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NS-Judenverfolgung

Dem Rad in die Speichen fallen

NS-Judenverfolgung: Dem Rad in die Speichen fallen
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Vor 80 Jahren deportierten die Nazis Tausende jüdische Menschen aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in das französische Lager Gurs. Über 400 Kinder und Jugendliche konnten gerettet werden. Deren Biografien und die vieler RetterInnen sind nun erstmals umfassend dokumentiert worden.

Wie vertraut diese Aussagen doch klingen: "Wir können niemanden aufnehmen", sagten mehr oder weniger gleichlautend Vertreter von 32 Staaten im Juli 1938 auf der Konferenz von Evian angesichts steigender Zahlen von jüdischen Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland. Als "Wirtschaftsflüchtlinge" wurden sie bis 1943 von Schweizer Behörden verunglimpft. Dass die Bereitschaft, Flüchtende aufzunehmen, auch im Europa der 1930er und 1940er Jahre – bei gewissen Unterschieden – begrenzt war, hatte mit Anteil daran, wie weit die Nazis ihr monströses Verbrechen, die Vernichtung der europäischen Juden, umsetzen konnten.

Düster waren auch die Aussichten für die über 6.500 jüdische Menschen aus Baden, der Pfalz und dem Saarland, die vor 80 Jahren, am 22. und 23. Oktober 1940, von den Nazis in das Lager Gurs am Nordrand der Pyrenäen deportiert wurden, das zum mit Nazi-Deutschland kollaborierenden Vichy-Regime gehörte. Nur 20 Prozent von ihnen überlebten den Krieg; 2.000 starben in Gurs, die meisten der übrigen im Vernichtungslager Auschwitz. Und doch gab es selbst hier Lichtblicke: Von den 560 deportierten Kindern und Jugendlichen aus dem Südwesten konnten 409 gerettet werden, fast drei Viertel.

Die Namen der von den Nazis Ermordeten unter den nach Gurs Deportierten sind etwa auf Stolpersteinen gut dokumentiert. Bei denen, die überlebten, und denen, die dabei halfen, ist das nicht in gleichem Maße der Fall. Eine Lücke, die Brigitte und Gerhard Brändle aus Karlsruhe nun mit ihrer Dokumentation "Gerettete und ihre RetterInnen – Jüdische Kinder im Lager Gurs" in großen Teilen schlossen: Unterstützt von der Israelitischen Religionsgemeinschaft (IRG) Baden haben die Brändles, die seit Jahren zu Widerstandskämpfern in Frankreich und dem deutschen Südwesten forschen (Kontext berichtete, unter anderem hier und hier), enorm viel recherchiert. In Archiven und im Internet, sie haben autobiografische Schriften, Quellen und Sekundärliteratur ausgewertet, Angehörige kontaktiert. 560 Kurzbiografien aller deportierten Kinder und Jugendlichen sowie 126 Kurzbiografien derer, die an der Rettung mitwirkten, haben sie zusammengetragen – je nach Quellenlage in unterschiedlicher Länge, in den meisten Fällen mit Fotos. Viele der Schicksale sind nun erstmals dokumentiert.

Eine beeindruckende Rechercheleistung, die das Bild eines weit verzweigten Hilfsnetzes zeigt: Eine Vielzahl von Fluchthilfe-Organisationen – religiöse, humanitäre und politische – bildeten gemeinsam eine "Ökumene des Widerstands", so steht es im Klappentext, "eine Einheitsfront gegen die Vernichtungspläne der Nazis". Die RetterInnen in den Fluchthilfe-Organisationen – in der Mehrzahl Frauen – riskierten dabei ihre Freiheit und ihr Leben, um "dem Rad in die Speichen zu fallen", wie die Brändles mit Verweis auf Dietrich Bonhoeffer schreiben.

Bislang existiert die Dokumentation nur als PDF und kann bei der IRG Baden (info--nospam@irg-baden.de) angefordert werden. Doch schon durch die bis jetzt kursierenden PDFs seien neue Fotos und Informationen eingetrudelt, erzählen die Brändles, und es gebe erste Bestrebungen, das Werk ins Französische zu übersetzen. Beides – eine Veröffentlichung als Buch oder als E-Book und eine Übersetzung – wäre wünschenswert, denn die zusammengetragenen Biografien sind eindrucksvolle Dokumente der Zivilcourage und der Menschlichkeit, viele Geschichten erscheinen heute fast unglaublich.   Oliver Stenzel

 

Edith Odenwald

Edith Odenwald ist 1921 in Karlsruhe geboren.1936 beschlie­ßen ihre Eltern, Karlsruhe zu verlassen, nachdem der Vater ­kurz­zei­tig im Konzen­tra­ti­ons­la­ger Dachau inhaftiert war. In Neuilly bei Paris schließt sich Edith den jüdischen Pfadfin­dern EIF an. Von April bis Juni 1940 werden sie, ihre Schwester Lore und ihre Eltern als "­feind­li­che Ausländer" im Lager Gurs einge­sperrt. Nach 1941 ­ar­bei­tet sie in einem gehei­men ­Netz­werk der EIF und der zionistischen Jugendbewegung MJS mit. Mit neuen ­Pa­pie­ren auf den Namen "Edith Oberlin" hält sie Kontakt zwischen den Gruppen und zu Or­ga­ni­sa­tio­nen wie dem jüdischen Kinderhilfswerk OSE und der protestantischen Frauenorganisation CIMADE. Sie arbeitet als Kin­der­pflege­rin, hilft Papiere zu fälschen, besucht Kinder, die in Familien untergebracht sind, leitet eine provi­so­ri­sche Schule für sie auf einem Bauernhof und bringt auch Kinder an die Grenze zur Schweiz. Nach der Befreiung arbeitet sie für JOINT, eine Hilfs­or­ga­ni­sa­tion US-ameri­ka­ni­scher Juden.

 

Kurt Salomon Maier

Eines der wenigen Bilddokumente der Verschleppung am 22. Oktober 1940 stammt aus Kippenheim bei Lahr. Es zeigt rechts am Zaun den zehnjährigen Kurt Salomon Maier und am LKW seine Großeltern und Eltern. Da die Familie schon lange vor der Deportation einen Ausreiseantrag für die USA gestellt hat, erhält sie noch vor den im Sommer 1942 beginnenden Transporten in die Vernichtungslager das ersehnte Visum für die USA. Mit dem Schiff "Nyassa" erreicht Kurt mit seinem Bruder und den Eltern über Marseille und Casablanca am 9. August 1941 New York.

 

Edith Rosenblüth

Edith Rosenblüth wird am 15. Dezember 1919 in Pforzheim geboren. Gemeinsam mit ihren Eltern Sofie und Salomon wird sie am 22. Oktober 1940 von den Nazis ins Lager Gurs deportiert. Im Mai 1942 kommt sie mithilfe von Organisationen wie dem OSE oder dem CIMADE aus dem Lager heraus in ein von der ökumenischen Organisation "Amitié Chrétienne" eröffnetes Heim für jüdische Jugendliche in Lastic-Rosans im Departement Hautes-Alpes. Vichy-Polizisten verhaften sie und weitere Mädchen und deportieren sie am 26. August 1942 ins Lager Les Milles bei Aix-en-Provence. Als die Verschleppung in Vernichtungslager im Osten droht, kann sie sich mit anderen jungen Frauen in den Schlafräumen und Toiletten verstecken. Sie kommen mit Hilfe von rumänischen Kommunisten mittels eines Bettrostes aus Metall über die Mauer und gelangen nach sechs Stunden Fußmarsch zu österreichischen Kommunisten in Marseille. Die Frauen schließen sich mit neuen Namen und Papieren – Edith wird zu "Solange Fournier" – in Lyon der Résistance an. Ihre Widerstandstätigkeit ("travail allemand") besteht darin, Flugblätter an belebten Stellen der Stadt, wo sich Wehrmachtssoldaten aufhalten, liegen zu lassen, sie über Kasernenmauern zu werfen und auch mit Soldaten Kontakt aufzunehmen, um sie zur Desertion zu bewegen. Nach erneuter Verhaftung und Flucht gelangt Edith Rosenblüth 1943 nach Wien. Dort schließt sie sich einer Widerstandsgruppe an, wird 1944 erneut verhaftet, von der Gestapo verhört, ins Konzentrationslager Auschwitz und am 1. Dezember 1944 ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Zwei gefangene Ärztinnen entfernen ihr die Häftlings-Nummer aus Auschwitz vom Unterarm und statten sie mit Papieren einer verstorbenen Französin aus. So kann sie unentdeckt im Chaos des überfüllten Lagers überleben und gehört am 22. April 1945 zu einer Gruppe Französinnen, die im Rahmen der "Aktion Bernadotte" über das KZ Neuengamme nach Schweden gebracht werden. Nach der Befreiung am 8. Mai 1945 geht sie erst nach Paris und dann nach Wien, um "ein demokratisches Österreich mit aufzubauen".

 

Hannelore Trautmann

Hannelore Trautmann, am 3. April 1923 in Karlsruhe geboren, wird mit ihrem Bruder Oskar und den Eltern Emilie und Arthur in das Lager Gurs verschleppt. Im März 1941 kommt die Familie in das Lager Rivesaltes. Im Juni 1942 retten Mitar­bei­te­rin­nen des jüdischen Kinder­hilfs­wer­ks OSE die Geschwis­ter aus dem Lager und bringen ­sie in Kinder­heime. Hannelore kommt in ein Heim der jüdischen Pfad­fin­der in Moissac. Kurz darauf werden ihre Eltern nach Auschwitz deportiert; die Mutter wird dort ermordet, der Vater überlebt. Ein Flucht­ver­such von Hannelore in die Schweiz scheitert. Sie lebt 1943 im Heim der ökume­ni­schen Hilfs­or­ga­ni­sa­tion "Amitié Chréti­en­ne" im "Château Bégué" in Cazaubon im Depar­te­ment Gers. Nach einer Razzia wird sie von Yvette und Fernand Sentou ­ver­steckt. Als Bürger­meis­ter hat Fernand Sentou die Möglich­keit, Hannelore mit neuen Papieren auszu­stat­ten. In Lyon ist Hannelore zuerst in einem Asyl der Heilsarmee und dann dank der Hilfe einer protes­tan­ti­schen Organi­sa­tion bis zur Befreiung versteckt. 1945 findet der Vater seine Tochter in Lyon. Wie der Bruder Oskar in Frank­reich gerettet wird, ist nicht bekannt.

 

Hanna und Susanne Moses

Die Geschwis­ter Moses, 1927 und 1929 in Karlsruhe geboren, werden mit ihren Eltern nach Gurs verschleppt. Alice Resch, eine Mitar­bei­te­rin der Quäker, rettet die Schwestern im Februar 1941 aus dem Lager in das Wai­sen­haus in Aspet und im Juli 1942 in das Heim "Le Couret" des jü­di­schen Kinder­hilfs­wer­ks OSE. Nach Razzien der Vichy-Polizei, die nach jüdischen Kindern sucht, wird im Sommer 1942 im Heim ein Alarm-System entwickelt: Sobald sich Un­be­kannte dem Eingang des Geländes nähern, verschwin­den die Mäd­chen durch den Hinter­aus­gang in die umlie­gen­den Wälder. Hanna ­be­rich­tet: Wir "hielten uns dort versteckt, bis über dem Dach ein Fähnchen erschien, das anzeigte, dass die Luft wieder rein war." Ange­sichts weiterer Razzien organi­sie­ren die Verant­wort­li­chen ­Ver­ste­cke für die Kinder oder ihre Flucht in die Schweiz. Im Früh­jahr erhalten die Schwestern gefälschte Papiere auf die Namen "Anne­ma­rie" und "Suzanne Mourer". Von Anfang April bis Ende Juli 1943 gelangen sie zusammen mit anderen Kindern mit Hilfe einer Kette von HelferInnen des OSE, der jüdischen Pfadfinder EIF und der katholischen Arbeiterjugend bis nach Douvaine nahe der Schweizer Grenze.

Vor dem Grenzübertritt kann die Gruppe bei dem Priester Jean Rosay im Pfarr­gar­ten den Einbruch der Dun­kel­heit abwarten. Zwei Passeure führen am 29. Juli 1943 nach 22 Uhr die Gruppe in einer Stunde Fußweg an die Grenze. Sie schieben die Kinder unter dem aufge­schnit­te­nen Stachel­drahtzaun hindurch und erklären ihnen, sie sollen ­sich den Abhang hinun­ter­kul­lern lassen und unten den Bach ­über­que­ren, dann seien sie in der Schweiz. Die Gruppe kommt in ein Auffang­la­ger in Genf.

Jean Rosay, dessen Pfarrhaus Rettungsstation nahe der Schweizer Grenze ist, bezahlt seine Hilfe mit dem Leben: Am 10. Februar 1944 verhaftet ihn die Gestapo, 1945 stirbt er im KZ Bergen-Belsen wenige Tage vor der Befreiung durch die britische Armee.

Marianne Cohn

Marianne Cohn wird 1922 in Mannheim geboren. 1934 emigriert ihre Familie nach Barcelona, 1938 nach Frankreich. In Moissac nördlich von Toulouse schließt sie sich 1942/43 den jüdischen Pfadfindern EIF an, die jüdische Kinder und Jugendliche illegal in Kinderheimen oder bei nichtjüdischen Familien unterbringen oder ihre Flucht in die Schweiz organisieren. Marianne wird Glied dieser Rettungsketten des jüdischen Kinderhilfswerkes OSE, der protestantischen Frauenorganisation CIMADE, der EIF und der zionistischen Jugendbewegung MJS. Sie bringt mindestens zehn Kindergruppen an die Grenze, die dann durch Passeure in die Schweiz gerettet werden. Am 31. Mai 1944 wird Marianne mit 32 Kindern kurz vor der Grenze zur Schweiz von deutschen Grenzwächtern kontrolliert. Als sie als Juden erkannt werden, wird die ganze Gruppe inhaftiert. Marianne schlägt die Möglichkeit zur Flucht aus, um bei den Kindern bleiben zu können, und es gelingt ihr, diese frei zu bekommen. Sie selbst wird am 8. Juli 1944 von Mitgliedern eines SS-Polizei-Regiments ermordet.

 

Jacqueline Prandi mit Cilla Cahn

Jacqueline Prandi ist Sekretärin auf dem Rathaus in Oulches südwestlich von Châteauroux. Sie ist Mitglied der Résistance und besorgt für von der Vichy-Polizei Bedrohte, also Mitglieder der Résistance und jüdische Menschen, falsche Papiere. Im Sommer 1942, nach Beginn der Razzien der Vichy-Polizei nach jüdischen Kindern, gibt das jüdische Kinderhilfswerk OSE Cilla Cahn aus Mannheim bei Jacqueline Prandi in Obhut. Cilla, am 4. Mai 1940 in Mannheim geboren, wurde am 22. Oktober 1940 mit ihrem Bruder Erich und den Eltern Johanna und Julius nach Gurs verschleppt. Jacqueline Prandi stellt neue Papiere für Cilla mit dem Namen "Cécilie" her und gibt sie als ihr eigenes Kind aus. Um den Schein zu wahren, geht die ganze "Familie" sonntags zusammen in die Kirche. Nach der Befreiung findet der Vater, der Auschwitz überlebt hat, seine Kinder wieder.


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