KONTEXT:Wochenzeitung
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Protest aus der Provinz

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Von der heimlichen Rockhauptstadt Schorndorf bis zum Konstanzer Hippiemord: Der Musikjournalist Christoph Wagner spürt in einem Buch der südwestdeutschen Musikszene der 1960er und 1970er nach – als fast alles politisch und die Kommerzialisierung der Jugendkulturen noch wenig fortgeschritten war.

Wilde Zeiten waren das. Winfried Kretschmann trägt zwar meist seine üblich stoische Ministerpräsidenten-Miene, als er da Anfang Oktober im Theaterhaus den Ausführungen Werner Schretzmeiers lauscht, doch gelegentlich scheint ein leichtes Lächeln über sein Gesicht zu huschen. Denn was Theaterhaus-Chef Schretzmeier, 1944 geboren und damit vier Jahre älter als Kretschmann, da an Schnurren aus den Spätsechzigern von sich gibt, ist einfach zu unterhaltsam. Etwa, wie es dazu kam, dass 1969 eine damals noch recht unbekannte britische Band namens Black Sabbath ausgerechnet in der Schorndorfer Manufaktur spielte.

Das war so: Ein Freund Schretzmeiers, der es über verschlungene Pfade kurzzeitig zum Roadie der Band aus dem britischen Birmingham gebracht hatte, wurde im Dezember 1969 von deren Tourmanager angerufen. Black Sabbath seien auf ihrer Tour in Zürich gestrandet, wollten zurück nach England, hätten dafür aber nicht genug Geld. Ob sie vielleicht einen Gig in der Schorndorfer Manufaktur spielen könnten, um sich die Heimreise zu verdienen? Und so kam es, dass kurz vor Weihnachten 1969 die Mitbegründer von Hardrock und Heavy Metal nicht nur die Manufaktur zum Vibrieren brachten, sondern auch noch mit deren Belegschaft bis morgens um fünf viel Bier tranken und "lustige Zigaretten rauchten". Ach ja, die Vorzeige-Hippies Uschi Obermaier und Rainer Langhans von der legendären Berliner Kommune 1 seien auch dabei, aber "die Konventionellsten von allen Anwesenden gewesen", gibt Schretzmeier zum Besten. Yeah, Freak City Schorndorf, damals tatsächlich eine Art Landeshauptstadt des Rock.

Die Geschichte steht, leider ohne Obermaier, Langhans und die Tabakwaren, auch in Christoph Wagners neuem Buch "Träume aus dem Untergrund", das an jenem Abend im Theaterhaus vorgestellt wird. Der Musikjournalist Wagner, 1956 in Balingen geboren, aber seit langem in Hebden Bridge in England lebend, hat vor vier Jahren schon in seinem Buch "Der Klang der Revolte" in großer Breite der Entwicklung der Underground-Musik um 1970 in ganz Deutschland nachgespürt, "Träume aus dem Untergrund" ist nun eine Art Mikrogeschichte für den Südwesten. In 14 reich bebilderten Kapiteln, die alle auch als eigenständige Geschichten funktionieren, spürt er der Musikszene Baden-Württembergs in den 1960er und 1970er Jahren nach, von Beatfans über Hippies und Folkfreaks bis hin zum Einzug des Dialekts im Schwabenrock, von kleinen Konzertinitiativen bis zu riesigen Festivals.

Kretschmann war nur Mitläufer der Musikszene

Dass der Ministerpräsident dazu ein paar einleitende Worte sagt, liegt nicht etwa daran, dass er selbst Geschichten über lustige Zigaretten beizusteuern hätte (was manche bedauern mögen), sondern weil er und Wagner sich schon Jahrzehnte kennen, beide gehörten zu den Urgrünen im Ländle. Und ein bisschen hatte auch Kretschmann mit dem musikalischen Untergrund dieser Jahre zu tun, was auch ein Foto im Buch untermauert: Er gehörte zum Umfeld der Riedlinger Beat-Band The Wishmen, aus denen später die Band Power Play hervorging. Da sei er aber nur "Mitläufer" gewesen, betont Kretschmann, eine "politische Ausfransung" der Musikszene – bei den meisten sei es ja eher andersrum gewesen.

Was politisch war und was nicht in der Musikszene jener Jahre, ist freilich nicht immer so eindeutig zu sagen, der Grad der Politisierung hing auch mit dem Grad der Reibung zusammen, die die rebellischen Jugendlichen erzeugten. Am Anfang stand jedenfalls das Bedürfnis, Musik zu hören, neue, moderne, coole Musik, die nicht wie Schlager von Nazi-Geist und Nachkriegs-Muff kontaminiert war. Das war anfangs Jazz, schon vor Rock'n'Roll als "Negermusik" beschimpft, später Beat, Blues, Folk und die vielen sich auffächernden Pop- und Rock-Stile. Weil es dafür oft weder Strukturen noch Veranstaltungsorte gab, musste man selber für welche sorgen. Weshalb seit den späten 1950ern von Jugendlichen "überall im Südwesten Vereine, Ausschüsse und Clubs gegründet" wurden, so Wagner "um der allerneuesten Musik und der damit einhergehenden Jugendkultur Räume zu verschaffen". Das waren erst Jazzkeller, später Beatschuppen und schließlich "soziokulturelle Zentren" wie die Manufaktur und Jugendhäuser.

Nicht nur die besonders öde Kulturwüste halfen dem Underground im Südwesten auf die Sprünge, auch die stockkonservative Umgebung. "Es gab praktisch nur eine Partei, und die war reaktionär", erzählt Schretzmeier, "zum Glück". Denn dadurch war man in Baden-Württemberg "gesegnet mit dieser Möglichkeit, dagegen zu sein". Kurz: "Wenn du nur die Zunge raus'gstreckt hosch, warsch König", lässt der Theaterhaus-Chef die selige Protestjugend Revue passieren.

Im miefigen Schwaben kam die Subkultur nicht gut an

Nur lustig war es freilich nicht immer, wenn sich die Vertreter des Miefs provozieren ließen. Als die Lords aus Berlin, die vielleicht bekannteste deutsche Beatband, 1966 in Riedlingen auftrat, schrieb ein Kritiker der "Schwäbischen Zeitung": "Sicher ist, dass das Erlebte dem Empfinden der schwäbischen Volksseele nicht entsprechen konnte." Das klingt nicht allzu weit entfernt vom "gesunden Volksempfinden", das die Nazis oft bemühten, war aber nichts im Vergleich zu dem, was nach dem ersten großen Rockfestival im Südwesten passierte, dem Open-Air in Konstanz im August 1970. "Aufgepeitscht durch Flugblätter der NPD, hatte sich in Konstanz eine aggressive Stimmung gegen 'Gammler' und 'Langhaarige' aufgebaut", schreibt Wagner. Die hielt auch noch nach dem Festival an, mit tragischen Folgen. Drei Wochen nach dem Festival wurde ein Jugendlicher am Blätzle-Brunnen, dem Hippie-Treff der Stadt, von einem Angetrunkenen mit einem "Hasentöter", einem Bolzenschussgerät, erschossen. Als "Konstanzer Gammlermord" oder "Hippiemord" ging die Bluttat bundesweit durch die Medien (<link https: www.seemoz.de lokal_regional august-1970-der-mord-an-martin-katschker external-link-new-window>hier ein ausführlicher Bericht der Konstanzer "Seemoz").

Politisch geworden war die Szene schon um 1967, als Hippiekultur, psychedelische Sounds und Protestsongs nach Europa schwappten und eine der kreativsten Phasen der deutschen Musikgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg anbrach. Auch und gerade im Südwesten. Deutsche Texte waren auf einmal möglich – den Anfang machten die Karlsruher Checkpoint Charlie mit ihrem provokativen Politrock, die sich 1967 gründeten, drei Jahre vor den Berlinern von Ton Steine Scherben. Außerdem entstand Krautrock, diese erste originär in Deutschland entstandene Musikrichtung nach dem Krieg, die nicht etwa primär durch deutsche Texte geprägt, sondern durch endlose psychedelische Improvisationen, hypnotische Rhythmen, offene Songstrukturen. Im Grunde eine Abkehr vom klassischen angloamerikanischen Rock'n'Roll und – vom Vietnamkrieg befeuert – auch als Abgrenzung verstanden. Aus dem Südwesten kamen dabei einige der wegweisenden Gruppen, etwa Guru Guru aus Heidelberg, Kraan aus Ulm, Gila aus Stuttgart, Nine Days' Wonder aus Mannheim oder Exmagma aus Schwäbisch Gmünd.

Antikommerziell und nach drei Jahren pleite

Auch wenn diese Bands teils ganz ohne Texte auskamen, eine bestimmte politische Haltung drückten sie auch durch die Art ihres Zusammenlebens – oft in Kommunen wie etwa Exmagma – oder Arbeitens aus. "Wir wollten gemeinsam Musik machen", zitiert Wagner den Gila-Keyboarder Fritz Scheyhing, "demokratisch, gleichberechtigt, als politisches Statement. Jeder konnte sich einbringen. Wir haben frei über einen Rhythmus improvisiert, wobei sich immer wieder Themen und Motive herauskristallisiert haben."

Als "kultureller politischer Verein zur Förderung progressiver Kunst und Musik" bezeichnete sich auch die im Dezember 1970 gegründete Reutlinger Konzertinitiative "Gig". Streng antikommerziell, mit ehrenamtlichen Mitarbeitern, organisierte sie in der ersten Siebzigerhälfte Touren deutscher und britischer Bands durch die ganze Republik. Das Ziel, der zunehmenden Kommerzialisierung des Underground-Rock einen Riegel vorzuschieben, propagierte sie auch formal in rebellischer Kleinschreibung: "soll die pop musik weiterhin skrupellosen managern ueberlassen werden, oder ist es nicht besser, sich den selbst zu organisieren und den geschaeftemachern und den profitgeiern den garaus zu machen", heißt es da, und: "kommt in massen. helft, dass dieses experiment gelingt, zeigt, dass ihr emanzipiert seid und euch nicht unterdruecken lasst."

Das Experiment gelang nur für kurze Zeit. Weil Gig die Eintrittspreise so niedrig wie möglich halten wollte, waren die Finanzen ein ständiger Drahtseilakt. Als statt der üblichen drei D-Mark 1972 bei einem Konzert in Tübingen einmal fünf Mark Eintritt verlangt wurden, wurde die Initative mit den gleichen Argumenten heftig kritisiert, die sie davor gegen kommerzielle Veranstalter ins Feld geführt hatte. Endgültig das Genick brach Gig 1973 eine Tournee mit Mikis Theodorakis, dem griechischen Komponisten und Gegner der Militärjunta in seiner Heimat. Viele Exilgriechen hielten Gerüchte vom Konzertbesuch ab, der griechische Geheimdienst würde vor den Konzerthallen die Besucher fotografieren. Der daraus folgende Schuldenberg verschlang die gesamten Rücklagen des Vereins.

Es sind heute kaum noch bekannte Episoden wie diese, die Wagners reich bebildertes Buch besonders lesenswert machen. Etwas mehr Infos hätte man sich manchmal zu den Bands der Krautrockära gewünscht, die teils arg knapp und sprunghaft abgehandelt werden – hier ist Wagners gesamtdeutsche Darstellung "Der Klang der Revolte" wesentlich ausführlicher.

Wer musikhistorisch nahtlos weiter schmökern möchte, dem empfiehlt sich die opulent aufgemachte Chronik "Wie der Punk nach Stuttgart kam" (Kontext berichtete <link https: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft betonstadt-ich-hab-deine-mauern-satt-4330.html internal-link-new-window>hier und <link https: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft zappeln-in-der-pogobox-4618.html external-link-new-window>hier) von Simon Steiner – der mit Wagner gemeinsam studiert und mit diesem sogar kurzzeitig in einer Punkjazzband gespielt hat. Obwohl sich die frühen Punks vehement von den Hippies abgrenzten, von deren Endlos-Diskussionen, den Endlos-Soli und dem zunehmenden Bombast des Prog-Rock, so fördern Steiners und Wagners Bücher auch einige Gemeinsamkeiten zutage. Nicht nur, am wenigsten verwunderlich, die durchs erzkonservative Klima im Südwesten besonders befeuerte Rebellion, sondern auch die Beobachtung, dass die Musikszene des Landes sehr dezentral geprägt war, die Hauptstadt Stuttgart in beiden Fällen keineswegs das Zentrum war. Und mitunter gibt es auch personelle Kontinuitäten zu entdecken: Exmagma-Gitarrist Andy Goldner, der als Vorzeige-Hippie mit blonder Mähne das Cover von Wagners Buch ziert, begegnet uns bei Steiner mit deutlich kürzerem Schopf als Bassist der "Fuckin' Guten Bürgerband" wieder. Wilde Zeiten.

 

Christoph Wagner: Träume aus dem Untergrund. Als Beatfans, Hippies und Folkfreaks Baden-Württemberg aufmischten, Silberburg-Verlag, 180 Seiten, 24,90 Euro.

Zum Weiterlesen:

Christoph Wagner: Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground, Schott, 2013, 388 Seiten, 27,50 Euro.

Henning Dedekind: Krautrock: Underground, LSD und kosmische Kuriere, Hannibal Verlag, 2008, 312 Seiten, 24,90 Euro.

Simon Steiner: Wie der Punk nach Stuttgart kam, Edition Randgruppe, 11 Hefte im Schuber plus CD mit 37 Tracks, 370 Seiten, 65 Euro. 


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