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Der blutige Beginn der Demokratie

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Die deutsche Revolution von 1918/19 wird vor dem Hintergrund der kurzlebigen Weimarer Republik und dem auf sie folgenden Nationalsozialismus oft als gescheitert bezeichnet. Der Stuttgarter Historiker und Journalist Wolfgang Niess will ihren Ruf retten.

Schicksalstag der deutschen Geschichte, als solcher wird der 9. November immer wieder beschworen. Positiv erinnert man sich meist an den Mauerfall 1989, unstrittige Tiefpunkte sind die Reichspogromnacht 1938 und der Hitler-Putsch in München 1923. Und die Revolution von 1918/19, die am 9. November 1918 das Kaiserreich zur Republik und den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum Reichskanzler machte, nachdem sie alle Monarchenthrone hinweggefegt hatte, was ist die?

Ein wenig bekanntes Kapitel in der deutschen Geschichte ist sie auf jeden Fall, diese deutsche Revolution. Als "Novemberrevolution" wird sie meist bezeichnet, was im Grunde schon unpräzise ist, denn sie dauerte bis ins Frühjahr 1919. Und die geläufigen Fixpunkte beschränken sich in der Regel auf den "Kieler Matrosenaufstand", der den Auftakt bildete, die doppelte Republikausrufung am 9. November in Berlin durch Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht sowie den sogenannten Spartakusaufstand im Januar 1919 (an dem sich die Spartakusgruppe erst recht spät beteiligte), nach dessen Niederschlagung Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von rechten Freikorps ermordet wurden.

Weil die Freikorps vom Sozialdemokraten Gustav Noske gerufen worden waren, verschärfte dies die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung, die schon im Ersten Weltkrieg über die Frage der Kriegskredite begonnen hatte. 1917 hatten sich von der SPD die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) abgespalten, Ende 1918 hatte sich aus der ebenfalls abgespaltenen Spartakusgruppe die KPD gebildet. Was mittelfristig auch die Fähigkeit der deutschen Linken schmälerte, sich dem Nationalsozialismus und dem Untergang der Weimarer Republik entgegenzustellen. Vor diesem Hintergrund dominieren noch heute vor allem die Sichtweisen einer gescheiterten, einer steckengebliebenen oder einer unvollendeten Revolution.

Wolfgang Niess wendet sich gegen solch negative Bewertungen. Die Revolution, so der Stuttgarter Journalist und Historiker, sei zwar hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben, aber nicht gescheitert, im Gegenteil, sie habe enorm viel erreicht: das Frauenwahlrecht etwa, die Verankerung von freiheitlichen und sozialen Grundrechten in der Verfassung, die Tarifpartnerschaft zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften. In vielerlei Hinsicht sei die heutige Bundesrepublik geprägt von dem, was die Revolutionsbewegung 1918 und 1919 erkämpft habe. "Der wahre Beginn unserer Demokratie" ist denn auch der Untertitel seines neu erschienenen Buches über die Ereignisse vor bald 100 Jahren.

Im Hauptberuf ist Niess Journalist, kam in den frühen Achtzigern als Autor zum SDR, ist heute leitender Redakteur beim SWR-Fernsehen. Dass er daneben nicht nur studierter, sondern publizierender Historiker geblieben ist, hängt auch mit der Revolution von 1918/19 zusammen. Die ist sein Lebensthema. Schon als Schüler in den Sechzigerjahren habe sie ihn fasziniert, in den Siebzigern "habe ich diese Revolution dann im Studium kennengelernt, und sie hat mich seither nicht mehr losgelassen". Er schreibt seine Magisterarbeit über sie, hat von seinen Recherchen seitdem noch "Kisten im Keller stehen", um irgendwann einmal etwas daraus zu machen.

Enden solche im Keller aufbewahrten Kisten meist früher oder später im Altpapier-Container, endet es bei Niess mit einer späten Doktorarbeit: 2012 erscheint sie, da ist Niess 60, und er untersucht, wie sich in der deutschen Geschichtsschreibung von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart die Deutungen der Revolution entwickelt haben.

Vertraut mit der gesamten relevanten Literatur zum Thema, hat Niess nun seine eigene Gesamtdarstellung zu den Ereignissen in den Jahren 1918 und 1919 geschrieben. Neu ist vor allem das leidenschaftliche Plädoyer für eine positivere Erinnerung, für ein Einfügen der Revolution in den demokratischen Gedenkkanon der Bundesrepublik, die sein Buch von früheren Arbeiten abheben. Und abgesehen davon versteht es Niess, so spannend und lebendig zu schreiben wie wenige seiner Historikerkollegen.

Niess will "auch mit manchen Legenden aufräumen, die über die Revolution noch immer im Umlauf sind". Etwa, "es sei in den Revolutionsmonaten vor allem um die Abwehr des Bolschewismus gegangen". Eine Deutung, die nicht nur in der Weimarer Republik, sondern auch in der Hochphase des Kalten Krieges hoch im Kurs stand und noch heute durch manche Geschichtsbücher spukt. Tatsächlich hatte die Gefahr einer bolschewistischen Diktatur wie in Russland nie bestanden. Die deutschen Arbeiter- und Soldatenräte, die sich zu Beginn der Revolution überall gebildet hatten, waren zwar in ihrer Selbstbezeichnung als "Räte" (russisch: Sowjets) dem russischen Vorbild gefolgt, ansonsten hatten sie kaum Gemeinsamkeiten mit jenen Revolutionskadern. Denn größtenteils wollten sie eine parlamentarische Demokratie, wollten sich der Revolutionsregierung, dem Rat der Volksbeauftragten, in den Dienst stellen, um den Weg dorthin und zu einer Demokratisierung von Heer und Verwaltung zu erreichen. Dieses demokratische Potenzial erkennt nur leider der Rat der Volksbeauftragten nicht.

Das Problem war die Angst vor dem Bolschewismus

Das Problem war indes weniger die reale Gefahr als vielmehr die diffuse Bolschewismus-Angst, die in jenen Monaten auch innerhalb der SPD-Spitze das politische Denken bestimmte. Früh dient der Bolschewismus "als bewusst eingesetztes Schreckgespenst, das seine Wirkung in sozialdemokratischen, liberalen und konservativen Kreisen zuverlässig entfaltet", schreibt Niess. "Aufbegehren, Streiks, Demonstrationen – vielfach wird alles, was von 'unten' kommt und unkontrollierbar werden könnte, mit dem Etikett 'bolschewistisch' versehen."

Auch wegen dieser diffusen Angst agiert die SPD im Rat der Volksbeauftragten viel zögerlicher, als sie könnte, scheut Reformen noch vor den Wahlen zur Nationalversammlung und arbeitet mit den alten Gewalten in Heer und Verwaltung viel enger zusammen, als es nötig wäre. So kommt es etwa zu jener berüchtigten Kooperation zwischen Ebert und Generalquartiermeister Wilhelm Groener, dem Chef der Obersten Heeresleitung (OHL). Groener sichert Ebert die Loyalität der OHL und die geordnete Rückführung des Heeres von Front zu, unter der Bedingung, dass die Regierung den Bolschewismus bekämpfe. Ebert akzeptiert die OHL als Partner der Regierung, was sich bald rächt. Denn der OHL geht es vor allem darum, möglichst viel von der Macht des Offizierskorps vom Kaiserreich in die Republik hinüberzuretten und alles Linke zu bekämpfen.

Wenn von einem "Verrat" der Sozialdemokraten an der Revolution gesprochen wird, geht es meist um die Deutung, dass Ebert mit Groener damals ein Bündnis zur Niederschlagung der Revolution geschlossen habe. Für Niess gehört auch diese Verrats-These ins Reich der Legenden, eine Position, die aber ohnehin schon lange Forschungskonsens ist. Der geht eher in die Richtung, dass die SPD auf die "Bürde der Macht", wie es die Historikerin Susanne Miller einmal formulierte, nicht im Geringsten vorbereitet war und es daher auch nicht verstand, die Regierungsgewalt aktiv und gestalterisch zu nutzen. Ein Eindruck, der sich auch beim Lesen von Niess' Buch wiederholt aufdrängt, wobei gelegentlich erstaunt, wie empathisch er Ebert verteidigt, etwa in Hinblick auf sein Verhalten gegenüber der OHL: "Ein Politiker mit der Erfahrung Eberts, vermute ich, hat sich auf eine solche Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit diesem Partner sicher nicht aufgrund von politischer Naivität eingelassen." Ein wenig viel Spekulation.

Kategorischer ist Niess in seinem Urteil über Eberts Parteigenossen Gustav Noske, der 1919 als Volksbeauftragter für Heer und Marine und später Reichswehrminister verantwortlich ist für die Niederschlagung des Berliner Januaraufstands und weiterer Aufstände im ganzen Reich. "Vielleicht ist die Anwendung von Gewalt unter den gegebenen Umständen im Frühjahr 1919 nicht zu vermeiden", schreibt Niess, "aber für Noske ist sie nicht das letzte Mittel, sondern das einzige." Noske lässt den Freikorps hier freie Hand, rigoros gegen Linke vorzugehen, verlangt dies oft sogar explizit. Tausende Tote, darunter viele Zivilisten, sind die Folge bei Kämpfen unter anderem in Bremen, im Ruhrgebiet, in München und erneut in Berlin. Niess schildert dieses seltsamerweise weniger bekannte Kapitel der Revolution so ausführlich und plastisch wie wenige Historiker vor ihm. Mochte man sich davor schon die Haare raufen ob der vielen nicht genutzten Chancen der Revolution, so packt einen nun das Grausen. Von den eingesetzten Freikorps, die schon 1919 teils Hakenkreuze auf ihre Helme gepinselt hatten, war der Weg zu SA und SS nicht weit.

Neben solch blutigen Kapiteln hebt Niess auch Aspekte der Revolution hervor, die er rundum positiv beurteilt, wie das am 15. November 1918 von Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern unterzeichnete "Stinnes-Legien-Abkommen". Darin werden die Gewerkschaften als "berufene Vertreter der Arbeiterschaft" anerkannt, die Höchstarbeitszeit auf acht Stunden und Tarifverträge als allgemeinverbindlich festgesetzt. Für Niess kann die Bedeutung des Abkommens gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn mit ihm wird zum ersten Mal "der Gedanke der Sozialpartnerschaft in die Organisation des Wirtschaftslebens eingeführt wurde, der heute die Grundlage der sozialen Marktwirtschaft ist".

Für Unternehmer freilich war das Abkommen vor allem eine Versicherung gegen Sozialisierungen, die damals nicht nur von den Arbeiter- und Soldatenräten gefordert wurden, sondern auch alte Forderung der SPD waren. Dass das Abkommen nach und nach ausgehöhlt wurde und 1924 endgültig zerbrach, schreibt Niess nicht. Auch nicht, dass die Sozialisierung bestimmter Industriezweige damals auch mit Unterstützung aus dem bürgerlichen Lager durchaus möglich gewesen wäre. "Die Zeit erfordert die Gestaltung einer neuen sozialen und wirtschaftlichen Politik", stand am 16. November etwa im Gründungsaufruf der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP). "Sie erfordert, für monopolistisch entwickelte Wirtschaftsgebiete die Idee der Sozialisierung aufzunehmen." Dass jegliche Sozialisierungen ausblieben, hatte auch einen Anteil daran, dass sich die Rätebewegung im Frühjahr 1919 radikalisierte.

Sie bleibt also ambivalent, diese Revolution – es ist kaum möglich, auf ihre Erfolge zu schauen, ohne zugleich ihre verpassten Chancen im Blick zu haben. Gescheitert also oder nicht, das kommt auch auf die Perspektive an. Der Stuttgarter Historiker Axel Kuhn sprach in seinen Vorlesungen immer wieder von der Novemberrevolution als einer "erfolgreichen bürgerlichen und gescheiterten sozialistischen Revolution". Die alten Ziele des liberalen Bürgertums, parlamentarische Demokratie und freiheitliche Grundrechte, hatte sie erreicht. Getragen wurde sie allerdings nicht vom Bürgertum, sondern von Arbeitern und Soldaten, die weitergehende Ziele hatten. Im kommenden Jahr jährt sich die Revolution zum hundertsten Jahr. Man darf gespannt sein, wie sich die Bundesrepublik an sie erinnert. 

 

Wolfgang Niess: Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie, Europa Verlag, 2017, 24,90 Euro


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1 Kommentar verfügbar

  • Peter Meisel
    am 11.11.2017
    Antworten
    Groß-Deutschland ist heute "Export-Weltmeister". Griechenland ist zu Boden gerettet. Im Elsass haben Frankreich und Deutschland ein Toten Denkmal gestern geweiht und die Deutsch-Französische Freundschaft beschworen. Dieser Freundschaftsvertrag der Aussöhnung war das Fundament für eine demokratische…
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