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Im Taumel der Geschichte

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Von Burgern, Busen und Egon Krenz: Am 9. November 1989 stürzte die Mauer ein. Beobachtungen und Erinnerungen eines Berliners (West).

Die Weltgeschichte hatte sich das falsche Datum ausgesucht. Der 9. November fiel 1989 auf einen Donnerstag, und donnerstags spielen wir traditionell Doppelkopf. Und so saßen wir wie stets in der "Pinte", Lausitzer Platz, Kreuzberg, auf dem Tisch Biergläser und Münzen, der Punkt kostete 10 Pfennige. Es muss nach 22 Uhr gewesen sein, als am Tresen Unruhe aufkam. Drei Männer verlangten nach Getränken und wedelten mit eigenartigen Geldscheinen. "Aus dem Osten seid ihr?", rief Hassan, der libanesische Wirt, ungläubig. Dann goss er drei Gläser voll. Der 10-Mark-Schein aus der DDR hing noch jahrelang am Regal mit den Schnapsflaschen, ein historisches Dokument.

"Sollen wir uns das Spektakel nicht angucken? Die Mauer ist nur ein paar Schritte von hier", sagte einer aus unserer Doppelkopfrunde. "Leg 'ne Karte hin", war die Antwort, "die Weltgeschichte muss warten."

Von wegen warten. In den Tagen danach lief ich Unter den Linden herum, hörte einer Kundgebung am Lustgarten zu, streunte durch die Räume der Humboldt Universität, las Flugblätter. Überall raunender Aufruhr. Die alte Welt, sie taumelte. Denn ich war ohne Visum durch die stets streng bewachte Grenze gekommen. Die Uniformierten am Übergang Invalidenstraße hatten meinen Presseausweis angeglotzt und waren von der plumpen Lüge verunsichert, die DDR-Regierung habe vor wenigen Minuten neue Regelungen für Journalisten erlassen.

Es fehlte jedes Maß

Die Welt, sie raste. Honecker war Geschichte. Menschen in stonewashed Jeans schleppten Paletten mit Coladosen nach Osten. Der türkische Betreiber unseres Zeitungskiosks erzählte heiter, er habe keine Pornos mehr und keinen "Playboy", auch Fachmagazine für Aquarianer seien ausverkauft. DDR-Bürger zeigten enorme Lust auf Brause, Brüste und Goldfische.

Wir fuhren mit dem Rad ins Berliner Umland und versanken im Sand. Wir kauften Fahrräder mit breiteren Reifen. Wir staunten über Brandenburger Gärtner, die splitternackt ihre Rosen schnitten. Wir reisten nach Quedlinburg und hatten Angst, ein heftiges Husten würde die mittelalterlichen Häuser zum Einsturz bringen. Beim Wandern in der Sächsischen Schweiz verlangten sie 140 DM für ein Zimmer, es fehlte jedes Maß. Es war die kurze Zwei-Währungs-Zeit. In einer Stralsunder Gaststätte zahlten wir die panierten Schnitzel mit Ost-Mark und das Bier mit DM, denn das Bier wurde schon aus einer West-Brauerei geliefert. Alles war exotisch, doch anderswo fand ich in der Fremde das Exotische bunt und schillernd. Die DDR hingegen wirkte wie eine Fotografie in schwarz-weiß (dabei war West-Berlin schon grau).

Was sich verändert hat in diesen dreißig Jahren? Äußerlich alles. Nehmen wir Kreuzberg, zum Beispiel. Der Stadtteil lebte im Windschatten der Mauer quasi verkehrsberuhigt. Seine Ränder waren heruntergekommen, die Häuser marode. Wer über die Mauer schaute, sah dort Ödnis, Kriegsruinen, Industriebrachen. Die Spree war ein totes Gewässer. Längst pulsiert hier das Leben. Teure Lofts sind entstanden, Clubs boomen, preiswerte Hotels sprießen, die Gewerkschaft Verdi hat ihre Zentrale ans Ufer gebaut, die Mietpreise steigen dramatisch und zertrümmern das soziale Gefüge. Touristen mit dem Smartphone vor der Nase suchen die hipste Strandbar. Kreuzberg ist geografisch ans Zentrum gerückt: zehn Minuten per Fahrrad zum Gendarmenmarkt, zum Ostbahnhof, zum Potsdamer Platz. Über die Oberbaumbrücke, die Friedrichshain (Ost) mit Kreuzberg (West) verbindet, ziehen spätnachts trunkene Karawanen junger Easyjettler mit Flaschen in der Hand. Häuser werden nicht mehr besetzt, sie werden von Konzernen gekauft, die ihren Anlegern erstaunliche Profitgarantien geben. Vor '89 kannte ich niemanden, der eine Eigentumswohnung hatte. Vorbei, auch das. Die einst entspannte Subventionsmentalität ist einer Goldgräbergier gewichen; die Privilegierten kennen die aktuellen Quadratmeterpreise, der Rest macht sich Sorgen.

Ost und West heute: verzahnt wie ein Reißverschluss

Wer in diesen Tagen nach Spuren der Mauer sucht, tut sich auch bei guter Ortskenntnis schwer. Ost und West sind verzahnt wie ein sauber schließender Reißverschluss. Als grobe Orientierung kann gelten: Wo mehrere teure Neubauten stehen, war Grenzgebiet. Nur an wenigen Stellen wird der Mauerverlauf durch Kopfsteinpflaster symbolisiert, man muss schon Urbane Archäologie studieren, um das zu finden. Ich selbst kann die alte Grenze noch ganz gut spüren. Als Student bin ich jahrelang Taxi gefahren, im Westen der Stadt orientiere ich mich recht souverän. Wenn ich mal leicht unsicher werde, weiß ich: hey, Osten!

Die neue Zeit lässt sich auch ganz gut mit der Nase erschnuppern. Denn das alte Berlin stank zum Himmel. Im Winter mischten sich die Schwaden aus Steinkohle (West) und Zweitaktmief /Braunkohle (Ost) zu einer giftig-stinkenden Wolke. Selbst an den sonnigen, blauhimmeligen Tagen blieben die Fenster geschlossen; die Wohnung zu lüften getrauten sich nur Masochisten. Dagegen ist Berlin inzwischen olfaktorisch ein Ökodorf mit 3,7 Millionen Einwohnern.

Und das grüne Umland erst mit seinen Seen, Kanälen, Alleen ... Anfangs ging es nur darum, einen Ausflug am Wochenende unversehrt zu überleben. Adressen von passablen Cafés und Würstchenbuden wurden als Geheimtipps gehandelt. Nun fahren wir abends auf einen Spargelhof nach Beelitz oder kaufen auf Biomärkten Rücken vom Weidelamm, Teltower Rübchen und alte Apfelsorten. Kulinarisch lebt Berlin heute in einer anderen Galaxie.

Dies alles ist selbstverständlich geworden, und dieses Gefühl wird sich verstärken. Rund vier Millionen Menschen sind in den 30 Jahren seit dem Mauersturz neu in die Stadt gezogen (und 3,5 Millionen wieder weg) – fast zwei Millionen davon waren Ausländer (1,3 Millionen sind schon nicht mehr da). Sie alle bewegen sich und begegnen sich ohne Ressentiments und den Ballast der Historie. West? Ost? Zwei meiner früheren Kolleginnen stammen aus dem Ruhrgebiet und wohnen in Prenzlauer Berg und Mitte. Mein jüngster Kollege wurde in Ost-Berlin geboren, er lebt in Schöneberg; der aus Brandenburg ist Kreuzberger – und Wohneigentümer.

Ich muss schon lange sinnieren, um noch Szenen der Vergangenheit wach zu rufen. Eine geht so: Gut eine Woche nach dem 9. November stand ich am Grenzübergang Oberbaumbrücke und verkaufte an DDR-Bürger, die hier zu Fuß die Grenze überschritten, zum Kurs von 1:1 die taz, bei der ich arbeitete; Wolf Biermann hatte zwei Seiten über Egon Krenz ("Das ewiglachende Gebiss") geschrieben. Die meisten grüßten fröhlich, nahmen die ihnen unbekannte Zeitung und warfen ihre Münzen in einen Putzeimer, der als Kasse diente; mit einer Geste, als sei die Ost-Mark jetzt schon nichts mehr wert. Hinter mir stand ein kleiner Lastwagen, an dem jedem Ankömmling aus dem Osten eine goldene Krone aus Pappe auf den Kopf gesetzt wurde – von den Mitarbeitern einer US-amerikanischen Burgerkette. Der Bürger war jetzt King. So machten sich die neu Gekrönten mit der taz unterm Arm auf in Richtung Kurfürstendamm. Würde schon gern wissen, was sie sich gedacht haben.


Der Autor, bis zum Abitur in Heilbronn am Neckar wohnhaft, lebt seit 1973 in Berlin. In diesem Jahr fällt der 9. November auf einen Samstag, da wird nicht Doppelkopf gespielt. Allerdings kickt ab 18.30 Uhr Bayern München gegen Borussia Dortmund, da sollte sich zwei Stunden lang möglichst nichts Welthistorisches ereignen.


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