern immer genannt – zeigt. In der Kultur fuhr das Radio im Lauf der Jahrzehnte einen Zickzackkurs zwischen höchsten Ansprüchen und billiger Unterhaltung. Die Politik hat dagegen immer darauf geachtet, die Kontrolle zu behalten.

Hochkarätiges Programm auch für die einfachste Hütte

Bofinger, 1891 als Sohn eines Fabrikanten in Stuttgart geboren, war ein Kulturmensch. Er hatte in München, Leipzig und Paris Literatur-, Musik- und Theaterwissenschaft studiert und über die "Psychologie der theatralischen Darstellungsmittel" promoviert. Mit Gleichgesinnten traf er sich im Stuttgarter Café Reinsburg: ein Treffpunkt der Literaten. Zu diesen gehörte Theodor Wanner, der Gründer des Lindenmuseums und des Deutschen Ausland-Instituts (DAI), des heutigen Instituts für Auslandsbeziehungen. Wanner wurde Aufsichtsratsvorsitzender der Sürag, die Ende 1924 gleich neben dem DAI in das soeben umgebaute Alte Waisenhaus einzog.

Ihre Eröffnungsfeier übertrug die Sürag aus dem Neuen Schloss. Das erste Wort hatte der Präsident der Oberpostdirektion. Die Post spielte eine zentrale Rolle, denn sie trieb die Gebühren ein. Ein großes Aufgebot an klassischer Musik folgte: von Mozarts "Zauberflöte" bis Wagners "Meistersinger", unterbrochen nur von der Botenrede aus dem "Oedipus"-Drama des Sophokles. Man versteht: Was der Bote an Laufpensum zu absolvieren hatte, erleichterte nun die drahtlose Kommunikation. Ein Programm der Hochkultur, das in die einfachste Hütte vordringen sollte – soweit diese sich das Gerät und die monatliche Gebühr von zwei Mark leisten konnte.

Doch im Hintergrund zog die Reichsregierung die Drähte. 51 Prozent der Anteile an der Aktiengesellschaft hatte ein Oberregierungsrat – im Auftrag der Regierung. Genauso verhielt es sich in allen anderen Sendern. Die weiteren Aktionäre waren ein Konzertveranstalter, der bald wieder ausstieg, ein Vertreter des Stinnes-Konzerns, der reichsweit eine rechte Agenda verfolgte, und zwei unbedeutende Privatpersonen mit je einer Aktie.

18.000 Hörer:innen bei fünf Millionen Menschen

Wie die amerikanischen Medienwissenschaftler Jay David Bolter und Richard Grusin erforschten, übernimmt ein neues Medium immer zunächst die Formen eines alten: Das Radio übertrug Konzerte. An die Stelle von Theater traten Hörspiele. Ein neuer Beruf kam auf: der Geräuschemacher. Was sie nicht sehen konnten, imaginierten die Hörer:innen. Die mediale Welt war zwiegespalten: Der Film hatte noch keinen Ton, dem Radio fehlte das Bild.

Aber das Radio fiel nicht in ein Vakuum. Orchester und Theater beschwerten sich, dass ihnen der Rundfunk Schauspieler:innen und Musiker:innen für Nebentätigkeiten abwarb. Auch das Unternehmen Hohner aus Trossingen hatte seine Befürchtungen: Da das Radiopublikum keinesfalls nur klassische Musik hören wollte, befürchtete der Mund- und Ziehharmonikahersteller, die Menschen würden nicht mehr selbst musizieren und seine Instrumente kaufen, wenn sie die populäre Musik durch das Radio ins Haus geliefert bekämen. Gleichzeitig beharrten die Zeitungsverleger darauf, dass Nachrichten über das Zeitgeschehen und die politische Berichterstattung ihre Angelegenheit seien.

Daher stürzten sich die Radiomacher:innen der Sürag auf neue Entwicklungen in der Region, jenseits des Tagesgeschehens: etwa die Bausparkasse in Wüstenrot, die dadurch erst richtig in Gang kam, bis hin zu den kontrovers diskutierten Waldorfschulen. Nicht auf Anhieb entdeckte der Sender den Sport: Es begann mit Autorennen an der Solitude, dann folgten Boxkämpfe. Fußball gestaltete sich schwieriger, da die Vereine die Fans lieber im Stadion sehen wollten.

Um Hörer:innen zu gewinnen, musste der Sender Aufmerksamkeit erregen. Er berichtete 1925 live von Bord des Zeppelins. Spendenaufrufe im Radio halfen dem Friedrichshafener Unternehmen, die Insolvenz zu vermeiden. Und der Sender profitierte von der Zeppelin-Begeisterung. Ein Tüftler auf Schloss Solitude experimentierte mit Kurzwellen. Die Sürag sprang auf und übertrug Konzerte und Boxkämpfe aus den USA.

1926 traten alle Sender der neu gegründeten Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG) bei. Nachrichten sollten sie nun nur noch vom Drahtlosen Dienst (Dradag) aus Berlin übernehmen. Die Sürag hielt sich zurück. Nicht nur, weil Bofinger mehr an Kultur gelegen war: Josef Vögele, Vorstand, Aufsichtsrat und Leiter des Rundfunk-Überwachungsausschusses, war zugleich Pressesprecher des Staatsministeriums. Er wollte verhindern, dass Berlin der Landesregierung zu sehr in ihr Gebiet hineinfunkte.

Doch die Sürag profitierte von den Ausgleichszahlungen der RRG. Denn die Hörer:innenzahlen ließen zu wünschen übrig. Ende 1924 hatte der Sender rund 18.000 Hörer:innen, erst um 1930 stieg die Zahl über 100.000. Bei knapp fünf Millionen Einwohner:innen in Baden und Württemberg – die Sürag sendete in beiden Ländern.

Vorbild war die BBC

Die Nationalsozialisten erkannten sofort das Potenzial des Rundfunks und machten aus der Sürag den Reichssender Stuttgart. Mit erschwinglichen Volksempfängern und gleichgeschalteten Sendern gelangte die Stimme des "Führers" in jedes Wohnzimmer. Was nicht wenig zur Identifikation mit den Nazis beitrug. Joseph Goebbels sah die Aufgabe des Rundfunks darin, "die Menschen so lange zu hämmern und zu feilen und zu meißeln, bis sie uns verfallen".

Umso mehr mussten die in der Nachkriegszeit neu gegründeten Sender ihre Staatsferne unter Beweis stellen. So kam es zur Konstruktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach dem Vorbild der BBC, und der Sender mit Hauptsitz in Stuttgart wurde in Süddeutscher Rundfunk (SDR) umbenannt. Seine Hörfunkprogramme firmierten bis Ende der 1980er-Jahre als "Südfunk Stuttgart". Viele Jahre lang war Baden-Württemberg – mit dem SDR und dem Südwestfunk (SWF) – das einzige Bundesland mit zwei öffentlich-rechtlichen Landesrundfunkanstalten.

Der Kulturanspruch wurde nach dem Krieg zunächst noch höher gehängt. Schließlich war Deutschland in den Kreis der zivilisierten Kulturnationen zurückgekehrt. Schriftsteller:innen und Komponist:innen der "Neuen Musik" fanden hier ihre Überlebensgrundlage – auch wenn sie sich wie Arno Schmidt oder Alfred Andersch eigentlich zu Höherem berufen fühlten. Andersch war vom Hessischen Rundfunk zum Südfunk nach Stuttgart gekommen, wo er – im "Nachtprogramm" – Hochgeistiges vertrat. Tonangebend: Theodor W. Adorno und Max Bense.

Noch bis in die 1950er-Jahre spielten die Rundfunkorchester live: Tonband gab es noch nicht, auf Schallplatten passten damals nur drei Minuten. So kam es, dass die Sender auch als Konzertveranstalter auftraten. Neben der klassischen und "Neuen Musik" gab es ab 1951 aber auch Erwin Lehns Südfunk-Tanzorchester. Pionierarbeit leistete der Süddeutsche Rundfunk mit der Konzert- und Sendereihe "Treffpunkt Jazz".

SDR und SWF – aus zwei mach eins

Die Rundfunk-Terminologie unterschied zwischen "U" und "E": unterhaltender und ernster Musik, die in zwei Programme aufgespalten wurde: Das erste, auch Hausfrauenfunk genannt, unterhielt mit deutschen Schlagern, das zweite war für den Kulturanspruch reserviert. Noch in den 1950er-Jahren versammelten sich ganze Familien um das heimische Röhrenradio, um Hörspielen zu lauschen. Doch mit dem Aufkommen des Fernsehens spielte das Radio zunehmend nur noch die zweite Geige.

Und den Anschluss an die neue Jugendkultur seit der Beatlemania hat der Rundfunk komplett verschlafen. Um 1970 gab es im damaligen SDR wöchentlich nur eine Stunde Popmusik. Radio Luxemburg – das heutige RTL Deutschlands Hit-Radio – funkte über die Grenzen, und den Sendern blieben die Hörer:innen weg. Angefangen mit dem Südwestfunk (SWF), wechselten sie die Strategie. Die dritten Programme, eingeführt als Gastarbeiter-Radio, wurden nun zu Pop-Wellen. Ökonomisch ein Volltreffer: Es brauchte kaum Personal, die Schallplatten kamen gratis ins Haus und die Werbeeinnahmen flatterten hinterher.

1998 fusionierten der SDR und der SWF zum neuen Südwestrundfunk (SWR). Aus zwei Sendern für ein Bundesland wurde ein Sender für Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Das spart eine Menge Geld. Im heutigen SWR-Rundfunkrat wachen über 70 Vertreter:innen von Interessenverbänden und Politik, darunter zwölf Landtagsabgeordnete, über die Programmplanung: ein Grabenkampf um Besitzstände, der ganz so politikfern dann doch nicht ist. "Ausgewogenheit" lautet das Zauberwort. Der Begriff ist im Rundfunk entstanden.

Podcasts machen dem heutigen Radio viele Hörer:innen abspenstig. Und die Programmstruktur ist nach wie vor von Grabenkämpfen um Sendeplätze bestimmt. Dabei kann man alles längst über Mediatheken nachhören. Der Kulturauftrag wird im Kampf um Einschaltquoten – noch so ein Rundfunkbegriff – oft mehr als Ballast betrachtet und nur zögerlich auch als Chance erkannt.

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1 Kommentar verfügbar

  • Wolfgang Kuebart
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Großartig, Herr Heißenbüttel, dass Sie den 11. Mai 1924 ins Gedächtnis holen. Schön recherchiert, mit einigen nicht im kollektiven Bewusstsein verankerten, wissenswerten Fakten. In Backnang im Technikforum läuft derzeit unsere Ausstellung "100 Jahre Rundfunk in Süddeutschland", bis auf weiteres...
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