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Film "Die doppelte Lücke"

Die Fragilität der Demokratie

Film "Die doppelte Lücke": Die Fragilität der Demokratie
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1933 wurden in Stuttgart in kürzester Zeit politisch oppositionelle oder "nichtarische" Beschäftigte aus der Stadtverwaltung entlassen, Gemeinderäte von SPD und KPD aus dem Amt getrieben oder verhaftet. Daran erinnert nun ein neuer Film der Initiative "Stolperkunst", der es sogar in eine Gemeinderatssitzung geschafft hat.

Im Stuttgarter Rathaus findet die NS-Zeit nicht statt. Das klingt zunächst wie eine haltlose Unterstellung. Und natürlich hat sich der im Rathaus tagende Gemeinderat in der Vergangenheit immer mal wieder damit befasst, wie an die Jahre 1933 bis 1945 in Stuttgart, wie an die in dieser Zeit begangenen Verbrechen erinnert werden soll: ob mit Ausstellungen, Forschungsprojekten oder einem Lern- und Erinnerungsort wie dem Hotel Silber. Einerseits.

Andererseits stimmt der Satz in zweierlei Hinsicht schon: In der Galerie der Ehrenbürger der Stadt im ersten Stock ist zwischen Karl Lautenschlager (Oberbürgermeister bis 1933) und Arnulf Klett (OB ab 1945) eine Leerstelle; es fehlt der nationalsozialistische OB Karl Strölin. Und entsprechend wird auch nirgendwo im Rathaus daran erinnert, wie unter seiner Regie im Frühjahr 1933 ungeheuer schnell die kommunale Demokratie zerstört wurde. Ebenso wenig wird im Rathaus an die rund 200 Menschen erinnert – 173 städtische ArbeiterInnen und Angestellte sowie 26 Beamte –, die auf Basis des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" innerhalb kurzer Zeit entlassen wurden, weil sie den Nazis als politische Gegner galten, oder weil sie nicht deren Rassevorstellungen entsprachen. Ebenso wenig wird erinnert an die aus dem Amt getriebenen oder verhafteten Stadträte der KPD oder SPD. Einer von ihnen, der Kommunist Heinrich Baumann, kam 1945 im KZ Dachau zu Tode, ermordet wurden auch die entlassenen jüdischen Mitarbeiterinnen Emmy Brüll und Emilie Levi.

Eine doppelte Erinnerungslücke also, und entsprechend heißt ein neuer Film des Projekts Stolperkunst zu diesem Thema auch "Die doppelte Lücke". Er wurde am vergangenen Mittwoch sogar während einer Sitzung des Stuttgarter Gemeinderats in der Liederhalle gezeigt, womit die MacherInnen anfangs nie gerechnet hätten.

Lange gereifte Idee

Die Idee dazu hat sich über einen längeren Zeitraum entwickelt, erzählt Harald Stingele, Mitinitiator von Stolperkunst und bis vor kurzem Vorsitzender der Hotel-Silber-Initiative, die das Projekt trägt. Schon vor vielen Jahren sei er, wenn er durchs Rathaus ging, immer über diese Lücke gestolpert – und habe sich darüber geärgert, wie wenig sich die Stadt mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt. Zum anderen habe er mitbekommen, wie der Sozialpädagoge Marc Fischer vom Stadtjugendring bei Führungen mit Jugendlichen an dieser Stelle im Rathaus immer die Frage gestellt habe: Fällt euch hier etwas auf?

Innerhalb von Stolperkunst konkretisierte sich dann die Idee, eine Performance im Rathaus zu machen. Das Konzept stand, ein Termin war bereits bewilligt, der 10. Oktober 2020, dann kam die zweite Corona-Welle dazwischen und eine Umsetzung rückte in weite Ferne.

Was also tun, abwarten? Lieber umplanen, und das sei erstaunlich fix gegangen, erinnert sich Stingele: "Wir hatten nach der Absage ein Meeting, und kurz danach haben schon die Vorbesprechungen für den Film begonnen." Ein kleines Team entwickelte das Konzept, neben Stingele, der die Recherchen übernahm, waren dies der Regisseur Christian Werner, die SchauspielerInnen Julianna Herzberg (Theater La Lune) und Jan Uplegger sowie der Filmemacher Adrian Schmidt.

Gedreht wurde in der ersten Märzwoche, allein zwei Tage davon im Stuttgarter Rathaus. Ganz einfach sei das nicht gewesen, erst hieß es, das gehe nicht, dann habe Kulturbürgermeister Fabian Mayer (CDU) die Dreharbeiten aber doch ermöglicht.

Dialog zwischen alten und neuen Bildern

Heraus kam keine bloße Dokumentation, sondern ein auch künstlerisch ambitionierter Kurzfilm. Nach dem Gang durch einen Rathausflur zum Einstieg, begleitet vom Gedicht "Mond Neumond" von Inge Müller, schwenkt die Kamera auf Uplegger als Karl Strölin, der in dieser und weiteren Szenen Ausschnitte zweier Reden aus dem Jahr 1933 wiedergibt. Mit Passagen wie dieser: "Selbstverständlich muss das Führerprinzip auch in der Gemeindeverwaltung durchgesetzt werden, Sitzungen finden da nicht mehr statt." Einmal geht Uplegger als Strölin auf den Balkon, um eine reißerische Rede zu halten, und von der Einstellung mit dem leeren Rathausplatz in der Gegenwart wird übergeblendet auf das Foto einer Kundgebung in den 1930er Jahren am gleichen Ort, unterlegt mit der Aufnahme einer jubelnden Masse. Es ist eine ungeheuer starke Szene, die wegen der Bauarbeiten auf dem Platz in der Mittagspause gedreht werden musste.

Am Ende folgt als langer Abspann eine Auflistung aller Namen der Stadtbeschäftigen, die wegen der Nazis ihren Job verloren – jeweils mit Funktion und Entlassungsgrund –, über zwei Minuten lang.

Es ist ein Film, der nicht nur an vergangenes Unrecht erinnern soll. "Wir haben diesen Film für eine Gegenwart gemacht, in der demokratische Institutionen immer häufiger angegriffen werden", sagt Stingele und erinnert an den versuchten Sturm auf den Reichstag in Berlin im August 2020 und den Angriff auf das Kapitol in Washington im Januar dieses Jahres. "An die Fragilität der Demokratie zu erinnern, ist daher höchst aktuell."

Die Fraktionen sind sichtlich beeindruckt

Das Ziel sei gewesen, den Film irgendwie im Rathaus zu zeigen. Daher zeigten die FilmemacherInnen ihn im April vor Mitgliedern der Gemeinderatsfraktionen von Grünen, FrAktion, SPD und FDP. Er verfehlte seine Wirkung nicht – schon unmittelbar danach stellten diese Fraktionen den Antrag, den Film im Plenum des Gemeinderats zu zeigen, "damit hätten wir gar nicht gerechnet", so Stingele.

Das geschah Ende Juli. Gemessen am starken Applaus am Schluss und den Statements danach waren die RatsvertreterInnen durchweg berührt – offenbar nicht nur wegen des Schicksals der früheren Stadtverwaltungs-Beschäftigten und Gemeinderäte, sondern auch, weil die vor Ort gedrehten Szenen das Rathaus als Ort der Täter sichtbar gemacht hatten. "Eine Umgebung, in der wir uns so oft aufhalten, plötzlich im Kontext einer Zeit zu sehen, in der die Demokratie zerstört wurde", fand Andreas G. Winter von den Grünen beeindruckend und verstörend. Der Film habe dazu geführt, "dass ich das Rathaus, in dem ich jetzt seit 16, 17 Jahren regelmäßig bin, plötzlich mit anderen Augen sehe", sagte Hannes Rockenbauch von der FrAktion. "Wir nutzen ja oft Gebäude, Orte, Plätze, ohne uns Gedanken zu machen, was an diesen Orten passiert ist", merkte Sibel Yüksel von der FDP an, doch gerade die Orte des Geschehens zu nutzen, um daran zu erinnern, sei wichtig "damit Ereignisse nicht abstrakt bleiben". Wie wirkungsvoll so "praktische Geschichtselemente" wie historische Orte seien, um an Vergangenes zu erinnern, fand auch Alexander Kotz von der CDU bemerkenswert.

Und nun? Alle RednerInnen waren sich einig, dass man die Lücke schließen müsse. Zumal in einer Zeit, "in der die Demokratie immer wieder offen angegriffen wird", so Yüksel. Rockenbauch spannte dabei den Bogen sehr konkret in die Gegenwart: Die Ereignisse seien nicht so abstrakt und weit weg; die schnelle Entfernung politisch und rassisch Missliebiger sei 1933 nur deshalb so schnell gegangen, weil davor schon Listen angefertigt worden seien – und auch heute seien solche Dinge bei Rechten schon in Vorbereitung, man müsse nur an die Anfrage der AfD-Landtagsfraktion zu den Mitarbeitern staatlicher Kultureinrichtungen im Jahr 2019 denken.

Wie man die doppelte Lücke aus seiner Sicht am besten sichtbar machen könnte, dazu will sich Harald Stingele nichts entlocken lassen; er plädiert für einen Gestaltungswettbewerb – eine Idee, die auch Grünen-Fraktionschef Winter aufgriff. Möglichkeiten gäbe es sicher viele, von einfachen Hinweistafeln bis hin zu Medienstationen, auf denen etwa der Film angesehen werden kann.

Er sei kein so großer Freund fest installierter Formen, meinte CDU-Mann Kotz in seiner Rede, Erinnerung "könne auch mit Studien erfolgen". Ein Satz, den so ähnlich CDU-OB Wolfgang Schuster 1997 in Bezug auf ZwangsarbeiterInnen gesagt hatte: "Das beste Gedenken ist sicherlich eine möglichst lückenlose Erforschung des Themas".

Zähe Mythen um Strölins vermeintliche Liberalität

Dass Forschung wichtig ist, aber nicht reicht, lässt sich dagegen gerade am Beispiel Stuttgart zeigen. Denn Studien zu diesem Kapitel gibt es schon einige und schon lange, fest und breit verankert im Stadtgedächtnis sind die Ereignisse des Jahres 1933 deswegen noch lange nicht.

Den "geräuschlosen Umbau" in der Stuttgarter Stadtverwaltung beschrieb etwa der spätere Stadtarchivar Roland Müller schon 1983 in einem Aufsatz und betonte in seiner 1988 erschienen Monographie zur Stadtgeschichte in der NS-Zeit: In Stuttgart wurde das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums "besonders scharf angewendet".

Effizienter Nazi

Karl Strölin (1890–1963) war ab dem 16. März 1933 Staatskommissar für die Verwaltung der Stadt Stuttgart und in dieser Funktion schon de facto Oberbürgermeister, ab dem 1. Juli 1933 hatte er dieses Amt auch offiziell inne. Sein politisches Handeln war tief geprägt von "rassehygienischen Vorstellungen". Er versuchte, einerseits gesellschaftliche Randgruppen auszusortieren, andererseits "rassisch hochwertigen Volksgenossen" Vorteile zu verschaffen. Auf seine Initiative hin richtete die Stadt Stuttgart in einem städtischen Gut in Buttenhausen ein eigenes Lager für sogenannte "Asoziale" ein. Und auch Strölins eigenes Bekenntnis, "verhältnismäßig tolerant in der Judenfrage" zu sein, erweist sich bei näherem Betrachten als haltlos. Wenn überhaupt, waren Strölins Stil und seine Rhetorik gemäßigter: Er vermied zwar polternde antisemitische Parolen, in der Sache stand er kaum in Widerspruch zur herrschenden NS-Politik. Statt Radau-Antisemitismus prägte Stuttgart im Umgang mit Juden eher ein nüchtern-bürokratischer Stil, der aber keineswegs weniger "effizient" war. Ein Beispiel ist das "Judenprogramm" der Stadt vom November 1936. Dieses ordnete unter anderem an, dass Juden nicht mehr zu Märkten und Messen zugelassen wurden, nicht in städtischen Altersheime aufgenommen werden durften, in städtischen Krankenhäusern getrennt unterzubringen waren. "Ein 30-Punkte-Katalog von erschreckender bürokratischer Kälte, so etwas kenne ich in dieser systematischen Form aus keiner anderen deutschen Stadt", kommentierte dies der Stadtarchivar Roland Müller einmal vor Jahren.  (os)

Doch beispielsweise hält sich zu Strölin bei vielen StuttgarterInnen noch immer die Sichtweise, er sei eigentlich ein für die Zeit relativ liberaler OB gewesen, der die Stadt vor einem allzu festen Zugriff des Regimes bewahrt habe. Und schließlich habe er ja am Kriegsende Arnulf Klett den Alliierten als seinen Nachfolger empfohlen.

Die vermeintliche Liberalität ist nichts als ein zählebiger Mythos. Strölin war ein überaus überzeugter Nazi, der schon 1923 in die NSDAP eingetreten war, also vor deren zeitweiligem Verbot und daher als "Alter Kämpfer" geltend. Und ab 1933 machte er sich umgehend daran, den Nationalsozialismus in Stuttgart auf allen Ebenen durchzusetzen. Auch in seiner Politik gegenüber Juden war er keineswegs liberal (siehe Kasten).

Alle diese Einzelheiten kann der Film "Die doppelte Lücke" nicht zeigen. Aber sehr deutlich wird in den aufgegriffenen Rede-Passagen Strölins doch, wie sehr er den Nationalsozialismus verinnerlicht hatte und ihn umzusetzen versuchte. Und das ermöglicht Anknüpfungspunkte, weiter in die Tiefe zu gehen.

Das Wissen um die Vergangenheit ist also da. Die Aufgabe ist nicht nur, dass es nicht vergessen wird, sondern auch, dass es erst einmal breiter bekannt wird.

 

 

 

Zum Weiterlesen:

Walter Nachtmann: Karl Strölin. Stuttgarter Oberbürgermeister im "Führerstaat", Silberburg-Verlag, Stuttgart 1995.
Roland Müller: Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988.

Hermann G. Abmayr (Hg.): Stuttgarter NS-Täter, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2009.
Projekt Zeitgeschichte (Hg.): Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung, Stuttgart 1983.


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