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Holzwolle im Kopf

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In einer Stuttgarter Ausstellung zum Filmemacher und Autor Alexander Kluge sind auch dessen Filmaufnahmen zum Deutschen Herbst zu sehen. Darunter ein bislang unveröffentlichtes Gespräch mit Otto Schily, damals RAF-Anwalt.

"Was sind Sie, Türke, oder?" Am Rande der Trauerfeierlichkeiten für Hanns Martin Schleyer am 25. Oktober 1977 in der Stuttgarter Domkirche Sankt Eberhard wird ein Mann festgenommen, der ein Gewehr mit sich trägt. Eine Gruppe von Polizeibeamten umringt ihn, dahinter hält sich eine Reiterstaffel bereit. Polizisten und Türke hantieren mit der in Folie eingewickelten Waffe herum, wobei der Mann einem Beamten versehentlich fast den Lauf ins Gesicht stößt. "Sie können heute, an diesem Tag, nicht mit diesem Gewehr hier in der Stadt herumlaufen", erklärt ein Wachtmeister geduldig. Der Türke gibt an, er habe das Gewehr eben erst gekauft, weil er Tauben schießen wolle.

Die Episode stammt aus dem Film "Deutschland im Herbst", an dem unter anderen Alexander Kluge, Rainer Werner Fassbinder und Volker Schlöndorff mitgewirkt haben. Sie spielt sich am Schlossplatz ab. Der Blick fällt in die Stauffenbergstraße, wo sich heute der Eingang des Württembergischen Kunstvereins (WKV) befindet, der soeben die bisher größte Ausstellung zum Lebenswerk Kluges eröffnet hat. Den Ortsbezug wollte der 85-jährige Filmemacher und Intellektuelle gern in seiner Ausstellung haben.

Es sei Fassbinder gewesen, erzählt Kluge, der vorgeschlagen habe, einen Film aus mehreren Episoden zu drehen, nachdem sich am 18. Oktober 1977 die Ereignisse überstürzt hatten: Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe hatten sich in der Justizvollzugsanstalt Stammheim das Leben genommen – oder waren, wie viele damals meinten, umgebracht worden. Am selben Tag hatte die Spezialeinheit GSG 9 der Bundespolizei in Mogadischu das Flugzeug "Landshut" gestürmt, dessen Entführer die Stammheimer Gefangenen hatten freipressen wollen. Am Tag darauf war die Leiche des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer im Kofferraum eines Autos aufgefunden worden.

Die Zusammenarbeit an dem Film hat für Kluge Modellcharakter. Der Titel der Ausstellung lautet: "Gärten der Kooperation". Im WKV sind nur die Beiträge Kluges am Anfang, in der Mitte und am Ende des Films zu sehen. Sie zeigen die Beerdigung und die Trauerfeier für Schleyer sowie die Beisetzung der Terroristen auf dem Dornhaldenfriedhof.

Bei Schleyer ist so ziemlich alles vertreten, was damals in der Bundesrepublik Rang und Namen hatte: Kurt-Georg Kiesinger, der als Kanzler die Notstandsgesetze eingeführt hatte, mittlerweile nur noch einfacher Abgeordneter; er war NSDAP-Mitglied gewesen, ebenso wie der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger, der im Jahr darauf wegen seiner Vergangenheit als Marinerichter zurücktreten musste; Manfred Rommel, noch jung, war erst seit drei Jahren Bürgermeister; Eberhard von Brauchitsch, Generalbevollmächtigter des Flick-Konzerns, stand später wegen der Flick-Parteispendenaffäre unter Anklage.

"Gütiger Vater, in deine Hände empfehlen wir deinen Diener Hanns Martin Schleyer", rezitiert der Priester. "Wir danken für das Gute, das wir durch ihn erfahren durften." "Friedrich Karl Flick", steht auf der Schleife eines Kranzes. "Franz-Josef Strauß", auf einer anderen. "Gesamtmetall", "Der Bundeskanzler", "Helmut Kohl" – damals noch nicht Kanzler – keiner wollte sich lumpen lassen.

Bei der Beerdigung von Baader, Ensslin und Raspe auf dem Dornhaldenfriedhof herrscht eine andere Atmosphäre. Polizei überall ringsum, im Wald, selbst in der Luft, im Hubschrauber. Junge Männer und Frauen, einige mit Tuch vor dem Gesicht, rufen "Mörder, Mörder" und "Sieg Heil, Sieg Heil", nachdem einer wegen Beschädigung eines Polizeiwagens verhaftet wurde. "Wir haben den Weg, den diese Genossen gegangen sind, nicht für richtig gehalten", lässt sich die Stimme eines Redners vernehmen. "Die Polizei, wie Sie sehen, ist präsent", sagt ein Beamter in die Kamera: "Die Polizei war vorbereitet."

Kluges filmische Beiträge sind rein dokumentarisch. Sehr viel stärker als die gespielten Szenen wirken sie, ganz besonders am Originalschauplatz, wie ein unmittelbarer Blick durch ein Zeitfenster. Kluge kommentiert nicht, er zeigt nur, was sich abgespielt hat. Die Bilder selbst sprechen: die Haltungen, die Gesichtsausdrücke.

Deutscher Herbst in Kontext

Immer wieder haben wir die bleierne Zeit des Deutschen Herbstes in Kontext thematisiert. Hier ein kleiner Überblick:

"Beschränkte Einsichten"
Jörg Lang, Verteidiger der ersten RAF-Generation, äußert sich erstmals seit 1974.

"Putativ erschossen"
Erinnerung an Ian McLeod, der 1972 irrtümlich von Polizisten erschossen wurde.

"Grohmann und die RAF"
Im Wettern der Woche erinnert Peter Grohmann in drei Filmfolgen an die Zeit der RAF in Stuttgart.

"Schleyers Gattin"
Der NS-Experte Erich Später belegt, dass Hanns Martin Schleyers Frau von dessen NS-Vergangenheit wusste.(sus)

In der Ausstellung zeigt Kluge erstmals auch ein im Film nicht verwendetes, bisher unveröffentlichtes Interview mit dem damaligen RAF-Anwalt Otto Schily. Die Journalistin Marie-Luise Scherer, Mitarbeiterin des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", will wissen: "Sie waren doch bei der Obduktion dabei, wie war'n das?" Schily, der im Lauf der Zeit vom Grünen-Mitbegründer zur SPD wechselte und als Bundesinnenminister weiter nach rechts gerückt ist, zögert: "Es wäre nicht gut, wenn ich beschreibe – meine persönlichen Situationen bei der Teilnahme an einer Obduktion." Als ihn Scherer weiter drängt, entgegnet er: "Wenn Sie jemanden kennen, dessen Körper in seine Einzelteile zerlegt wird, ist das ein Vorgang von großer Tiefe."

Schily gibt eine genaue Beschreibung, wie die Obduktion vor sich geht und dabei auch das Gehirn herausgenommen wird. "Und was wird da später reingetan?" fragt Scherer. Schily: "Da kommt Holzwolle rein." Kluge erzählt, ein an der Obduktion beteiligter Arzt habe das Gehirn von Gudrun Ensslin, in Formaldehyd eingelegt, als Souvenir bei sich behalten.

 

Info:

Die <link http: www.wkv-stuttgart.de programm ausstellungen alexander-kluge external-link-new-window>Ausstellung "Alexander Kluge. Gärten der Kooperation" im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart ist bis zum 14. Januar 2018 zu sehen. Geöffnet ist von Dienstag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Heute, am Jahrestag der Ermordung Hanns Martin Schleyers und der Todesnacht von Stammheim, stellt Helge Lehmann, Autor des Buches "Die Todesnacht von Stammheim", die Ergebnisse seiner Recherchen vor. Mittwoch, 18. Oktober, 19 Uhr, im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart.


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1 Kommentar verfügbar

  • Wolfgang Zaininger
    am 20.10.2017
    Antworten
    "... Kluge erzählt, ein an der Obduktion beteiligter Arzt habe das Gehirn von Gudrun Ensslin, in Formaldehyd eingelegt, als Souvenir bei sich behalten..."
    Hat er das Gehirn immer noch im heimischen Kühlschrank? Widerwärtig und so richtig in der Tradition von Mengele und Konsorten!
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