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Berblinger 2.0

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Der 31. Mai 1811 war für Albrecht Ludwig Berblinger eine Katastrophe: Bei einem Flugversuch mit seinem Hängegleiter stürzte er in die Donau. Er wurde zur Spottfigur, verarmte und starb. Nach 200 Jahren ist aus dem Versager ein Überflieger geworden.

Ein Nachbau von Berblingers Hängegleiter im Ulmer Rathaus. Foto: Stadtarchiv Ulm

In der Fußgängerzone von Ulm steht ein rätselhaftes Denkmal. Hinter einem Parkhaus, wo die grauen Gehwegplatten mit schwarzen Kaugummiflecken gesprenkelt sind, ragt ein spitzer Schnabel aus Bronze in den Himmel. Die Flügel dieses Vogels sind gestutzt. Zum Fliegen wären sie zu kurz, ihre knappe SpDas Berblinger-Denkmal in Ulm. Foto: Johannes Schweikleannweite passt zu dem schmalen Platz. Die Schwingen sind mit Verstrebungen verstärkt, die an das Gestänge eines Regenschirms erinnern. Keine Tafel erklärt dieses Denkmal. Als ob man doch nicht den Mut hätte, den Namen des Menschen zu nennen, an den es erinnern soll. Dieser war vor 200 Jahren für eine Sensation vorgesehen. Am 31. Mai 1811 wollte Albrecht Ludwig Berblinger über die Donau fliegen. Er stand auf einem Podest, das man für seinen Start auf der Adlerbastei errichtet hatte, 20 Meter über dem Fluss. Das andere Ufer war 40 Meter entfernt. Dorthin wollte Berblinger mit dem Hängegleiter fliegen, den er selbst entwickelt und gebaut hatte. Eine Dreiviertelstunde lang stand er unentschlossen tänzelnd auf dem Gerüst und wartete auf günstigen Wind. An beiden Ufern der Donau standen die Zuschauer dicht gedrängt. Da die Masse ja immer alles ganz genau gesehen hat, hieß es hinterher, Berblinger sei weiß geworden wie Backsteinkäs.

Die Leidenschaft des Schneiders galt der Mechanik

Albrecht Ludwig Berblinger wurde 1770 in Ulm geboren. Nach dem Tod seines Vaters kam er 1783 ins städtische Waisenhaus, ein Jahr später schickte sein Waisenvater ihn ohne viel Federlesens in eine Schneiderlehre. Berblinger betrieb dieses Handwerk mit großem Erfolg. Er machte den Meister und beschäftigte bis zu vier Gesellen. Doch seine Leidenschaft galt der Mechanik. Dem ehemaligen Ulmer Stadtsoldaten Elias Schlumperger baute er eine Beinprothese mit beweglichem Gelenk. 1809 ersuchte er beim bayerischen König um ein Patent auf diese Erfindung. "Der allerunterthänigst Unterzeichnete hatte von früher Jugend an eine besondere Neigung zur Mechanik", schrieb Berblinger über sich selbst. Doch der unterwürfige Ton nutzte nichts – die bayerische Verwaltung lehnte Berblingers Gesuch ohne Angabe von Gründen ab.

Im frühen 19. Jahrhundert hatte die Stadt Ulm einen dramatischen Niedergang hinter sich. Kaum noch etwas war geblieben von Glanz und Größe der freien Reichsstadt. Postkarte um 1900. Foto: Stadtarchiv Ulm Im späten Mittelalter hatte sich die Ulmer Herrschaft über 55 Dörfer und drei Städte erstreckt. Es gab die Redensart "Ulmer Geld regiert die Welt". Doch im 18. Jahrhundert stand die Stadt vor dem Bankrott. Handel und Gewerbe stagnierten, Missernten sorgten für Hunger. In den napoleonischen Kriegen wurde Ulm zum Spielball der Großmächte. 1802 war die Unabhängigkeit der Reichsstadt dahin, 1810 fiel die Stadt als Kriegsbeute an den König von Württemberg. Napoleon hatte so entschieden.

Niemand weiß, wie der Schneider Berblinger auf die Idee kam, das Fliegen zu probieren. Man kennt nur mögliche Vorbilder: Der Heißluftballon der Brüder Montgolfier stieg 1783 zur ersten bemannten Fahrt auf. Ein Jahr später veröffentlichte der badische Landesbaumeister Carl Friedrich Meerwein ein Buch mit dem Titel: "Der Mensch: Sollte der nicht auch mit Fähigkeiten zum Fliegen gebohren seyn?" Er baute einen "Ornithopter", einen Flugapparat mit beweglichen Schwingen, aber es gelang ihm wohl kein erfolgreicher Flug. Anders verhielt es sich bei Jakob Degen in Wien. Er kombinierte einen Schlagflügler mit einem Wasserstoffballon. Mit diesem Luftgefährt gelang ihm 1808 der Aufstieg über dem Prater.

Erfolgreiche Flüge am Michelsberg

Berblinger setzte auf ein anderes Prinzip. Er wollte nicht mit den Flügeln schlagen wie ein Spatz. Nach dem wenigen, was man weiß, baute er einen halbstarren Hängegleiter, mit dem er den Gleitflug schaffen wollte. Augenzeugen berichteten von erfolgreichen Flügen am Michelsberg hinter der Stadt. Der Pionier wagte sich an die Öffentlichkeit, am 24. April 1811 erschien im "Schwäbischen Merkur" seine Anzeige: "Nach einer unsäglichen Mühe in der Zeit mehrerer Monate, mit Aufopferung einer sehr beträchtlichen Geldsumme und mit Anwendung eines rastlosen Studiums der Mechanik, hat der Unterzeichnete es dahin gebracht, eine Flugmaschine zu erfinden, mit der er in einigen Tagen hier in Ulm seinen ersten Versuch machen wird."

Ende Mai kam König Friedrich zu seinem ersten Staatsbesuch nach Ulm. Der König von Württemberg war nicht sonderlich beliebt. Sein Jähzorn war gefürchtet. Er wollte sein rückständiges Land mit aller Macht in den Fortschritt der neuen Zeit treiben. So fiel dem Schneider Berblinger die Heldenrolle zu: Er sollte Majestät mit einem Flug über die Donau beeindrucken.

Undatierter Kupferstich des historischen Ulms zu Berblingers Zeiten. Bildquelle: Stadtarchiv Ulm

Als Berblinger auf das Gerüst über der Adlerbastei stieg, war noch nicht einmal das Fahrrad erfunden. Ulm und der Rest der Menschheit ahnten nichts von der industriellen Revolution. Die atemberaubenden Veränderungen des Lebens sollten erst in der Zukunft einsetzen: Sechs Jahre später unternahm Karl Drais in Mannheim die erste Fahrt mit seiner zweirädrigen Laufmaschine. 1825 dampfte in England die erste Eisenbahn über die Schienen. Um 1837 entwickelte der französische Maler Louis Daguerre die Fotografie. Davon profitierte 1891 ein gewisser Otto Lilienthal: An einem Hügel hinter Berlin flog er mit seinem Hängegleiter. Wie Berblinger setzte er auf das Prinzip des Gleitflugs, aber seine Leistung war über Gerüchte erhaben. Lichtbilder bewiesen der Welt schwarz-weiß, dass er vom sicheren Boden abgehoben hatte.

Berblinger kam beruflich nicht mehr auf die Füße

Am 31. Mai 1811 leistete sich Albrecht Ludwig Berblinger die größte anzunehmende Blamage. Vor aller Augen stürzte er ab. Die Sensation blieb aus, der Utopist lag in der Donau. Die württembergische Zensur kontrollierte die Berichterstattung, kaum eine historisch ernst zu nehmende Notiz kam in die Zeitungen. Die Kunde des Scheiterns verbreitete sich auf anderen Wegen. Karikaturen und Spottverse machten die Runde:

"Dr Schneider von Ulm hots Fliega probiert / Do hot en dr Deifl en d'Donau neigführt."

Im Biedermeier wurde Berblinger zum abschreckenden Beispiel stilisiert:

"Der Schneider bleibe bei der Nadel / Der Schuster bleib den Leisten treu / So lebt ein jeder ohne Tadel / Und bleibt von Schimpf und Vorwurf frei."

Der Flugpionier überlebte den Absturz. Aber seine bürgerliche Existenz war mit dem 31. Mai 1811 ruiniert. In seinem Handwerk kam er nicht mehr auf die Füße. Seine Neigung zu Alkohol und Kartenspiel wurde aktenkundig. Am 28. Januar 1829 starb Albrecht Ludwig Berblinger an Auszehrung und wurde in einem Armengrab beerdigt.

Kein Aufwind, sondern stetiger Abwind über dem Fluss

In der Ulmer Folklore lebte er als Spottfigur weiter. Bei den Stadtfesten machte man sich über den Schneider und den Spatz als die beiden komischen Figuren lustig. Das sollte sich erst im 20. Jahrhundert langsam ändern. 1906 veröffentlichte der Ingenieur und Autor Max Eyth seinen historischen Roman "Der Schneider von Ulm". In der Einleitung wappnet er sich vorsorglich gegen die Kritik der Ulmer. Er entreißt ihnen die Deutungshoheit und entwirft ein neues Bild Berblingers. Aus dem Spinner und Fantasten macht er einen mutigen Pionier. Der fiktive Stadtbibliothekar, der Gralshüter der städtischen Wahrheit, entrüstet sich: "Ich wage nicht daran zu denken, was die Ulmer dazu sagen werden, wenn Ihre Geschichte je gedruckt werden sollte – die Magistratssitzung, der Obermeister der ehrsamen Schifferzunft …"

Jahrzehnte später leistete die Fachwelt ihren Beitrag zur Rehabilitierung des Flugpioniers. 1952 erschien in der Schweizer "Zeitschrift für Luftfahrttechnik" ein Aufsatz von Otto Schwarz. Der Autor beschäftigte sich mit den thermischen Verhältnissen an der Adlerbastei. Er zeigte, dass der Zusammenfluss von Donau und Iller auch bei wärmstem Wetter stetigen Abwind zur Folge hat. Wegen der senkrechten Befestigungsmauer entwickelt sich Gegenwind nicht zum Aufwind, sondern zum Wirbelwind. Kurz gesagt: Berblinger war an einem denkbar schlechten Ort gestartet.

Mitte der 80er-Jahre suchte Ulm nach neuen Möglichkeiten, sich überregional zu profilieren. "Auf Albert Einstein kommt jeder, wenn er an Ulm denkt – wir haben nach neuen Idolen gesucht", sagte Götz Hartung, der damalige Kulturbürgermeister. Es herrschte Aufbruchstimmung, mit großem Einsatz trieb man den Aufbau der Wissenschaftsstadt voran – da passte ein Erfinder wunderbar ins Bild. Aus dem Spinner wurde jetzt ein Tüftler und Pionier. Zum 175. Jubiläum seines Absturzes schrieb Ulm einen Flugwettbewerb aus.

Die Stadt hat ihrem Pionier einst Unrecht getan

Dieses Jahr hat die Stadt ein aufwendiges Jubiläumsprogramm organisiert (www.berblinger.ulm.de). Aus dem Versager ist ein Überflieger geworden, Ulm bejubelt seinen Johannes Schweikle gibt mit seinem Buch neuen Helden: "Innovation! Visionskraft! Forscherdrang!" Im April flogen Prototypen der Flugzeuge von morgen über Ulm, das des Siegers des Wettbewerbs war mit einem Elektromotor angetrieben. Im Stadthaus widmet sich eine Ausstellung der Vision vom Fliegen, zum großen Fest Ende Mai soll die multimediale Klangskulptur Berblinger 3.0 über der Donau schweben.

Der Flugwettbewerb von 1986 hat gezeigt, wie Unrecht die Stadt ihrem Pionier getan hat. 175 Jahre nach seinem Absturz nahmen 30 Flieger teil. Sie starteten am historischen Ort. Von der Adlerbastei aus sollten sie das andere Ufer erreichen. Die Fluggeräte mussten möglichst originalgetreu gebaut sein, doch alles moderne Material war erlaubt: Kohle- und Glasfasern, Aluminium und Polyurethanschaum.

29 Starter fielen in die Donau. Nur Holger Rochelt schaffte es über den Fluss. Sein Johannes Schweikle. Foto: Thomas MüllerHängegleiter hieß "SchneidAir", als Sieger des Berblinger-Wettbewerbs erhielt er 50 000 Mark. Doch auch sein Flug endete schmerzhaft. Bei der Landung kugelte er sich einen Arm aus.

Johannes Schweikle, 1960 in Freudenstadt im Schwarzwald geboren, studierte evangelische Theologie in Tübingen, Jerusalem und München. Seitdem lebt und schreibt er als Journalist in Hamburg. Er schreibt für "Zeit", "Geo" und "Merian".  Mit dem Roman "Fallwind. Vom Absturz des Albrecht Ludwig Berblinger" gibt er sein literarisches Debüt. Der Absturz Berblingers jährt sich am 31. Mai zum 200. Mal. Die Stadt Ulm bietet eine große Zahl von Veranstaltungen an (<link http: www.berblinger.ulm.de external-link-new-window>www.berblinger.ulm.de).


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