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Kopfreisen

Augen zu und weg

Kopfreisen: Augen zu und weg
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Fernreisen stehen auf dem Corona-Index, zumindest die mit Schiff und Flieger. In der Phantasie hingegen sind sie unverbietbar. In früheren Jahrhunderten hatte eine große Mehrheit der Frauen Übung im imaginären Unterwegssein, denn andere Wege standen nur wenigen offen.

Die Vorzüge lagen auf der Hand. Keine Gefahren, kaum Kosten, Krankheiten werden weder aus- noch eingeschleppt. Und die wahren Abenteuer finden ja ohnehin im Kopf statt. Sich wegdenken und wegträumen, angeleitet durch Lektüre, erlebt in pandemischen Zeiten eine Renaissance. Das Geschäft mit klassischen Reiseführern ist eingebrochen, einschlägige Literatur dagegen gefragt. Viele Verlage produzieren Leselisten, Neuerscheinungen wie das bei Hoffmann und Campe verlegte "Wuhan Diary“ der chinesischen Schriftstellerin Fang Fang bieten Einblick ins sonst Unerreichbare, vermeintlich Verstaubtes wird neu entdeckt, von Tanja Blixen bis Vicky Baum. Sogar das Genre Kurzurlaub im Kopf wird bedient, der Merian offeriert einen 30minütigen Podcast über Berlin und Leipzig, Hamburg, München oder sogar Braunschweig, und Frauen reisen für Frauen ohnehin, als e-book zum Beispiel für 8,99.

Apropos Merian: Maria Sibylla ist eigentlich die berühmteste ihrer Familie. Und doch steht ihr Schicksal exemplarisch für jene Pionierinnen, von denen – gemessen am Werk - zu wenig blieb. Ein Portrait der Kupferstecherin und Forscherin, geboren 1647 in Frankfurt am Main, sollte zur späten Ehrung den letzten Hundert-Mark-Schein zieren. Wozu es allerdings nicht kam, nach Debatten um die Authentizität ihrer Darstellung. Clara Schumann, auch nicht eben gut behandelt von der (Musik-)Geschichtsschreibung, nahm ihren Platz ein. Die Maria Sibylla Merian wurde später auf dem deutlich selteneren Fünfhundert-Mark-Schein verewigt.

Wer glaubt, dass wenigstens das renommierte Reise-Magazin nach ihr bekannt wurde, liegt falsch. Es heißt natürlich nach ihrem Vater. Und doch war Maria Sibylla Quell der Inspiration für Generationen, weniger ihrer wissenschaftlichen Arbeiten wegen, sondern weil sie, begleitet von der Tochter und zu Insektenforschungszwecken, nach Surinam reiste. 18 Briefe an Freundinnen, Vertraute und Verleger werden gegenwärtig neu analysiert und eingeordnet. Frauen suchen übrigens immer Verleger, müssen hoffen, dass ihre Briefe von Hand zu Hand gehen, um Erfahrungen und Erkenntnisse weitergeben zu können. Daran änderte sich lange nichts.

Noch am Beginn des 20. Jahrhunderts verewigt das als schwach diffamierte Geschlecht deshalb Reisen vor allem brieflich. Die Französin Alexandra David-Néel schreibt 1922 an ihren Ehemann in Digne, der schon mehr als elf Jahre auf ihre Rückkehr wartet: "Liebster Philippe, ich kann meine Heimreise noch immer nicht antreten. Der Himalaya hat mich in seinen Bann gezogen. Nach all den Reisejahren kommt es auf ein paar Wochen doch nicht mehr an. Wenn man einen Vogel in einen Käfig sperrt, wird er aufhören zu singen."

Weibliche Globetrotter galten als größter Irrtum

Eine Blütezeit erleben Frauenzirkel, die gegründet wurden, um sich aus Zwängen wegzudenken, die Phantasie anzuregen und die Wissbegierde zu stillen, im viktorianischen England. Da waren die Geschlechterrollen in Stein gehauen: Sogenannte Männer von Stand saßen in ihren Clubs, rauchten Zigarren und scheffelten Millionen mit der Ausbeutung der sich langsam, aber unaufhaltsam organisierenden Arbeiterklasse. Ihre Frauen bestellten das Haus, waren mit der Aufzucht der Kinder beschäftigt, mit der Kontrolle des Gesindes und "auf Grund ihres Geschlechts und ihrer körperlichen Verfassung für Reisen ungeeignet". Befand jedenfalls die Royal Geographical Society. Mithin seien weibliche Globetrotter "einer der größten Irrtümer des 19. Jahrhunderts".

Das war Unfug, siehe Merian oder die immer mehr werdenden "victorian lady travellers". Aber der dominante Teil des Zeitgeists machte die Schotten dicht und dichter. Ausgerechnet eine Frau – Königin Victoria, die 1837 den Thron bestieg und 67 Jahre regieren sollte – sprach Frauen alle Rechte ab. Sie durften nicht klagen, schon gar nicht auf Scheidung, sie hatten keine Hoheit über die Finanzen, auch wenn es die eigenen, in die Ehe mitgebrachten waren. Es sei, schrieb die übrigens alleinherrschende Königin, eine "verrückte, sündhafte Narretei" für Frauenrechte einzutreten, die "mit aller Kraft eingedämmt werden muss: Frauen werden zu den hassenswertesten, herzlosesten und abstoßendsten Geschöpfen, wenn man ihnen erlaubt, ihr Geschlecht zu verleugnen".

Frauen eroberten sich die Welt in ihrer Phantasie

Also eroberten sich Frauen die Welt im Kopf, in ihrer Fantasie, in Gesprächen und über Wissensdurst und Fernweh. Viele Briefe, die nie eine Buchdruckerei sahen, wurden handschriftlich vervielfältigt und eroberten im Schneeballsystem Salons, Lese-, Vorlese- oder Erzählzirkel. Reise- wie Abenteuerlust und Freiheitsdrang wurden gestillt und geweckt zugleich. Zum Beispiel durch die Gattin des Botschafters am Osmanischen Hof. Sie lebte Anfang des 18. Jahrhunderts vorübergehend in Konstantinopel und wünschte sich, "dass die Welt sehen möge, wie die Damen weit besseren Nutzen aus Reisen zu ziehen wissen als die Herren". Diese Welt nämlich sei überladen "von Männerreisen, alle mit denselben Belanglosigkeiten angefüllt". Eine Dame dagegen, schrieb eine ihrer Freundinnen zurück, "hat die Fähigkeit, neue Wege zu gehen und ein abgenutztes Gebiet mit einer Vielfalt von frischer und eleganter Unterhaltung zu verschönern". Nichts sei schöner, heißt es in einer dritten Replik, als nach Lektüre oder Vortrag "die Augen zu schließen und in die Welt der eigenen Vorstellung einzutauchen".

Wenn schon nicht reisen, dann wenigstens träumen. Lady Mary war ebenfalls lange auf der Suche nach einem Verleger. Erst 1767 und ein Jahr nach ihrem Tod erscheinen die "Briefe aus dem Orient". "Ihren dauerhaften Erfolg verdanken sie einerseits ihrer literarischen Qualität und Originalität und dem unterhaltsamen Ton, um den sich die Schreiberin stets bemüht", heißt es in einer der vielen Corona-Leselisten im Netz. Und sie stellen "ein einzigartiges Dokument dar, das Zeugnis von der Offenheit und Toleranz ihrer Verfasserin gegenüber der fremden Kultur ablegt". Inklusive ihres Engagements, die Pockenimpfung populär zu machen.

Natürlich stammen die Klassiker der Reiseliteratur von Männern, allen voran die drei J: Johann-Wolfgang von Goethe, Joseph von Eichendorff und Jules Verne. Forschen konnte erst recht nur der Mann, denn Frauen wurde sowohl Kühnheit als auch Kraft abgesprochen. Bildungsreisende waren ebenfalls männlich. Sie wurden von ihren adeligen und/oder stinkreichen Familien auf Grand Tour geschickt – aus Angabe, reinem Selbstzweck oder im Idealfall, um den Horizont zu erweitern und Sprachen zu lernen. Häufig waren sie in Begleitung eines älteren Gelehrten, der Ablenkungen ("Wein, Weiber, Würfel") fernhalten sollte.

Ida Pfeiffer beglückte ihre Fans mit Gruseligem

Wieder daheim, mochten die Männer ihren Wissenszugewinn nur mit ihresgleichen teilen, wozu Frauen, egal welchen Standes, nun mal leider nicht zählten. Trotzdem lernten sie, ob aus Adel oder Bürgertum, immer mehr eigene Quellen anzubohren. Mit den Schilderungen fremder Welten wuchs der Freiheitsdrang, geographisch und politisch. "If all Men are born Free, how is it that all Women are born Slaves?”, fragt die Frauenrechtlerin Mary Astell schon 1730 (!), eine der Freundinnen von Lady Mary.

Die Ausbrecherinnen mussten sich dabei über absurde Konventionen hinwegsetzen. Etwa die, wonach frau schon deshalb – außerhalb von Kutschen – nicht fernreisen darf, weil als anständig nur galt, wer keine Knöchel zeigte. Die Wienerin Ida Pfeiffer appellierte an NachahmerInnen, nicht "nur auf Eisenbahnen, Dampfschiffe und Postgelegenheiten" zu setzen. Die gesellschaftspolitische Begründung: den "Hochgenuss eines guten Bettes oder Bissens" könne nur würdigen, wer nicht denke, "so etwas könne gar nie fehlen".  

Die Tochter eines wohlsituierten Kaufmanns, die in Kinderjahren genauso erzogen wurde wie ihre Brüder, teilte sich ebenfalls per Brief mit. Sie bediente nicht nur Wissensdrang, Fernweh und den Wunsch nach klaren Botschaften ("Eine Frau mit festem Willen kann in der Welt ebenso gut fortkommen wie ein Mann"), sondern begeisterte ihre Fans mit Gruseligem. Am berühmtesten wird die sich schnell verbreitende Geschichte von den Kopfgeldjägern auf Sumatra, die es nach ihren eigenen Schilderungen auf sie abgesehen hatten: "Ich klopfte dem Vordersten, der sich am meisten an mich herandrängte, freundlich auf die Schulter und sagte mit heiterer, lächelnder Miene, halb Malaiisch, halb Battakisch: 'Ihr werdet eine Frau nicht töten und auffressen, am wenigsten eine so alte wie ich bin, deren Fleisch schon hart und zähe ist.'"

Aber selbst wenn mit den Frauen auf Reisen, den Forscherinnen und Abenteuerinnen schon mal die eigene Fantasie durchgegangen sein sollte, regte das doch vor allem den Hunger nach neuen Schilderungen an. "Es gibt immer mehr zu erzählen", schreibt Mary Astell einmal und freut sich über die vielen "anregenden Stunden".

Da stand und steht Boccaccios Decamerone aus dem 14. Jahrhundert Pate: Zehn junge Leute fliehen vor der Pest in Florenz aufs Land und erzählen sich zehn Tage lang phantasievolle Geschichten – mehr Frauen als Männer übrigens, frönten Ablenkung von der Pandemie. Ihr ökologischer Fußabdruck ist heute besonders nachahmenswert. Eine der berühmtesten Übersetzungen des Decamerone wurde in Stuttgart neuverlegt. 1860, als Kopfreisen gerade en vogue waren. Nicht zum letzten Mal.


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