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Stuttgart 21

Nichts geht mehr

Stuttgart 21: Nichts geht mehr
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Es war nach der inszenierten Prellbockanhebung im Februar der eigentliche Baustart von S 21: Vor zehn Jahren begann der Abriss des Nordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Tausende Menschen blockierten aus Protest die Straßen, während OB Schuster im Innenhof des Alten Schlosses die schwäbische Gemütlichkeit beschwor.

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Mittwoch, 25. August 2010, etwa 15 Uhr 30. Auf der Kreuzung Heilbronner-/Kriegsbergstraße steht ein nicht allzu rebellisch aussehender Mittfünziger, schaut sich um. "Ich bin noch nie in meinem Leben auf dieser Kreuzung gestanden, aber es fühlt sich gut an." Er ist nicht allein. Neben ihm stehen und sitzen noch einige hundert andere, Teenager, Eltern mit Kindern, Rentner, auch ein älterer Herr mit Rollator. In ganz Stuttgart sind es Tausende, vielleicht Zehntausende.

Dieser 25. August ist ein Tag, wie ihn Stuttgart noch nicht erlebt hat, es ist der "Tag X". So nennt die Initiative der Parkschützer schon seit Monaten den Tag, an dem Abriss- oder Baumfällarbeiten für Stuttgart 21 beginnen, auf die mit zivilem Ungehorsam reagiert werden soll. Und die Mobilisierung gelingt beeindruckend: Wenige Minuten, nachdem ein Abrissbagger um 14 Uhr 25 angefangen hat, sich in den Nordflügel des denkmalgeschützten Bonatzbaus zu fressen, geht per SMS ein Alarm an all jene raus, die sich auf der Parkschützer-Homepager registriert haben.

Kurz danach schon ist die Kreuzung Heilbronner-/Kriegsbergstraße am Hauptbahnhof blockiert, ebenso alle anderen wichtigen in der Innenstadt. Der Verkehr ist komplett zum Erliegen gekommen, die Stuttgarter Innenstadt autofrei. Die Blockierenden sind wütend und traurig, aber auch entschlossen, so schnell nicht zu weichen. Und so unternimmt die Polizei auch bis spät in die Nacht keinerlei Räumungsversuche.

So groß der Zorn ist, es bleibt friedlich. Wer will, kann entspannt über die Klett’schen Stadtautobahnen schlendern und dabei unter anderem feststellen, wie anders viele Teile der Stadt doch plötzlich ohne Autos aus der Straßenperspektive aussehen.

"Democracy is a little bit difficult"

Eher nicht die der Straße ist die Perspektive von OB Schuster, der an diesem Tag im von Polizei gesicherten Innenhof des Alten Schlosses das Weindorf eröffnet. Er spricht zu den "lieben Freunden des Weins und der schwäbischen Gemütlichkeit", während die Freunde der schwäbischen Renitenz von draußen lautstark "Lügenpack" und "Schuster raus" hereinrufen. Dann Schuster so emotional, wie man ihn noch nie gesehen hat, er schwingt die rechte Faust, ruft trotzig, mit sich fast überschlagender Stimme: "Wir lassen uns unser Weindorf nicht vermiesen! Das Stuttgarter Weindorf bleibt das schönste in Deutschland!"
 

Video: Walter Steiger

Nach diesem kurzen Anflug von Leidenschaft erklärt er dem neuen US-Garnisonskommandanten Colonel Carl Bird die Situation: "You see, we have a lively democracy. And democracy is sometimes a little bit difficult". Ein Satz, der bei aller Unbeholfenheit gut die neue Perspektive widerspiegelt, mit der die Landes-CDU, das Durchregieren gewohnt, in diesem Moment in die Zukunft blicken muss.

"Stadt ohne Oberhaupt" kommentiert ätzend Holger Gayer in der "Stuttgarter Zeitung" den Auftritt des OB: "Wenn Schuster dann noch an just dem Tag, an dem der Abriss des Nordflügels beginnt, mit launigen Worten und einem Lächeln im Gesicht das Weindorf eröffnet, als wäre einige Hundert Meter entfernt nichts geschehen, dann muss er sich nicht darüber wundern, dass sich viele Tausend Bürger von ihm verhöhnt fühlen. Deutlicher konnte Schuster nicht zeigen, wie weit er sich von dem ihm unangenehmen Teil der Wirklichkeit entfernt hat."

Spontane Besetzung

Eine Stunde nach Schusters warmen Worten zur Weindorferöffnung grüßt der ihm unangenehme Teil der Wirklichkeit in Gestalt von sieben AktivistInnen vom Dach des Nordflügels mittels eines Transparents zurück: "Brandstifter Schuster raus aus dem Rathaus."

Das Transparent hätten sie eher zufällig dabei gehabt, und der Entschluss zur Besetzung sei "spontan" gegen 17 Uhr erfolgt, erinnert sich eine Aktivistin, die dabei war, aber nicht namentlich genannt werden will. Sie erinnert auch an die Wirkung der Aktion: Für über 20 Stunden werden die Abrissarbeiten eingestellt. "Meines Wissens war es das einzige oder jedenfalls eines der wenigen Male, wo es dem Stuttgarter Widerstand gelungen ist, direkt die Arbeiten am Projekt zu verzögern."

22 Stunden bleiben die fünf Besetzer und zwei Besetzerinnen auf dem Dach. "In enger Verbundenheit mit hunderten Menschen, die auch die Nacht über auf dem Arnulf-Klett-Platz vor dem Nordflügel ausharrten", so die Aktivistin, "morgens bekamen wir sogar über Megafon aus der Zeitung vorgelesen". Die sieben werden von der Mahnwache in Abstimmung mit der Polizei mit Essen, Trinken und Schirmen – gegen die knallende Sonne – versorgt. Auf mehrere Versuche einer Verhandlungsgruppe der Polizei, sie zur Aufgabe zu bewegen, lassen sie sich nicht ein, "wir sicherten aber stets zu, dass wir gewaltfrei bleiben würden, wie es ja auch der Parkschützer-Aktionskonsens vorsah."

Am 26. August um 15 Uhr räumen dann rund 20 SEK-Männer recht robust die BesetzerInnen. "Unter den Pfiffen und Buhrufen der DemonstrantInnen wurden wir gefesselt in Polizei-Transporter geladen, dann ins Polizeipräsidium Hahnemannstraße gebracht, erkennungsdienstlich behandelt, einzeln in Zellen gesperrt und verhört, danach aber wieder frei gelassen." Strafbefehle wegen Hausfriedensbruch folgen und Verhandlungen vor dem Amtsgericht, doch letztlich werden die Verfahren eingestellt.

Wird Grube nervös?

Nachdem sich schon am Abend des Abrissbeginns rund 30.000 Menschen zu einer kurzfristig angekündigten Demo vor dem Nordflügel eingefunden haben, sind es zwei Tage später bei einer Großdemonstration am 27. August, trotz strömenden Regens, schon 50.000. Ein Meer von Regenschirmen und ein doppelter Regenbogen über dem Nordflügel sorgen an diesem Freitag nicht nur für eindrucksvolle Bilder.

Viele DemonstrantInnen haben nun auch das Gefühl, durch ihren Protest doch etwas bewirken zu können: Nachdem am Ende des Demozuges viele Protestierende die Bannmeile des Landtags gestürmt haben – es passiert nichts Ernstes –, meldet sich Bahnchef Rüdiger Grube noch in der Nacht mit dem Angebot, einen runden Tisch zwischen Projektträgern und -gegnern zu organisieren. Allerdings will Grube "keine Vorbedingungen" – und eine zwingende des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 ist ein Baustopp. Weswegen auch keine Gespräche zustande kommen.

Bei jener Demo am 27. August nennt der Kunsthistoriker Matthias Roser Wolfgang Schuster einen "Oberbürgermeister ohne Bürger", der zurücktreten müsse. Schuster hat sich zu diesem Zeitpunkt schon, nachdem der Haupteingang des Rathauses bereits am 26. August verriegelt worden ist, für einige Tage abgesetzt. In Santiago de Chile weiht er am 31. August die "Plaza de Stuttgart" ein. Als er das Wort ergreift, trötet es aus den Zuschauerreihen, man hört: "Oben bleiben!" Die "lively democracy", sie verfolgt den OB bis auf die Südhalbkugel.

Asbest und Feinstaub

Mögen die Proteste die S 21 unterstützenden Politiker und Funktionäre auch nervöser machen, den Abriss verlangsamen sie nicht. Auch auf anderen Wegen wird versucht, einen zumindest zeitweiligen Abriss-Stopp zu erreichen: So klagt die Deutsche Umwelthilfe (DUH) gegen die Bahn, weil entgegen geltender Gesundheitsauflagen keine schadstoffarmen Baumaschinen, sondern solche mit extrem hohen Dieselrußemissionen zum Einsatz kommen. Als das Verwaltungsgericht im Dezember 2010 im Sinne der DUH entscheidet, gibt es den Nordflügel schon nicht mehr; die Bahn verstößt trotzdem weiterhin gegen die Auflagen.

Auch andere Emissionen beschäftigen die S-21-Gegner ab Anfang September. Für Asbestabfälle vorgesehene weiße Säcke werden wiederholt auf der Baustelle gesehen und durch den Bauzaun fotografiert. Einmal werden Säcke von einem oberen Stockwerk des Nordflügel heruntergeschmissen und platzen auf. Zudem werden Gerüchte laut, noch verbautes Asbest werde beim laufenden Abriss frei. An der Mahnwache vor dem Nordflügel spenden viele BürgerInnen Atemschutzmasken für die vor der Baustelle Demonstrierenden – FFP-2-Masken sind damals spottbillig. Und mehrere Projektgegner, darunter auch Aktionsbündnis-Sprecher Gangolf Stocker, erstatten Anzeige gegen die Abrissfirma, weil sie Sicherheitsvorschriften missachte. Die projektkritische Gruppe "Ingenieure 22" informiert über die heruntergeworfenen Säcke auch den damaligen grünen Bundesvorsitzenden Cem Özdemir, der verspricht, die Sache zum Gegenstand einer parlamentarischen Anfrage zu machen.

Sowohl das städtische Amt für Umweltschutz als auch das Gewerbeaufsichtsamt bestätigen damals zwar auf Nachforschungen von S-21-Gegnern, dass im Nordflügel Asbest verbaut war, betonen aber zugleich, dass dies wie andere Gefahrenstoffe auch noch vor dem maschinellen Abriss entfernt worden sei. Und auch aus dem S-21-Projektbüro heißt es Mitte September, kontaminierter Bauschutt sei "fachgerecht" entsorgt worden, und in den aus den Fenster geworfenen Säcken sei kein Asbest oder eine andere giftige Substanz gewesen. Zweifel bleiben, doch die Klagen verlaufen im Sande – wie viele andere im Zuge dieses Großprojekts.

Während die Montagsdemos auf dem Arnulf-Klett-Platz größer werden, wird der Nordflügel dahinter immer kleiner. Für besondere Empörung sorgt, als am 13. September der Abrissbagger während der Demo in Aktion tritt. Wenige Tage später schon ist der Gebäudeteil Geschichte: In der Nacht zum 17. September fällt der letzte Rest des Nordflügels. Zwei Wochen, bevor es im Schlosspark zum wohl traumatischsten Tag des Konflikts um Stuttgart 21 kommt.
 

Verlinkte Videos im Text von Walter Steiger (3) und pedrolan751 (1).


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