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Die vergessenen Widerständigen

Die vergessenen Widerständigen
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Eine neue Gedenkstele soll an alle Menschen erinnern, die sich im Raum Pforzheim der Nazi-Diktatur widersetzten – und führt via QR-Code zu einer Datenbank mit Infos zu rund 800 Widerständigen. Bundesweit ist das in dieser Breite bislang einmalig.

Widerstand gegen den Nationalsozialismus? Da dürften den meisten auf Anhieb wohl nur wenige Namen einfallen. Klar, der notorische Stauffenberg, die Geschwister Scholl und vielleicht noch, immerhin, der Königsbronnner Georg Elser als Vertreter der einfacheren Leute. Was auch daran liegen mag, dass all deren Schicksal schon mehrfach verfilmt und dadurch popularisiert wurde.

Dem Herrschaftsanspruch und der Ideologie der Nazis widersetzten sich aber auch viele andere, deren Namen heute kaum noch jemand kennt, und sie taten das auf sehr unterschiedliche Weise. Zum Beispiel Helene und Heinrich Fausel aus Heimsheim: Die Mitglieder der Bekennenden Kirche versteckten ein jüdisches Ehepaar aus Berlin, das vor der drohenden Deportation untergetaucht war. Oder Valentine Stickel, KPD-Mitglied. Sie hat sich an der Fluchthilfe für einen Genossen beteiligt, hat Flugblätter über die Folterung Ernst Thälmanns verteilt, saß unter anderem wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" zwischen 1935 und 1937 zweimal für insgesamt 19 Monate im Gefängnis und wurde auch danach noch von der Polizei überwacht. Oder Karl Schroth, Gewerkschafter und Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei SAP, der illegale Schriften verteilt, Fluchthilfe für Verfolgte leistet und dafür zwei Jahre im Gefängnis sitzt.

Und dann gibt es die Fälle, die sich nicht so leicht in eine Gruppe wie kommunistischer, sozialistischer oder kirchlicher Widerstand einordnen lassen. Etwa die Kriegsgegnerin Eva Schönaich, die nach Beginn des Überfalls auf Polen in der Nacht zum 2. September 1939 einen Ziegelstein auf die Scheibe der Pforzheimer NSDAP-Kreisleitung wirft, dafür zwei Wochen in Haft kommt, einige Wochen später wegen Körperverletzung angeklagt wird, weil sie einen Wehrmachtsangehörigen geohrfeigt hatte, und daraufhin als "gefährliche Geisteskranke" in die Anstalt Reichenau eingewiesen wird. Oder auch die in Strasbourg geborene, wahrscheinlich zwangsweise dienstverpflichtete "Hilfsarbeiterin" Luzia Schell, die im Oktober 1943 wegen "Teilnahme an einer unerlaubten Tanzveranstaltung" in der Pforzheimer Gaststätte "Seehaus" verhaftet wird und 24 Stunden in polizeiliches Gewahrsam kommt. Hintergrund: Nach einer Polizeiverordnung des Reichsinnenministeriums vom Januar 1942 sind bei Androhung von bis zu sechs Wochen Haft alle "öffentlichen Tanzlustbarkeiten" verboten.

Den Menschen Namen und Gesicht geben

Die Genannten gehören zu rund 800 widerständigen Menschen, die in der NS-Zeit im Raum Pforzheim lebten oder dort in Gefangenschaft waren, und an die ab Mittwoch, den 8. Mai, mit einer Gedenkstele vor der ehemaligen Pforzheimer Gestapo-Außenstelle in der Bahnhofstraße erinnert wird. Und über die man bei Interesse viel erfahren kann: Über einen QR-Code auf der Stele gelangt man zu einer parallel zur Enthüllung freigeschalteten, interaktiven <link https: www.pforzheim.de stadt stadtgeschichte gedenken widerstand-im-2-weltkrieg.html _blank external-link-new-window>Online-Datenbank, die zu jeder und jedem einzelnen der 800 kurze biografische Texte und Quellennachweise bietet und, soweit es aufzutreiben war, auch ein Foto.

Dies, die möglichst umfassende Dokumentation von Einzelpersonen des Widerstands gegen das NS-Regime, ist bislang bundesweit einmalig. Zwar gibt es in Göttingen bereits eine Erinnerungstafel mit ähnlichem Ansatz: An der dortigen Stadtbibliothek, wo in der NS-Zeit die Polizeiwache samt Gefängnis untergebracht war, steht auch eine Erinnerungstafel, die via QR-Code auf die <link http: stadtarchiv.goettingen.de widerstand external-link-new-window>Seite des Stadtarchivs führt, die alle Arten von Widerstand aufführt. Sie gliedert dies aber in Organisationen, Motiv- und Delikt-Gruppen, und nur teilweise gelangt man auch zu Biografien.

„Unser Ansatz geht anders herum“, sagen Brigitte und Gerhard Brändle, die gemeinsam mit Hans Ade, Andrew Hilkowitz, Frank Neubert und Jürgen Schroth das Projekt initiiert haben. Denn in Pforzheim gelange man in der Datenbank erst zu den Menschen, auch wenn sich interaktiv viele Verknüpfungen zu Gruppen, Berufen, weltanschaulichen oder religiösen Orientierungen oder Haftorten herstellen lassen. Das Ziel ist dabei explizit, diesen heute oft vergessenen Menschen Name und Gesicht zu geben, die Motivationen für ihr Handeln und damit letztlich Geschichte nachvollziehbar zu machen.

Was ist Widerstand?

Gemein mit der Göttinger Dokumentationsseite ist dem Pforzheimer Projekt eine bewusst weite Definition von Widerstand und widerständigem Handeln. „Die Datenbank enthält all die Menschen, die sich in Wort, Schrift und Tat nicht dem Machtanspruch der NS-Diktatur beugten beziehungsweise auch schon vor 1933 vor der Gefahr des Faschismus warnten“, so die Brändles. Dies folgt einem Widerstandsverständnis, das auch die Gedenkstelle Deutscher Widerstand in Berlin vertritt, ebenso wie die Mannheimer Historikerin Angela Borgstedt, die die Forschungsstelle Widerstand gegen den Nationalsozialismus im deutschen Südwesten leitet. Dieses Verständnis setzt sich, beginnend in den 1970ern, in der Forschung mehr und mehr durch, entgegen dem sehr engen „intentionalistischen Ansatz“, der Widerstand auf organisierte Versuche zur Bekämpfung des NS-Regimes begrenzt.

Die Pforzheimer Stele und die dazugehörige Datenbank füllen eine Lücke, die eigentlich schon lange gefüllt werden sollte. Bereits 1970 gibt die Stadt Pforzheim eine Dokumentation zur Geschichte des Widerstandes in Auftrag. Immer wieder gibt es Veröffentlichung zu einzelnen Widerstandsgruppen, aber keine umfassende Darstellung. Dabei hatte schon 1994 der Pforzheimer Erste Bürgermeister Siegbert Frank neue Schritte der Stadtverwaltung angekündigt, "um das Andenken an die politischen Gegner Hitlers aus Pforzheim wach zu halten."

Wie bei vielen anderen Projekten zur NS-Erinnerung – auch in Stuttgart (<link https: www.kontextwochenzeitung.de zeitgeschehen strohfeuer-der-erinnerung-325.html external-link-new-window>Kontext berichtete) war es bürgerschaftliches Engagement, das letztlich zur Füllung der Leerstellen beitrug. Aber als die InitiatorInnen Ade, die Brändles, Hilkowitz, Neubert und Schroth im März 2018 einen Antrag bei Oberbürgermeister Peter Boch (CDU) stellten und sich mit diesem im Mai zu einem Gespräch trafen, schienen sie offene Türen einzurennen: "Nach fünf Minuten Gespräch hat er klar gesagt: Das machen wir", erinnert sich Gerhard Brändle, "es mag auch geholfen haben, dass wir einen großen Kreis an Unterstützern hinter uns hatten" – dazu gehörten etwa AltstadträtInnen von CDU, FDP, SPD und Grünen, GewerkschafterInnen, VertreterInnen der evangelischen, katholischen und jüdischen Gemeinden oder von Jugendverbänden. Zwar habe es Versuche Einzelner gegeben, die kommunistischen Widerstandskämpfer aus der Datenbank herauszuhalten, doch ohne Erfolg. Das Projekt fand ohne solche Einschränkungen auch beim Kulturausschuss des Gemeinderats Zuspruch, 10 000 Euro wurden für Stele und Datenbank in den Haushalt eingestellt.

Die Datenbank ist "work in progress", Vieles ist noch nicht ausgewertet

Nichts davon floss freilich in den umfangreichen Forschungsaufwand, den vor allem die Brändles trugen. Schon seit mehreren Jahrzehnten sammeln sie Material über den Widerstand im Raum Pforzheim, als die Umsetzung des Projekts konkreter wurde, kamen noch umfangreiche Archivrecherchen hinzu. "Welche Ausmaße das annimmt, hätten wir vor einem Jahr nicht geahnt", sagt Brigitte Brändle, und ihr Mann ergänzt: "Wir waren etwa bei 130 Besuchen im Generallandesarchiv Karlsruhe, haben circa 1800 Akten ausgewertet, insgesamt rund 2100 Arbeitsstunden. Wenn die Stadt einen Historiker mit Werkvertrag damit beauftragt hätte, wäre das Projekt wohl an den Kosten gescheitert". Was auch die Pforzheimer Kulturamtsleiterin Angelika Drescher indirekt bestätigt: "Diese Stele ist ohne das Engagement der genannten Initiatoren nicht vorstellbar".

Neben den Akten des Landesarchivs werteten die Brändles noch diverse andere, bislang von der veröffentlichten Literatur unerschlossene Quellen aus, etwa aus dem Archiv der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschisten) aus dem Staatsarchiv Ludwigsburg oder noch unveröffentlichten Quellen von mittlerweile verstorbenen Widerständlern, die sie persönlich kannten, darunter auch Karl Schroth. Und einige Quellen, wie die Bestände des Internationalen Suchdienstes (IST) Arolsen sind noch gar nicht ausgewertet, außerdem fehlen bei manchen Personen noch Angaben, da Akten noch gesperrt sind. "Deswegen ist die Datenbank noch nicht abgeschlossen, sondern 'work in progress'", so die Brändles.

Ein Viertel Frauen unter den Dokumentierten

Einige interessante Ergebnisse ermöglicht die Analyse der Daten schon jetzt: So liegt der Frauenanteil unter den Widerständigen bei 26 Prozent – deutlich höher als bei bisherigen Forschungen. Was auch damit zu tun haben könnte, dass Frauen mit Verurteilungen wie "Verbotener Umgang" oder "Arbeitsverweigerung" dort keinen Eingang fanden, wie die Brändles vermuten. Bemerkenswert auch die beruflichen Hintergründe: Nur 4,5 Prozent waren Akademiker, der größte Teil derer, die sich den Nazis widersetzten, kam aus der Arbeiterschaft.

Am 8. Mai um 16 Uhr wird die Stele in der Bahnhofstraße nun enthüllt, das Datum – der Jahrestag des Kriegsendes 1945 und damit der Befreiung von der NS-Diktatur – ist mit Bedacht gewählt. Und mit der Datenbank wird auch etwas erfüllt, was Kontext-Autor Thomas Rothschild vor sieben Jahren anlässlich einer Schau im Haus der Geschichte zum Widerstand <link https: www.kontextwochenzeitung.de debatte der-verdraengte-widerstand-963.html external-link-new-window>bemängelt hatte: "Was in der Ausstellung fehlt, sind die zahlreichen Hilfeleistungen anonymer 'kleiner' Menschen. Sie, mehr noch als die 'Helden', belegen, dass Zivilcourage möglich ist, dass 'anständig gehandelt' wurde und werden muss, auch und gerade wo es nicht um Tod oder Leben geht."

Die Chance, auch heute in diesem Sinne zu handeln, bietet sich am kommenden Samstag, den 11. Mai, in Pforzheim. Denn für diesen Tag hat die Partei "Die Rechte", die mit Slogans wie "Israel ist unser Unglück" kaum verhohlen antisemitische Positionen vertritt und auch sonst in ihrer Wortwahl nahe an den alten Nazis ist, einen Aufmarsch angekündigt. Das Bündnis <link https: igrpf.blogspot.com external-link-new-window>"Pforzheim nazifrei" hat zu einer Gegendemonstration um 13 Uhr am Bahnhofsvorplatz aufgerufen, und auch die Brändles werden da sein – und die Geschichte der Deportationen in der NS-Zeit von jenem Bahnhof aus erzählen.


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3 Kommentare verfügbar

  • Elisabeth Dilger
    am 11.05.2019
    Antworten
    In dem Artikel von Oliver Stenzel wird Georg Elser als" Vertreter der einfachen Leute" bezeichnet. Was das Adjektiv"einfach"bedeutet, bleibt offen. Was ist bei Georg Elser einfach? Ist es sein Charakter, seine Persönlichkeit, seine berufliche Tätigkeit, seine Herkunft? ich finde, der Begriff…
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