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Erinnerung an die NS-Zeit

Die dunklen Tage von Lodz

Erinnerung an die NS-Zeit: Die dunklen Tage von Lodz
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Das polnische Lodz ist eine von zehn Partnerstädten Stuttgarts. Doch die schrecklichen Tage, die die Menschen vor 80 Jahren im dortigen Ghetto erleiden mussten, sind wenig präsent: weder in der Landeshauptstadt, noch im ehemaligen Litzmannstadt.

Lodz war eine multikulturelle Stadt. Bis 1939. Bis zu diesem Jahr lebten hier fast ebenso viele jüdische und polnische Menschen, einige wenige hatten deutsche Wurzeln. Die Stadt wurde wegen ihrer umsatzstarken Textilindustrie dem Warthegau zugeschlagen. Ein Gau, der nach den Plänen der Nazis ein Teil von Deutschland werden sollte. Polen wurden deswegen zu Hunderttausenden in den Osten deportiert und deutschstämmige Menschen angesiedelt. Ab Anfang 1940 wurden in vielen Städten Ghettos für jüdische Menschen eingerichtet. In Lodz entstand nach Warschau das zweitgrößte Ghetto im besetzten Polen. Die Namen der polnischen Städte und Ortschaften wurden eingedeutscht. Aus Lodz wurde Litzmannstadt, benannt nach einem nationalistischen General, aus dem kleinen Dorf Chelmno Kulmhof.

Im September 1942 erlebte die jüdische Bevölkerung des Ghettos in Litzmannstadt die schlimmsten Tage in ihrer von Elend, Hunger und Krankheit reichen Geschichte. Der Judenälteste Chaim Rumkowski musste in einer kurzfristig angesetzten Versammlung Deportationen ankündigen. Die deutsche Verwaltung hatte befohlen, dass alle Kinder bis zehn Jahre, alle alten Menschen über 65 Jahren und alle kranke Menschen deportiert werden sollen. Rumkowski sagte, dass er von den Menschen das Wertvollste verlangen muss, das Wertvollste zu geben, was sie haben, nämlich ihre Kinder.

Um die Deportationen durchführen zu können, wurde eine Ausgangssperre angeordnet. Ein Vorgehen, dass selbst in der Geschichte des Ghettos einzigartig war. Die Bewohner des Ghettos haben die Aktion später als die "Sperre" bezeichnet.

Deportierte dokumentierten das Leben im Ghetto

In der Verwaltung hat der Judenälteste Chaim Rumkowski auch Schriftsteller und Journalisten beschäftigt, die in das Ghetto deportiert worden waren. Ihre Aufgabe war es, jeden Tag eine Chronik zu erstellen, deren Sinn darin bestand, der Nachwelt vom Leben im Ghetto zu berichten. Diese Chroniken wurden kurz vor der Liquidation des Ghettos vergraben und nach der Befreiung ausgegraben. Die Dokumente sind danach in die verschiedenen Archive gegeben worden.

In der Ghetto Chronik heißt es am 14.9.1942:

"Die Zeit vom 5. – 12 September 1942 wird bei dem Teil der Ghettobevölkerung der den Krieg überleben wird, eine unauslösliche Erinnerung hinterlassen. Eine Woche! 8 Tage, die eine ganze Ewigkeit zu sein scheinen. Noch heute fällt es schwer, sich bewusst zu machen, was eigentlich war. Ein Taifun, der ca. 15 000 Personen /eine genaue Zahl kann noch niemand sagen/ von der Oberfläche des Gettos weggefegt hat, hat gewütet und trotzdem fließt das Leben erneut im alten Flussbett."

Weiter ist in der Chronik vermerkt:

"Die Autos verließen das Getto sofort und kamen nach einer knappen Stunde zurück. Daraus kann man schlussfolgern, dass die Deportierten nicht sehr weit weg vom Getto abgesetzt worden sind."

Bei der Aktion sind 15.685 Menschen darunter 5.860 Kinder deportiert worden. Sie wurden noch am Tag der Deportation ermordet.

Neben Kindern und älteren Menschen wurden auch Patienten aus den Krankenhäusern deportiert. Oskar Rosenfeld, einer der Chronisten des Ghettos, hat auch Tagebuch geführt. Am 2.9.1942 notierte er: "Spital Evakuierung. Schicksal der Insassen unbekannt. Immer neue Einzelheiten bekannt, Flucht in verschiedenen Verkleidungen, Patient am Kittel eines Hilfspersonal verläßt Spital. Frau eine Stunde nach Entbindung mitgenommen. (…) Viele Angehörige irrend durch die Gassen, händeringend, wahnsinnig, brechen zusammen."

Seit der Errichtung war das Ghetto immer mehr zu einer riesigen Fabrik geworden. Chaim Rumkowski hatte erkannt, dass die Menschen nur dann eine Chance zum Überleben hatten, wenn sie arbeiteten. "Unser einziger Weg ist Arbeit", wiederholte er seine Überzeugung immer wieder bei Ansprachen. Er war davon überzeugt, dass nicht mal die Nazis Menschen ermorden werden, die sie ausbeuten können. Auf dem Gebiet des Ghettos entstanden dadurch viele Fabriken. In erster Linie wurden Kleidungsstücke für die Wehrmacht und das deutsche Winterhilfswerk genäht. Kleidungsstücke wurden vom nahegelegenen Vernichtungsort Kulmhof geliefert. Die dort ermordeten jüdischen Menschen sowie Sinti und Roma mussten sich ausziehen, bevor sie vergast wurden. Nackt wurden sie in wartende LKWs getrieben, wo sie durch einströmendes Gas ermordet wurden. Zwischen 1941 und 1943 wurden über 200.000 Menschen ermordet und dann in einem nahen Waldstück vergraben.

Eingenähte Dokumente fand man in den Schneidereien

In den Schneidereien des Ghettos wurden immer wieder eingenähte Dokumente gefunden, die zeigten, dass die Menschen, die sie getragen haben, aus dem Ghetto stammten. Unklar blieb lange, dass die Menschen in das nahe gelegene Dorf Kulmhof deportiert wurden. Dort wurden jüdische Menschen und Sinti und Roma aus dem ganzen Warthegau ermordet.

Aus den Deportierten wurden immer wieder Männer den Arbeitskommandos des Vernichtungslagers zugeordnet. Einigen wenigen Männern aus diesen Kommandos ist die Flucht gelungen. Sie konnten Informationen über das Vernichtungslager weitergeben, so dass das Wissen um dieses erste Vernichtungslager der Nazis die Weltöffentlichkeit erreicht hat. Am 2. Juli 1942 berichtete die New York Times in einem Artikel, dass die jüdische Menschen aus Litzmannstadt in Kulmhof durch Verbrennen ermordet werden. Der Daily Telegraph berichtete am 25. Juni 1942, dass zwischen 1941 bis März 1942 ungefähr 40.000 Menschen ermordet worden sind. Die Zeitung bezog sich bei ihrer Berechnung auf die Zahlen der aus Kulmhof geflüchteten Männer.

Prozess gegen die SS-Schergen

1962 begann in Hannover ein Prozess gegen Mitglieder von SS-Kommandos, die auch in Litzmannstadt gewütet haben. Einer der Angeklagten war der ehemalige "Judensachbearbeiter" Günter Fuchs. In der Anklageschrift hieß es, dass der "Angeschuldigte Fuchs als Kriminalkommissar und Sachbearbeiter für Judenangelegenheiten der Staatspolizeistelle Litzmannstadt die Transporte der Juden aus dem Ghetto in das Vernichtungslager leitete, insbesondere veranlaßte , daß die jeweils geforderte Anzahl von Juden bereitgestellt und rechtzeitig in Marsch gesetzt wurde, und in zahlreichen Fällen durch Absperrungen von Häuserblocks und Durchsuchungen von Wohnungen Juden für den Abtransport aussuchte." Er war auch verantwortlich für die Durchführung der Deportationen im September 1942.

Bei der Gerichtsverhandlung sagte auch Frau Waynberg aus, eine Überlebende des Ghettos: "Ich bat die SS-Männer, sie sollten mich durchlassen, ich wollte mit meinen Kindern gehen. Aber Fuchs schrie, ich solle zurück … ich bat ihn flehentlich. Ich wollte alles tun, nur sollte er mich bei den Kindern lassen … Da schrie er mich an, ich sei jung und könne noch arbeiten – nur Arbeitsunfähige kämen weg – Ich durchbrach die Postenkette und wollte zu den Kindern laufen – Ich sah einen Revolver in der Hand von Fuchs und hatte das Gefühl, daß er auf mich zielte. Ich sah, daß er schoß. Von da an wußte ich nichts mehr. Als ich wieder zu Bewußtsein kam, waren meine Kinder weg."

Jakob Stopnicki, ein weiterer Zeuge, sagte in dem Prozess über die Deportationen aus: "Dabei gab es erschütternde Szenen, wenn Eltern von ihren Kindern getrennt wurden. Ich habe selbst erlebt, daß sich eine jüdische Mutter, deren fünfjähriger Sohn ausgesondert und weggerissen wurde, dem Fuchs auf der Straße zu Füßen warf und ihn bitterlich anflehte, ihr doch das Kind zu lassen. Es bleibt mir unvergeßlich, wie Fuchs auf das Flehen dieser Mutter so reagierte, daß er sie mit den Stiefeln gegen den Kopf trat. Die Frau war im Nu blutüberströmt und umklammerte die Füße von Fuchs, worauf dieser die Pistole ziehen wollte. Ich sehe noch deutlich, wie er zur Pistolentasche griff, um diese Frau zu erschießen. Jüdische Polizisten sprangen jedoch noch schnell dazwischen und konnten die inzwischen ohnmächtig gewordene Frau in einen Hauseingang tragen. – Diese Frau ist einige Tage später an den ihr zugefügten Kopfverletzungen gestorben."

Günter Fuchs wurde im November 1963 zu einer lebenslangen Haftstrafe und dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt.


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