KONTEXT:Wochenzeitung
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Verschleppte Erinnerung

Verschleppte Erinnerung
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An die Opfer der NS-Justiz in Stuttgart soll nach jahrzehntelangen Bemühungen in einer Ausstellung erinnert werden. Erst fehlte das Budget, doch am Montag erklärte das Justizministerium überraschend: Die Finanzierung steht.

"Ich möchte, dass man weiß, dass es keinen namenlosen Helden gegeben hat. Dass es Menschen waren, die ihren Namen, ihr Gesicht, ihre Sehnsucht und ihre Hoffnungen hatten …" Diese Sätze schrieb der tschechische Schriftsteller, Journalist und Widerstandskämpfer Julius Fucik in seinem letzten Brief, bevor ihn die Nazis am 8. September 1943 in Berlin-Plötzensee erhängten. Fuciks Zitat ist für Brigitte und Gerhard Brändle Auftrag und Motivation. Das Ehepaar aus Karlsruhe, sie früher Lehrerin an einem Abendgymnasium, er ehemaliger Realschullehrer, forscht seit Jahren über französische Widerstandskämpfer, die in der NS-Zeit in Deutschland ermordet wurden, und versucht, ihnen das zurückzugeben, was Fucik forderte: Name, Gesicht, ihre Würde als Menschen. Schon mehrmals hat Kontext über ihre Recherchen berichtet, etwa über eine Gruppe Eisenbahner aus Dijon, die im Stuttgarter Justizgebäude hingerichtet wurden (<link https: www.kontextwochenzeitung.de zeitgeschehen von-den-nazis-gekoepft-2365.html internal-link-new-window>Teil 1 und <link https: www.kontextwochenzeitung.de zeitgeschehen erschiessen-oder-koepfen-2402.html internal-link-new-window>Teil 2). Seitdem haben sie unter anderem über eine Widerstandsgruppe aus dem Elsass, die Wodli-Gruppe, recherchiert, ihr <link https: www.kontextwochenzeitung.de zeitgeschehen die-sonne-sehe-ich-nicht-mehr-aufgehen-5171.html internal-link-new-window>Forschungsbericht in der aktuellen Kontext-Ausgabe ist die erste deutschsprachige Publikation dazu.

Acht Mitglieder der Wodli-Gruppe wurden im Juni 1943 im Lichthof des Justizgebäudes in der Stuttgarter Urbanstraße hingerichtet. An deren Namen erinnert dort heute nichts – und auch nicht an die aller anderen, mindestens 422 zwischen 1933 und 1944 hier hingerichteten Menschen. Seit 1994 hängt am Rande des Landgerichts immerhin eine Gedenktafel, die freilich kaum einer entdeckt. Mit rotem Marmor auf rotem Sandstein ist sie geradezu getarnt, außerdem inhaltlich sehr allgemein gehalten: "Den Opfern der Justiz im Nationalsozialismus zum Gedenken. Hunderte wurden hier im Innenhof hingerichtet. Den Lebenden zur Mahnung". Dort, wo sich in dem im Krieg zerstörten Vorgängerbau die Hinrichtungsstätte befand, ist heute ein Parkplatz – "eine unwürdige Situation", wie <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne das-gedenken-sichtbar-machen-4645.html internal-link-new-window>Kontext-Autor Dietrich Heißenbüttel vergangenes Jahr urteilte.

Schwer genug war es schon, allein diese unauffällige Gedenktafel aufzustellen. Dass es gegen langjährigen Widerstand aus Kreisen der Justiz schließlich doch gelang, ist im wesentlichen den Bemühungen des ehemaligen Verwaltungsrichters Fritz Endemann zu verdanken. 1989 hatte er, im Namen der damals noch jungen <link https: www.neuerichter.de external-link-new-window>Neuen Richtervereinigung, den Präsidenten des Oberlandesgerichts (OLG) Karlmann Geiß angeschrieben, um die Schaffung eines Mahnmals für die Opfer der NS-Justiz anzuregen. Obwohl Geiß aufgeschlossen gewesen sein soll, dauerte es mehrere Jahre, bis etwas geschah. "Bei der Landesjustizverwaltung bestand die Tendenz, das ganze Thema NS-Justiz auf das Sondergericht Stuttgart abzuladen", erinnert sich Endemann, "und auf dessen Vorsitzenden Wilhelm Cuhorst als Sündenbock". Unbeachtet geblieben wären etwa das OLG, das Landgericht und dessen "Rasseschutzkammer" oder die Außenstelle des Volksgerichtshofs, die ebenso für die juristische Umsetzung der NS-Ideologie sorgten.

Justizminister Goll interessierte sich nicht für die Aufarbeitung

Mit dem Bemühen, die Justiz im NS-Staat möglichst umfassend als verantwortlich für geschehenes Unrecht einzubeziehen, ist auch die sehr allgemeine Inschrift der Gedenktafel zu erklären. Sie war also schon ein Fortschritt gegenüber ursprünglichen Vorstellungen aus den Reihen der Justiz, aber andererseits ist sie "so allgemein, dass jemand, der zu diesem Thema nicht schon etwas weiß, mit dieser Inschrift herzlich wenig anfangen kann", meint Endemann.

Für ihn und seine Mitstreiter, und auch dem damaligen Landesjustizminister Thomas Schäuble (CDU), sei damals klar gewesen, "dass der Gedenkstein nur ein Anfang ist". Eine tiefer gehende Aufarbeitung, Forschung und Dokumentation sollten folgen. Doch nichts passierte, Jahre, Jahrzehnte lang. Auf Schäuble folgte 1996 der sportwagen- und kleinwaffenaffine Ulrich Goll (FDP), der, mit kurzer Unterbrechung zwischen 2002 und 2004, bis 2011 das Ressort bekleidete. Er und das ganze Ministerium waren, trotz wiederkehrender Bemühungen Endemanns, "dafür nicht ansprechbar".

Das änderte sich erst, als nach dem Regierungswechsel 2011 mit Rainer Stickelberger ein Sozialdemokrat und damit auch "ein neuer Geist ins Haus einzog", erzählt Endemann und fügt hinzu: "Dachten wir". Denn auch mit Stickelberger "ließ es sich erst zähflüssig an". Er schrieb dem neuen Justizminister im Juni 2011 erstmals in dieser Sache. Ein Jahr lang passierte nichts. Konkreter sei es erst geworden, als Endemann den ehemaligen Landtagsvizepräsidenten und SPD-Abgeordneten Alfred Geisel als Verstärkung gewinnen konnte. Nun engagierten sich die beiden gemeinsam für eine Fortsetzung der Aufarbeitung. Geisel beurteilt das Engagement seines Genossen im Ministerstuhl übrigens milder, sehr aufgeschlossen sei Stickelberger gewesen.

Bewegung kam endlich um 2013 in die Sache, als die beiden mit dem damaligen OLG-Präsidenten Franz Steinle und der Landgerichtspräsidentin Claudia Horz (die Steinle Ende 2017 als OLG-Präsidentin ablöste) in Kontakt kamen, die sich beide interessiert zeigten, die Justizgeschichte in der NS-Zeit weiter aufzuarbeiten und vor Ort zu vermitteln. Es gab erste Gespräche über ein konkretes Konzept, für die Umsetzung wurde das Haus der Geschichte (HdG) Baden-Württemberg mit ins Boot geholt. Anfang 2016 begann das HdG mit der Arbeit an dem Projekt, in regelmäßiger Abstimmung mit Endemann und Geisel. Auch das Ehepaar Brändle stellte Ergebnisse seiner Recherchen zur Verfügung. Ende 2017 stand das endgültige Konzept.

Auf Stelen sollen die Namen aller Hingerichteten stehen

Die Ausstellung soll sowohl im Innen- als auch im Außenbereich des Landgerichtsgebäudes in der Urbanstraße untergebracht sein, gegliedert in drei Teile: Im Flur im ersten Stock eine Dokumentation der nationalsozialistischen Strafjustiz: Die Urteilspraxis des Sondergerichts, der Strafsenate des OLG Stuttgart, des Landgerichts und der dort untergebrachten Rasseschutzkammer sowie des Volksgerichtshofs. Zweitens soll im offenen und großzügigen Treppenhaus an die Juristen aus dem Landgerichtsbezirk Stuttgart erinnert werden, die, beispielsweise weil sie Juden waren, verfolgt, ermordet, ins Exil oder in den Suizid getrieben wurden. Laut Endemann geht es hier um 107 Justizangehörige, von denen 21 zu Tode kamen.

Und schließlich soll auf dem Platz vor dem Haupteingang, nahe am jetzigen Gedenkstein, mit einem Stelenfeld an die im Lichthof des Justizgebäudes ermordeten Menschen erinnert werden. Auf sechs Stelen sollen, so HdG-Ausstellungsleiterin Paula Lutum-Lenger, alle 422 Namen stehen, Alter, Beruf, zur Last gelegtes Delikt, verurteilendes Gericht und das Datum der Hinrichtung, dazu ein kurzer erläuternder Text. Weitere biografische Details und, soweit vorhanden, Fotos sollen im begleitenden Katalog dokumentiert werden. Eine zusätzliche Dokumentation innerhalb der Ausstellung mittels einer digitalen Datenbank, in der man zu einzelnen Personen recherchieren kann – wie dies etwa im Hohenasperg-Museum umgesetzt ist –, sei zwar "in der Überlegung", so Lutum-Lenger, dem stünden aber momentan Brandschutzbedenken entgegen, konkret, die "Brandlast" von in einem Flur aufgestellten Monitoren, also die bei ihrer möglichen Verbrennung entstehende Wärme. Ob diese Gefahr wirklich so groß ist? Selbst Lutum-Lenger scheint skeptisch.

Erinnerungswoche im Stadtpalais

Immer noch gibt es erstaunlich viele Stellen der lokalen NS-Geschichte, die wenig aufgearbeitet sind. Unbekannt oder zumindest unterbelichtet blieb auch lange der Mord an Kindern im Rahmen des Euthanasieprogramms in Stuttgart. Erst die Forschungen Karl-Horst Marquarts in den vergangenen Jahren änderten dies allmählich (Kontext berichtete hier und hier). Nun veranstalten die AnStifter und die Stolperstein-Initiative Vaihingen vom kommenden Freitag, den 29. Juni, bis zum Samstag, den 7. Juli, unter dem Titel "Schlaf, Kindlein, Schlaf" im Stuttgarter Stadtpalais eine Erinnerungswoche zu den im Nationalsozialismus ermordeten Kindern.

In den zahlreichen Veranstaltungen soll es über dieses Thema hinaus auch allgemein um Erinnerungskultur gehen, darum, wie diese heute aussehen kann, ohne zu Gedenkroutine zu werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch künstlerische Umsetzungen, wie sie die Initiative "Stolperkunst" fördert und bündelt: Etwa die titelgebende Installation "Schlaf, Kindlein, schlaf!" von Susanna Giese, die im Foyer aufgestellt sein wird, oder die Ausstellung "Kinder, wir machen einen Ausflug!" der Malerin Mechthild Schöllkopf-Horlacher, die sich in ihren Bildern, teils mit bearbeiteten Originalfotos, mit dem Schicksal der von den Nazis verfolgten Kinder auseinandersetzt. (os)

Was indes noch völlig offen ist, wie Endemann bemerkt: "Was macht man mit dem Platz, wo die Guillotine aufgebaut wurde", dem heute als Parkplatz genutzten Ort der Hinrichtungsstätte? Er erzählt eine Geschichte aus einem Planungstreffen: "Als wir auf den Platz zu sprechen kamen, schlugen die Justizhäupter die Hände über den Kopf zusammen." Der Parkplatz, dies sei ihm vermittelt worden, sei "sakrosankt", da könne man nicht ran.

Doch nun bietet sich eventuell eine neue Möglichkeit: Schon Ende 2017 habe OLG-Präsidentin Horz gegenüber der Presse betont, auf dem jetzigen Parkplatz sei ein Erweiterungsbau geplant. Endemann hofft, dass dort dann auch an der entsprechenden Stelle ein Erinnerungsort entstehen kann. "Mir schwebt ein künstlerischer Wettbewerb vor, man könnte etwa einen düsteren Raum machen, ähnlich wie der Holocaust-Turm im Jüdischen Museum in Berlin." Von Seiten der Justiz gibt es dazu noch keine Äußerung.

Finanzierung plötzlich sicher

Etwa 150 000 Euro sollen die drei geplanten Elemente der fertig konzipierten Ausstellung kosten, deren Eröffnung ursprünglich für die erste Hälfte des Jahres 2018 geplant war. Doch die geplante Finanzierung über die Landesstiftung Baden-Württemberg kam nicht zustande, "aus welchen Gründen, ist etwas unklar", sagt Alfred Geisel. Und im Haushalt des Justizministeriums sei für den Posten kein Geld mehr, weswegen der Weg über einen Nachtragshaushalt gesucht wurde. Geisel hatte dafür schon die Fraktionen des Landtags angeschrieben – "die vier demokratischen, bei der AfD hat es ja keinen Sinn" – und von allen bis auf die CDU Zustimmung erfahren.

Die scheint nun gar nicht mehr nötig zu sein. Kurz vor Redaktionsschluss kam vom Justizministerium die Nachricht, dass "die Finanzierung des Ausstellungsprojekts gesichert" ist, so Ministeriumssprecher Robin Schray, und dass dafür kein Nachtragshaushalt nötig sei: "Die Finanzierung soll und kann nach derzeitigem Stand aus laufenden Haushaltsmitteln erfolgen." Wie ist dies plötzlich doch möglich? Justizminister Guido Wolf (CDU) habe sich "für eine schnelle Realisierung des Projekts eingesetzt und wird dies auch weiter tun", so Schray.

Momentan laufen schon konkrete Planungen zur Ausführung der Stelen und Ausstellungstafeln, auf deren Grundlage dann die Ausschreibung folgen solle, heißt es übereinstimmend aus Justizministerium und OLG. "Alle Beteiligten sind bemüht, dieses Projekt noch im Jahr 2018 zu realisieren", bekundet OLG-Sprecher Matthias Merz, ein genauer Termin stehe aber noch nicht fest.

Dass es soweit kam, ist ein Erfolg der unermüdlichen Arbeit von Menschen wie Fritz Endemann oder den Brändles. Und doch bleibt, angesichts der zähen, Jahrzehnte dauernden Bemühungen, die Justiz des Landes zur Aufarbeitung ihrer Vergangenheit zu bewegen, viel Bitterkeit. "Mir kocht die Galle angesichts dieser langen Verzögerungen", sagt Barbara Brändle. Mit vielen Töchtern und Söhnen von ermordeten französischen Widerstandskämpfern sind sie und ihr Mann in Kontakt. Menschen, die nie an einem Erinnerungsort von ihren Eltern Abschied nehmen konnten, Menschen, "für die sich jenseits des Rheins niemand interessiert hat." Immerhin will das Haus der Geschichte nun auch die vielen Kontakte der Brändles nach Frankreich nutzen, um Angehörige der Ermordeten zur Eröffnung der Ausstellung einzuladen.

Vor rund 50 Jahren schon, am 24. November 1968, hatte die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) zusammen ehemaligen französischen Widerstandskämpfern eine "Totengedenkfeier" vor dem Stuttgarter Justizgebäude abgehalten. Ein darauf hinweisendes Plakat hat das Ehepaar Brändle bei seinen Recherchen gefunden (Bild rechts). Fritz Endemann hatte damals gerade sein zweites Juristisches Staatsexamen gemacht, 20 Jahre später begann er, die Justiz des Landes an ihre Vergangenheit zu erinnern. Längst ist er im Ruhestand, es ist quasi sein Lebenswerk. "Dass man von 1989 an nur diese Inschrift hinbekam und mit so vielen Hindernissen diese ganze Zeit brauchte," – Endemann stockt kurz, als müsse er sich einen Kraftausdruck verkneifen – "das ist schon ein Ding für sich."


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4 Kommentare verfügbar

  • Philippe Ressing
    am 01.07.2018
    Antworten
    ...und wehe, wenn die "Fliegenschiss" Partei hoffähig werden sollte und ein Stück Macht bekommt....Die Gauleiters und von Storchs und die anderen Ewig- und Neu-Gestrigen werden jede Erinnerung an die deutsche Barbarei tilgen....
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