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Holocaust-Gedenktag

"Vergiss die Photos nicht"

Holocaust-Gedenktag: "Vergiss die Photos nicht"
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Am Tag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar erinnert der baden-württembergische Landtag an die Verfolgung der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten. Schwerpunkt der Veranstaltungen ist Ravensburg. Von dort kamen die Großeltern von Romano Guttenberger, der in seinem Leben viel Antiziganismus erlebt hat.

Anruf bei einem Campingplatz: "Ja, guten Tag, Guttenberger. Ich wollte fragen, ob Sie über Pfingsten auf Ihrem Campingplatz einen Stellplatz für ein Wohnmobil frei haben." – "Nein, tut mir leid, alles belegt." Mano Guttenberger, der Anrufer, tippt auf die Wahlwiederholung und drückt mir sein Handy in die Hand, das so eingestellt ist, dass der Angerufene die Nummer nicht sieht. "Heißenbüttel. Ich wollte über Pfingsten an den Bodensee. Hätten Sie da einen Platz für ein Wohnmobil frei?" Etwas gedehnt kommt die Antwort: "Ja, das können wir machen."

"Das ist bei allen Campingplätzen am Bodensee so", sagt Mano, mit vollem Namen Romano Guttenberger. "Wenn die den Namen Guttenberger hören, wissen sie, dass wir Sinti sind. Es gibt sogar Schilder: 'Für Fahrende und Zigeuner verboten'." Der Musiker, Jahrgang 1978, lebt mit seiner neunköpfigen Familie in Kornwestheim, wo er auch seine Frau kennengelernt hat, eine Romni aus Sizilien, Geschäftsführerin in einem Bekleidungsgeschäft. Vier Jahre hat die Familie im Wohnwagen gelebt mit damals noch fünf Kindern, bevor sie vor sieben Jahren endlich eine Wohnung fand.

Ein Großteil von Manos Verwandtschaft lebt am Bodensee, in Friedrichshafen und Konstanz. Seine Großeltern väterlicherseits, Albert und Elsa Guttenberger, kamen aus Ravensburg. 1937, vier Jahre nach der Machtübernahme der Nazis, sperrte die Stadt weit über 100 Sinti im Barackenlager Ummenwinkel hinter einen Stacheldrahtzaun ein. 35 von ihnen wurden am 13. März 1943 von der Gestapo verhaftet, nach Stuttgart gebracht und von dort zwei Tage später mit mehr als 200 weiteren nach Auschwitz deportiert. Sechs von den 35 Ravensburger Sinti haben überlebt. Darunter Manos Großeltern. Aber Auschwitz war für sie nie vorbei.

Als er Kind war, erzählt Mano, habe seine Großmutter einmal plötzlich zu weinen angefangen. Er habe gefragt: "Oma, was ist los?" Da erzählte sie: Die spielenden Kinder weckten in ihr das Bild der vielen anderen, die in Auschwitz ermordet worden waren. Später hat sie ihm mehr erzählt, was sie dort im "Zigeunerlager" erlebt hat. "Grausamkeiten, dass mir die Haare zu Berge gestanden sind", sagt Mano. Schlimmer als alles, was allgemein über die Konzentrationslager bekannt ist. Einmal hat er mit seiner Großmutter den Film "Schindlers Liste" angesehen. "Das ist nur ein Bruchteil von dem, was dort passiert ist", erklärte sie, "nur ein Prozent."

Manos Großeltern mütterlicherseits hatten mehr Glück. Ein Bauer in Stuttgart-Rot hatte sie versteckt. Das kam öfter vor, sagt er. Die Bauern konnten Erntearbeiter gut gebrauchen und hatten nichts gegen sie. Einmal gab es eine Razzia, da mussten sie sich im Heu verstecken. Der Bauer, ein angesehener Mann, habe sie gedeckt.

Gestapo-Fotos sind oft die einzigen Bilder

Mano hat in einem Buch des österreichischen Rom Karl Stojka (1931–2003), der am 3. März 1943 im Alter von elf Jahren von Wien aus nach Auschwitz verschleppt worden war, auch Bilder seines Großvaters und zehn weiterer Angehöriger gefunden, zwei davon mit ihren Familien. Unter dem Titel "Wo sind sie geblieben …?" sammelt der Band hunderte von Fotos von Sinti und Roma, die Stojka zumeist gekannt hat. Es sind Karteikarten aus dem Bundesarchiv mit dem Stempel der Gestapo, die von der menschenverachtenden Haltung der Nazis zeugen, ganze Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Herkunft zuerst systematisch zu erfassen und dann zu vernichten. Stojka hat sie aber auch deshalb gesammelt, weil es oft die einzigen Bilder sind, die von diesen Menschen existieren. So auch im Fall von Manos Verwandten.

Jede Karte enthält in der Regel drei Aufnahmen: von vorn, schräg und im Profil wie Polizeifotos von Kriminellen. Tatsächlich wurden Sinti und Roma von den Behörden schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts grundsätzlich wie Verbrecher behandelt, auch wenn sich die allermeisten von ihnen nichts hatten zuschulden kommen lassen. Sofia, die jüngste der Guttenbergers in Stojkas Buch, ist zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht ganz zehn Jahre alt. Der älteste, Josef Imanuel, war 76, Manos Großvater Albert keine zwanzig. Zwar sind die Karteikarten alle mit dem Gestapo-Stempel versehen, aber die Fotos sind zum Teil älter. Die Karte des 1892 geborenen Christian Guttenberger zeigt links ein Familienfoto. Ein Sohn, vielleicht acht Jahre alt, hält als ältester von drei Geschwistern eine Violine in der Hand. Die drei Fotos rechts von Christian Guttenberger allein sind am 11. August 1924 im Württembergischen Polizeipräsidium Stuttgart angefertigt worden. Er war Musiker, wie aus Akten der Reichsmusikkammer im Landesarchiv hervorgeht.

Vorstrafen lauten: "vorwiegend Landstreicherei"

Die Karteikarte des 1901 geborenen Anton Guttenberger aus Ravensburg – auch er war noch 1937 Mitglied der Reichsmusikkammer – enthält gleich acht Fotos: zwei Dreierserien, die frühere ebenfalls von 1924; und zwei Bilder des Vierzehnjährigen, aufgenommen am 9. November 1915 in der "Gefangenenanstalt Niederschönenfeld". Es handelt sich um die älteste Jugendstrafanstalt Deutschlands, nördlich von Augsburg, wo vier Jahre später viele Protagonisten der Münchner Räterepublik inhaftiert waren. 1918 war er wegen Fahnenflucht vor Gericht gestanden, damals 17 Jahre alt.

In der Gerichtsakte steht unter Vorstrafen: "vorwiegend Landstreicherei". Das war es, was den Sinti und Roma vorgeworfen wurde, verbunden mit den krassesten Vorurteilen. Sie stehlen Kinder, hieß es, und sie könnten einen verhexen. Niemand wollte sie in seiner Nähe haben, auch deshalb waren sie oft gezwungen, im Wohnwagen umherzuziehen. Die Vorurteile sind nicht verschwunden, wie Manos Erfahrungen mit Campingplätzen zeigen.

Ausstellungen in Ravensburg und Mannheim

Es gibt allerdings auch andere Bilder, nicht nur die der Gestapo-Kartei. Zwei Ausstellungen zeigen derzeit freundlichere Fotos. Die eine, im Museum Humpis-Quartier in Ravensburg, läuft noch bis zum 30. Januar. Sie thematisiert erstmals einen Aspekt der Ravensburger NS-Geschichte, die Verfolgung und Ausgrenzung der Sinti und die Geschichte des Lagers Ummenwinkel. Dabei greift sie zurück auf Aufnahmen aus der Sammlung des Fotografen und Buchdruckers Josef Zittrell im Ravensburger Stadtarchiv. Die Bilder, die häufig Berichte über das Lager Ummenwinkel illustrieren, zeigen in Realität allerdings andere, frühere Ravensburger Barackensiedlungen: an der Schussen oder in der Oberzellerstraße.

Nach der Befreiung von Auschwitz kehrten die wenigen Ravensburger Überlebenden ins Barackenlager Ummenwinkel zurück. Bis 1984, fast 40 Jahre lang, hausten sie dort unter prekären Bedingungen: ohne fließend Wasser, nur mit einem Brunnen im Hof. Erst 1995 begann die Anerkennung ihrer Geschichte. Seit 1999 gibt es eine Gedenktafel vor der Kirche Sankt Jodok. Inzwischen sind mehrere Bücher erschienen, dazu nun der Ausstellungskatalog.

Die andere Ausstellung im Mannheimer Kulturhaus RomnoKher hat am Montag eröffnet und läuft bis 28. Februar. Sie steht unter dem Titel: "'... vergiss die Photos nicht, das ist sehr wichtig ...' – Die Verfolgung mitteldeutscher Sinti und Roma im Nationalsozialismus" und zeigt Aufnahmen des Thüringer Fotografen Hanns Weltzel, der zu den Sinti in seinem Heimatort Dessau-Roßlau ein freundschaftliches Verhältnis hatte. Heute befinden sich die Fotos im Besitz der Liverpooler Universitätsbibliothek, die das Archiv der 1888 gegründeten Gypsy Lore Society verwahrt. Sie zeigen ein unverfälschtes, positives Bild der Sinti der 1920er-Jahre. Aber auch, dass es Deutsche gab, die ihnen offen, ohne Vorurteile begegneten.

Daniel Strauß, der Begründer des Kulturhauses RomnoKher und Landesvorsitzende des Verbands der Sinti und Roma, wird am morgigen Tag der Befreiung von Auschwitz an der Gedenkfeier des baden-württembergischen Landtags teilnehmen, die diesmal dem Schicksal der Sinti und Roma gewidmet ist. Im Mittelpunkt steht Ravensburg. Im Anschluss an den Vortrag von Karola Fings von der Heidelberger Forschungsstelle Antiziganismus wird auch ein Film über Ummenwinkel gezeigt. (Die Veranstaltung ist am 27. Januar ab 11.30 Uhr online und später auch in der Mediathek des Landtags zu sehen.)

Die Diskriminierung der Sinti und Roma hat nach 1945 nicht aufgehört. Romano Guttenberger kann davon ein Lied singen. Wenn er und seine Familie auf Campingplätzen doch einmal zugelassen wurden, nahm der Besitzer ihre Dokumente an sich und rief die Polizei. Aber Mano lässt sich nicht alles gefallen. Einmal, als zwei Polizisten aggressiv wurden, filmte er sie. Damit sie nicht auf den Gedanken kämen, sein Handy zu konfiszieren, warnte er sie: Er habe die Aufnahmen bereits seinem Anwalt geschickt. "Aber Herr Guttenberger, was regen Sie sich so auf", antworteten die Beamten. Es müsse ein Missverständnis vorliegen.

Mano wäre gern Anwalt geworden. Die Chance hat er nicht bekommen. "Für uns kam sowieso nur die Sonderschule infrage", sagt er im Gespräch. Wie bitte? Nicht etwa, weil er in der Schule nicht mitgekommen wäre, in der Sonderschule hat er sich zu Tode gelangweilt. Nein, einzig und allein, weil er "Zigeuner", ein Sinto, war. Statt Anwalt ist er Musiker geworden und spielt mit seinem Bruder Knebo und drei weiteren Musikern unter dem Bandnamen "Guttenberger Brothers" Jazz Manouche in der Tradition Django Reinhardts und eigene Lieder mit deutschen Texten. Anfang April organisiert er ein Festival im Theater am Olgaeck in Stuttgart, auch mit Roma-Musikern aus Ungarn und Tschechien.

Csárdás, Flamenco, Jazz Manouche: Viele Sinti und Roma sind exzellente Musiker und haben die Musik der Länder, in denen sie leben, meisterhaft adaptiert. Seit sie vor sechs- bis siebenhundert Jahren in Europa angekommen sind, sind sie zumeist auf Ablehnung gestoßen, gipfelnd im Völkermord der Nazis, dem ungefähr die Hälfte von ihnen, mindestens eine halbe Million Menschen, zum Opfer gefallen sind. Dabei haben sie nur versucht zu überleben – und ein bisschen Freude ins Leben zu bringen.


Literaturtipps:

Esther Sattig: Das Zigeunerlager Ravensburg Ummenwinkel. Die Verfolgung der oberschwäbischen Sinti. Berlin 2016.

Magdalena Guttenberger, Manuel Werner: "Die Kinder von Auschwitz singen so laut!" – Das erschütterte Leben der Sintiza Martha Guttenberger aus Ummenwinkel. Norderstedt 2020.


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1 Kommentar verfügbar

  • Joachim Sallmann
    am 04.08.2022
    Antworten
    Vielleicht hat aber auch gerade diese Geschichte seiner Familie, die rassistischen Auswüchse und Erfahrungen Manu Guttenberger zu einem der besten Gitarristen Deutschlands werden lassen. Und er hat seine Freude am Leben sein offenes Lachen nicht verloren.
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