Was sich verändert hat in diesen dreißig Jahren? Äußerlich alles. Nehmen wir Kreuzberg, zum Beispiel. Der Stadtteil lebte im Windschatten der Mauer quasi verkehrsberuhigt. Seine Ränder waren heruntergekommen, die Häuser marode. Wer über die Mauer schaute, sah dort Ödnis, Kriegsruinen, Industriebrachen. Die Spree war ein totes Gewässer. Längst pulsiert hier das Leben. Teure Lofts sind entstanden, Clubs boomen, preiswerte Hotels sprießen, die Gewerkschaft Verdi hat ihre Zentrale ans Ufer gebaut, die Mietpreise steigen dramatisch und zertrümmern das soziale Gefüge. Touristen mit dem Smartphone vor der Nase suchen die hipste Strandbar. Kreuzberg ist geografisch ans Zentrum gerückt: zehn Minuten per Fahrrad zum Gendarmenmarkt, zum Ostbahnhof, zum Potsdamer Platz. Über die Oberbaumbrücke, die Friedrichshain (Ost) mit Kreuzberg (West) verbindet, ziehen spätnachts trunkene Karawanen junger Easyjettler mit Flaschen in der Hand. Häuser werden nicht mehr besetzt, sie werden von Konzernen gekauft, die ihren Anlegern erstaunliche Profitgarantien geben. Vor '89 kannte ich niemanden, der eine Eigentumswohnung hatte. Vorbei, auch das. Die einst entspannte Subventionsmentalität ist einer Goldgräbergier gewichen; die Privilegierten kennen die aktuellen Quadratmeterpreise, der Rest macht sich Sorgen.
Ost und West heute: verzahnt wie ein Reißverschluss
Wer in diesen Tagen nach Spuren der Mauer sucht, tut sich auch bei guter Ortskenntnis schwer. Ost und West sind verzahnt wie ein sauber schließender Reißverschluss. Als grobe Orientierung kann gelten: Wo mehrere teure Neubauten stehen, war Grenzgebiet. Nur an wenigen Stellen wird der Mauerverlauf durch Kopfsteinpflaster symbolisiert, man muss schon Urbane Archäologie studieren, um das zu finden. Ich selbst kann die alte Grenze noch ganz gut spüren. Als Student bin ich jahrelang Taxi gefahren, im Westen der Stadt orientiere ich mich recht souverän. Wenn ich mal leicht unsicher werde, weiß ich: hey, Osten!
Die neue Zeit lässt sich auch ganz gut mit der Nase erschnuppern. Denn das alte Berlin stank zum Himmel. Im Winter mischten sich die Schwaden aus Steinkohle (West) und Zweitaktmief /Braunkohle (Ost) zu einer giftig-stinkenden Wolke. Selbst an den sonnigen, blauhimmeligen Tagen blieben die Fenster geschlossen; die Wohnung zu lüften getrauten sich nur Masochisten. Dagegen ist Berlin inzwischen olfaktorisch ein Ökodorf mit 3,7 Millionen Einwohnern.
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