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100 Jahre Hauptbahnhof Stuttgart

Amputierter Jubilar

100 Jahre Hauptbahnhof Stuttgart: Amputierter Jubilar
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Der von Paul Bonatz entworfene Stuttgarter Hauptbahnhof wird dieser Tage 100 Jahre alt, zum Jubiläum gibt's ab Donnerstag ein kleines Festprogramm. Für Stuttgart 21 wurde der Bau zum Teil abgerissen und entkernt – die Denkmalschützer des Landes hatten zuvor einen Maulkorb verpasst bekommen.

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Zum letzten Mal groß gefeiert, mit Beteiligung von Stadt und Deutscher Bahn, wurde der Stuttgarter Hauptbahnhof im Jahr 1987. Da war er 65 alt und quasi als Geburtstagsgeschenk wurde der vom Architekten Paul Bonatz entworfene Bau in jenem Jahr zum Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung erklärt. Das ist die höchste Denkmalschutzkategorie, in die auch die Weißenhofsiedlung eingestuft ist. Geholfen hat ihm das wenig. Im Zuge des Projekts Stuttgart 21 wurden erst seine beiden Seitenflügel abgerissen, 2010 der Nord-, 2012 dann der Südflügel, und im Augenblick wird sein Inneres entkernt. Ein Hotel der Kette "Me and All Hotels" soll hinein, vom ursprünglichen Charakter wird wenig bleiben (Kontext berichtete hier und hier).

Wie konnte es dazu kommen? Die baden-württembergische Landesverfassung steht einer solchen Amputation eigentlich entgegen, sollte man zumindest meinen angesichts deren Artikel 3c: " Die Landschaft sowie Denkmale der Kunst, der Geschichte und der Natur genießen öffentlichen Schutz und die Pflege des Staates und der Gemeinden."

Allerdings gibt es Möglichkeiten, dies zu umgehen, die hier auch genutzt wurden. Bemüht wurde etwa die Argumentation, es handele sich um eine Bahnbetriebsanlage der Deutschen Bahn, weswegen ein Landesgesetz – wie das Denkmalschutzgesetz – hier nicht anwendbar sei. Wobei dieser Argumentation entgegensteht, dass das Empfangsgebäude des Hauptbahnhofs kein Teil der Bahnbetriebsanlage ist, wie Norbert Bongartz anmerkt, bis 2008 Oberkonservator beim Landesdenkmalamt.

Wenn das Denkmalschutzgesetz nicht wegen anderer Zuständigkeiten ausgehebelt ist, liegt die Entscheidungsbefugnis beim zuständigen Ministerium der Landesregierung. In diesem Falle dem Wirtschaftsministerium, das in Baden-Württemberg die oberste Denkmalschutzbehörde ist. Weisungsbefugt als höhere Denkmalschutzbehörden sind eine Stufe darunter auch die Regierungspräsidien (RP). Sowohl Wirtschaftsministerium als auch das RP Stuttgart wurden denn auch zugunsten von S 21 aktiv.

"Als er (Bonatz) im achtzigsten Jahr starb, konnte sein Stuttgarter Bahnhof, dessen erste Pläne auf das Jahr 1911 zurückgehen, mit seinen klar gegliederten Baumaßen noch immer seinen Ruf als schönster Bahnhof Deutschlands behaupten."
Clara Menck, Journalistin, in: "Abschied von Paul Bonatz", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.1.1957

Kritische Stellungnahmen gab es

Bevor im Februar 1997 der Architekturwettbewerb für Stuttgart 21 ausgeschrieben wurde, gab es schon die Festlegung, dass ein unterirdischer Durchgangsbahnhof entstehen soll. Wie dieser mit dem alten Bahnhofsgebäude kombiniert werden beziehungsweise mit diesem kollidieren könnte, war allerdings unklar. Die vollständige Erhaltung des Baus hätte auch zur Maßgabe für den Wettbewerb werden können – handelte es sich ja schließlich um ein geschütztes Baudenkmal. Weswegen die Landesdenkmalpflege zum Schweigen gebracht werden musste.

Anfangs zeigte die Behörde eine – gesetzestreue – Renitenz, wie sich Norbert Bongartz erinnert. "Sehr kritische Stellungnahmen" hätten seine zuständigen Amtskollegen damals "im Rahmen der üblichen Beteiligungen beim Planfeststellungsverfahren und darüber hinaus im Zuge der Ausschreibung des Wettbewerbs um einen neuen Bahnhof" abgegeben. Und dabei hätten sie auch auf die hohe historische Bedeutung des Bahnhofs einschließlich seiner Flügel und des "Gleisgebirges" – der im Gleisvorfeld geradezu kunstvoll gestaffelten Zuläufe – hingewiesen.

Der Abriss der Flügel wird nahegelegt

Diese Stellungnahmen wurden aber, so Bongartz, "den Wettbewerbs-Unterlagen meines Wissens nicht beigefügt". Im Auslobungstext vom 28. Februar 1997 steht zwar immerhin: "Denkmalpflegerisch ist der Erhalt der Flügelbauten zu fordern." Aber zugleich: "Bei einer überzeugenden Darstellung und Darlegung der übergeordneten Gründe einer funktionierenden Stadterweiterung mit einer modernen Verkehrssituation wird es den Planverfassern freigestellt, die Flügelbauten abzubrechen." Und: "Wie das Ergebnis des kooperativen Gutachtens zeigt, erscheint eine sinnvolle städtebauliche Weiterentwicklung der Kernstadt nur bei einem Abbruch der Seitenflügel möglich."

"Ich mag den Bonatzbau, aber hinten ist das Hüttenkruscht!"
Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU), 13.12.2007

Die teilnehmenden Architekten wurden also ob einer "sinnvollen städtebaulichen Weiterentwicklung" – und wohl auch im Hinblick auf ihre Gewinnchancen – geradezu animiert, Entwürfe ohne einen Erhalt der Seitenflügel einzureichen. Sie nahmen auch deshalb auf die Denkmalpflege keinerlei Rücksicht. Wie eine zusätzliche Demütigung musste es sich da angefühlt haben, dass in der Schlussphase des Wettbewerbs der Hauptkonservator des Landesdenkmalamts noch kurzfristig zur Teilnahme am Preisgericht genötigt wurde, dort aber seine Bedenken nicht mehr zur Geltung bringen konnte, erinnert sich Bongartz..

Maulkorb für Denkmalschützer

Damit nicht genug. Den Mitgliedern des Landesdenkmalamts wurde verboten, sich ohne Abstimmung mit dem Regierungspräsidium zu Stuttgart 21 und dem Bonatzbau zu äußern. Einen "Maulkorb-Erlass" nennt dies Bongartz, auch wenn er selber in seiner Zeit im Denkmalamt nie eine schriftliche Anweisung zu Gesicht bekommen hat – "sie muss mindestens mündlich erfolgt sein", sagt er im Gespräch mit Kontext. In der Behörde hätten jedenfalls schnell alle davon gewusst.

Die Einflussnahme war bisweilen durchaus robust, wie ein Artikel in der neusten Ausgabe der Fachzeitschrift "Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege" enthüllte: "Ein geplantes Schwerpunktheft zum Stuttgarter Hauptbahnhof im Kontext der Planungen von S21 durfte im Sommer 1997 nicht erscheinen", heißt es da in einem Artikel von Irene Plein, "und auch in der Folgezeit wurden Veröffentlichungen der Denkmalpflege zu diesem Thema nicht gewünscht, um das laufende Verfahren nicht zu beeinflussen." Diese Zensur sei "ein einmaliges Ereignis in der Geschichte des Nachrichtenblattes" gewesen – mit beklagenswerten Folgen: "So wurde die Chance vertan, frühzeitig die Position der Landesdenkmalpflege nach außen zu kommunizieren, was dem Landesamt Vorwürfe erspart und der späteren Eskalation des Themas vorgebeugt hätte." Deutliche Worte – 25 Jahre danach.

Dass es damals im "Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege" vor allem um einen Artikel gegangen sei, der sehr deutlich fachliche Bedenken gegen die Neubauplanung artikulierte, berichtete kürzlich auch die "Stuttgarter Zeitung". Der Artikel sei dem Wirtschaftsministerium als oberster Denkmalschutzbehörde wegen der "großen politischen Bedeutung" vorgelegt worden. Und das Ministerium, an dessen Spitze damals Walter Döring (FDP) saß, habe den Artikel dann "in der vorliegenden Form abgelehnt".

Das immer wieder beklagte Versagen der Denkmalpflege war also hohem politischen Druck geschuldet. Es habe die Amtsdisziplin verlangt, dass man als unterlegener Fachbereich nicht gegen die "vom eigenen Haus" gefällte Entscheidung opponierte, so Bongartz. Auch er äußerte sich erst in seinem Ruhestand, nach seinem Ausscheiden aus dem Landesdenkmalamt Ende 2008, öffentlich zu S 21, dann aber zunehmend engagierter. Mittlerweile ist Bongartz einer der Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21.

Foto: Columbia GSAPP, CC BY 2.0, Link

"Das Konzept (von Stuttgart 21) offenbart eine gefühllose Gleichgültigkeit gegenüber der Architekturgeschichte. Seine Umsetzung würde die teilweise Zerstörung eines der bemerkenswertesten Wahrzeichen der Stadt bedeuten: des Hauptbahnhofs von Paul Bonatz … Und in einer besonders perversen Geste des 'Fassadismus' – einer Lieblingsmethode von Bürokraten und Bauunternehmern, im Rahmen derer ein paar architektonische Elemente bewahrt werden, während der Rest des Gebäudes plattgemacht wird – würde es die Bahnhofshalle und den Turm wie einen Amputierten stehen lassen."
Nicolai Ourousoff, Architekturkritiker, "Last Exit for an Elegant Rail Station" ("Letzte Ausfahrt für einen eleganten Bahnhof"), New York Times, 2.10.2009

Zu später Protest?

Dass das Schweigen der Denkmalschützer öffentlich lange keine große Rolle spielte, hing auch damit zusammen, dass Stuttgart 21 lange Zeit kaum mehr als eine vage Idee ohne konkreten Realisierungshorizont war. Im November 1997 wurde zwar der Siegerentwurf des Düsseldorfer Architekten Christoph Ingenhoven gekürt, im Sommer 1999 aber schon legte der damalige Bahnchef Ludewig das ganze Projekt wegen zu hoher Kosten auf Eis. Für viele war das Projekt damit schon erledigt. Es bedurfte einiger Finanzspritzen – beziehungsweise "zwei Milliarden Landes(schmier)mitteln", so der heutige Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) 2010 in einem Buchbeitrag –, um das Projekt ab 2007 wieder zum Laufen zu bringen. Der damalige Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) spielte, um im Bild zu bleiben, bei der Schmiermittelorganisation eine treibende Rolle, und seine denkmalpflegerische Kompetenz bewies er dadurch, dass er die Seitenflügel des Bonatzbaus als "Hüttenkruscht" bezeichnete.

Erst nach 2007 und erst recht ab 2009, als die S-21-Finanzierung zwischen den Projektpartnern vertraglich geregelt wurde, nahm der Widerstand gegen das Projekt daher Fahrt auf. In der kurzen Zeitspanne bis zu den ersten S-21-Arbeiten 2010 erhoben sich dann durchaus viele Stimmen gegen den Teilabriss des Baus. Der Architekt Roland Ostertag gehörte zu den wortmächtigen Kritikern, Bonatz' Enkel Peter Dübbers strengte sogar eine Urheberrechtsklage gegen die Verstümmelung des Werks seines Großvaters an (und unterlag). Und der Kunsthistoriker Matthias Roser war einer der Eifrigsten und Kundigsten, die Bedeutung des Baus in der Architekturgeschichte hervorzuheben. Seinen Aufruf, den Hauptbahnhof vollständig zu erhalten, unterzeichneten auch namhafte Architekten und Denkmalpfleger aus aller Welt. Abwenden konnte all das die Amputationen nicht.

"Welche andere Stadt demoliert ihr Wahrzeichen? Der Bahnhof war ein Kulturdenkmal besonderer Bedeutung, nicht allein wegen seiner Fassade, die erhalten bleibt, sondern aufgrund der gelungenen Verbindung von Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung. Das Gleisvorfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs stellt die effizienteste, am wenigsten Flächen verbrauchende Möglichkeit dar, täglich hunderttausende von Pendlern und Reisenden nach Stuttgart hinein und aus der Stadt hinaus zu bringen. In Zeiten des Klimawandels müsste über Erweiterungen nachgedacht und nicht dieses Bravourstück der Verkehrsplanung durch ein unterirdisches Nadelöhr ersetzt werden. Hier Bauland gewinnen zu wollen, bedeutet, ein Grundprinzip guter Stadtplanung sträflich zu missachten: dass nämlich das Verkehrsproblem zuerst gelöst sein muss, dann ergibt sich alles weitere fast von selbst."
Dietrich Heißenbüttel, Journalist, Kunsthistoriker, "Der Stuttgarter Hauptbahnhof von Paul Bonatz", in: "Kopf hoch! 100 Jahre Hauptbahnhof Stuttgart 1922–2022", Stuttgart 2022

Doch hat der Bonatzbau nun, wie Architekten damals warnten, wegen des Teilabrisses und der Veränderung der Umgebung seinen Denkmalstatus verloren? Offenbar nicht; auf Kontext-Anfrage erklärte das Regierungspräsidium Stuttgart, das Hauptgebäude des Hauptbahnhofs sei "nach wie vor ein Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung". Dennoch ist es ein trauriges Bild, das der Jubilar heute bietet.

Den hundertsten Geburtstag am 23. Oktober trotzdem nicht einfach verstreichen lassen wollte eine Gruppe von Aktiven aus dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21. Sie hat, in Zusammenarbeit mit der Fraktionsgemeinschaft Die FrAktion im Stuttgarter Gemeinderat, ein kleines Festprogramm auf die Beine gestellt. 1987 zum 65. hatte sich noch die Bahn um eine Feier gekümmert, unter anderem der damalige Stuttgarter OB Manfred Rommel hielt eine Eloge auf den Hauptbahnhof, "aber schon zehn Jahre später, 1997, wollten OB und DB nichts mehr davon wissen und begeisterten sich für Stuttgart 21", so Hans-Jörg Jäkel von den Ingenieuren22, der Präsident des Festkomitees. Auch zum 90. Geburtstag gab es nichts, das soll nun – auch ohne Beteiligung der Bahn – anders werden. Der Kopfbahnhof habe es "mehr als verdient, dass die Leistungen bei Planung, Bau und nunmehr 100 Jahren Bahnbetrieb angemessen gewürdigt werden", so Jäkel.


Info:

Das Festprogramm "100 Jahre Hauptbahnhof Stuttgart" umfasst eine große Feier am 20. Oktober um 18 Uhr im Großen Sitzungssaal des Stuttgarter Rathauses (Eintritt frei), eine Kundgebung am 22. Oktober, 16.30 bis 17.30 Uhr am Hauptbahnhof, sowie zehn Sonderfahrten mit historischen Zügen am 22. und 23. Oktober. Infos zum Programm finden Sie hier, Näheres zu den Sonderfahrten, den Fahrzeiten und den eingesetzten Loks und Zügen gibt's außerdem auf einem Infoflyer.

Zum Jubiläum erscheint die lesenswerte Festschrift "Kopf hoch! 100 Jahre Hauptbahnhof Stuttgart" mit Beiträgen von Kontext-Autor Dietrich Heißenbüttel, Norbert Bongartz, Hans-Peter Münzenmayer und Gerhard Raff. Heißenbüttel befasst sich dabei eingehend mit der Geschichte des Baus, und er geht auf immer wieder geäußerte NS-Vorwürfe ("präfaschistische Architektur") gegenüber Paul Bonatz ein. Die Broschüre ist erstmals erhältlich bei der Festveranstaltung im Rathaus am 20. Oktober.


Zum Weiterlesen:

Matthias Roser: Der Stuttgarter Hauptbahnhof – ein vergessenes Meisterwerk der Architektur, Silberburg-Verlag Stuttgart 1987.

Ders.: Der Stuttgarter Hauptbahnhof – Vom Kulturdenkmal zum Abrisskandidaten? Schmetterling-Verlag, Stuttgart 2008.

Ders.: Der Stuttgarter Hauptbahnhof – ein Meisterwerk der Architektur. Internetseite mit virtuellem Rundgang, historischem Überblick sowie umfangreicher Literatur- und Linkliste.

Rose Hajdu, Ulrike Seeger: Hauptbahnhof Stuttgart – Ein Wahrzeichen in Bildern. Thorbecke Verlag, Ostfildern 2011.

Lutz Schelhorn: Stuttgart Hauptbahnhof – Eins vor 21, Edition Randgruppe, Stuttgart 2010.


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3 Kommentare verfügbar

  • bedellus
    am 19.10.2022
    Antworten
    mir tut der hals weh vom kopfschuetteln!
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