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Wider das Verpissertum

Wider das Verpissertum
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Mitte September sollte Martin Roth das Amt als Präsident des "Instituts für Auslandsbeziehungen" antreten. Der Kulturwissenschaftler mit weltweitem Renommee hatte noch viel vor. Er verstarb 62-jährig in Berlin. In seinem letzten Interview wünscht er der Gesellschaft, dass die Verteidigung demokratischer Werte wieder eine größere Rolle spielt.

Herr Roth, Haltung und Anstand sind klassische Tugenden, die gerade in Familien tradiert und vorgelebt werden – das jedenfalls ist das schöne Ideal. Wir leben in schwierigen Zeiten, in denen dieses familiäre Wissen um Werte zunehmend bedroht erscheint.

Ich würde nicht von Wissen sprechen, sondern von Erfahrung, Trauer, Freude, Empathie. Mein Sohn Roman nennt es 'kollektives Vergessen', ein starker Begriff, weil es mehr ums Verdrängen geht, also darum, dass das Nach-Vorne- das Zurück-Schauen beiseite schieben will. Über unzählige Familien ist während des Zweiten Weltkriegs großes Leid gekommen, in ganz Europa. Das müssen wir teilen und bewahren, und die Erinnerung daran darf mit meiner Generation nicht untergehen. Es ist noch heute wichtig, wichtig für unsere Achtsamkeit, für unser Gespür gegenüber der Geschichte und den Gefahren, die in ihr lauern.

Ein gewaltiges Thema. Da stellt sich die Frage, ob es unzählige Individuen und Familien nicht überfordert.

Wir sollten von Politikern einfordern, sich mit mehr Einfühlungsvermögen den Sorgen einfacher Menschen zu widmen. Die Ängste müssen ernster genommen werden. Und das hat zur Voraussetzung, dass sie Politik nicht vorrangig als Machterhaltungsmaschine begreifen.

Beißt sich da nicht die Katze in den Schwanz, denn Wirkung zeigt solch eine Forderung doch nur, wenn sich Viele zusammentun und sie erheben?

Sie wird ja von vielen erhoben, bisher aber bleibt das weitgehend folgenlos. Trotzdem darf die Fähigkeit zur Widerrede nicht verkümmern, auch nicht über dem Wunsch, im Beruf schnell weiterzukommen, oder über Alltagssorgen und Abstiegsängsten. Wir müssen uns gegenseitig stärken, mehr aufeinander achten, nicht nur in der Familie, auch im Freundeskreis oder auf dem Arbeitsplatz. Hinsehen hilft, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Da muss niemand bei Null anfangen, es gibt viele Beispiele und Möglichkeiten.

Die Rolle der klassischen Medien in diesem Prozess wird sehr unterschiedlich beurteilt.

Diskussion am Küchentisch

Seit dem „Brexit“ verstand der Kulturwissenschaftler die Welt nicht mehr, weil westliche Werte weggeschwemmt werden, weil Europa aus den Fugen zu geraten droht, weil Ratlosigkeit sich festfrisst. „Wann, wenn nicht jetzt“ wollte Martin Roth aufbegehren. Gemeinsam mit und für Mascha, Roman und Clara, seine drei erwachsenen Kinder. Mit dem neuen Buch, das nicht sein letztes bleiben sollte, wollte er im Gespräch aufzeigen, wie politische Themen und Debatten zurück an den Familientisch geholt werden können, in die Freundes- und Bekanntenkreise. In der sicheren Überzeugung, dass Politik nicht PolitikerInnen überlassen werden dürfe, weil die gerade bei der Verteidigung der Demokratie die Unterstützung möglichst vieler Menschen brauchen, über alle Generationen hinweg. (jhw)

Gerade in der Erinnerungsdebatte geht und ging es auch darum, welches Bild der deutschen Geschichte wir über Jahrzehnte gerade von den Medien vermittelt bekommen haben. Es geht um kritisches Verständnis und um die Erkenntnis, dass die konstruierte Welt und die erlebte zu wenig miteinander zu tun hatten. Deshalb ist auch das Generationengespräch, der direkte Austausch so wichtig. Besonders interessant und zugleich erschreckend sind für mich Reaktionen in Leserbriefen und in den Kommentarspalten im Internet, aus denen das dringende Bedürfnis spricht, sich von historischer Schuld zu befreien. Ich frage mich, wo diese Schuld im Alltag so spürbar wird, dass diese Menschen ihre Freiheit als eingeschränkt empfinden. Ich weiß es nicht. Für viel realer halte ich die Gefahr kollektiven Vergessens. Deshalb müssen Erinnerungen über Generationen fortgetragen werden. Das ist das beste Mittel gegen eine Rückkehr von Kriegen. Für Deutschland gilt dasselbe wie für Europa: Wir brauchen keine neue Geschichtsschreibung. Deutschland hat unendlich viele Geschichten, wir müssen sie nur erhalten, erzählen und das verständlich.

Dafür wäre es notwendig, sich um diese Idee zu versammeln, um auf diese Weise noch mehr Menschen zu erreichen, zu motivieren und zu politisieren. Um Fähigkeit und Bereitschaft dazu scheint es aber nicht gut zu stehen.

Ich kann nur appellieren, zurückzuschauen. In meiner Familie im Besonderen auf meine Mutter. Wir erzählen von ihr, und sie hat von meiner Großmutter erzählt, die ein ganzes Leben lang in regem Briefaustausch mit ihrem Bruder stand, der Ende des 19. Jahrhunderts, wenige Jahre, ehe sie selber 1900 nach Argentinien auswanderte, in die USA emigriert war. Ein langes Leben und durch schreckliche Schicksalsschläge hindurch haben sie nie mehr mit dieser Korrespondenz aufgehört. Gesehen haben sie sich nicht mehr. Sie haben Ängste und Hoffnungen geteilt, auch ohne Langstreckenjets und Telefone. Und wir? Meine Kinder studierten in Wien, Peking und Vancouver, meine Frau und ich arbeiteten in London, und dank der digitalen Medien wussten wir nicht nur, wie die Party am Vorabend war, sondern wir wussten, wie wir über den Regierungswechsel in Kanada hin zu Justin Trudeau dachten oder über Jörg Haider und seine Nachfolger in der FPÖ. Natürlich habe ich auf diese Weise mit der ganzen Familie schon früh meine Sorge über den Totalverlust an politischer Kultur in England geteilt. Oder meine Ratlosigkeit nach jedem Treffen mit Boris Johnson. Etwas sehr Wichtiges hat sich in unserer Zeit zum Besseren gewendet: unsere Kenntnis über die internationalen Verflechtungen und die internationale Verflechtung von Geschichte. Nicht annähernd so viel stand denen zur Verfügung, die sich für Geschichte interessierten. Selbst bei den Historikern in Paris, wo ich Anfang der Achtziger eineinhalb Jahre gearbeitet habe, hatte ich den Eindruck, dass das gemeinsame globale Wissen sich noch in der Entstehungsphase befindet. Hier hat die Kombination aus weltweiter Reisefreiheit und Internet enormen Rückenwind verschafft.

Bemerkenswert ist, dass ältere Männer wie Jeremy Corbyn in Großbritannien oder Bernie Sanders in den USA gerade Jungwähler und -wählerinnen erreichen.

Politik ist eine Frage von Klugheit und Empathie und in diesem Zusammenhang hätten wir von dem durchaus versierten und erfahrenen Bernie Sanders viel lernen können. Jeremy Corbyn sehe ich anders, ganz anders. Er spaltet Labour, anstatt die Partei zusammenzuführen. Möge der SPD nicht Ähnliches widerfahren, denn wir benötigen dringend das volle Spektrum demokratischer Parteien. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass Interesse, Verhalten, Durchsetzungskraft irgendetwas mit dem Alter zu tun hätten. Justin Trudeau passt bestens in das ausgewogene weltweite Altersspektrum und nicht nur, weil er Cold Play kennt und einarmige Liegestützen vorführt. Sondern ihm die Zukunftssorgen der Menschen vertraut sind, weit über Altersgrenzen hinaus. Er kann ein Leben in der Politik vor sich haben, das ihm ebenso wie Emmanuel Macron ein völlig anderes Standing gibt als denjenigen, die nur an der Macht kleben.

Ist der Vorwurf, dass Politiker an der Macht kleben nicht zu pauschal?

Zugpferd des Zeitgeists

Martin Roth war ein Weltbürger mit schwäbischen Wurzeln. Der gebürtige Stuttgarter studierte in Tübingen Empirische Kulturwissenschaft und promovierte über den politischen und historischen Hintergrund von Museen und Ausstellungen in Deutschland zwischen 1871 und 1945. Seinen ersten Direktorenposten trat er 1991 am Deutschen Hygiene-Museum in Dresden an. Er wurde Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und Vorsitzender des Deutschen Museumsbundes. Er arbeitete als Kurator der Expo in Hannover und wechselte 2011 als Direktor an die Victoria and Albert Museums nach London. Der erste Deutsche im exponierten Amt sorgte für immer neue Besucherrekorde, dank des regelmäßigen freien Eintritts, aber auch dank Ausstellungen zu David Bowie oder Bob Dylan oder dem Modemacher Alexander McQueen. Im Juni 2016 wurde er zum neuen Präsidenten des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart gewählt. Er hatte eine Gastprofessur in Vancouver, wollte in Berlin, seiner Heimatstadt und in Kanada leben. Ein "Zugpferd des Zeitgeists" nannte ihn Ulrich Raulff, der Direktor des Deutsches Literaturarchivs Marbach, erst kürzlich. Martin Roth verstarb am 6. August in Berlin. (jhw)

Ich finde schon, dass der Vorwurf stimmt, grosso modo. Zumindest gibt es nicht genügend Möglichkeiten für Quereinsteiger und junge Menschen, die in die Politik möchten. Politik scheint wie ein geschlossenes System zu sein. Nicht grundlos hatten schon vor Jahrzehnten die Grünen einen solchen Erfolg, weil sie pragmatische Politik versprachen, ohne im Morast der Politik der grauen Anzüge stecken zu bleiben. Wir haben sicherlich das beste demokratische System, dass man sich vorstellen kann. Aber wer sich beteiligen will, muss einen zu weiten Weg gehen.

Die Jugend soll das Zurück-Schauen nicht vergessen und die Älteren …

… die Jüngeren im Nach-Vorne-Schauen unterstützen. Wir haben ganz schnell das Jahr 2050 oder 2060. Dass wir dann nicht mehr leben werden, enthebt mich und Menschen meines Alters nicht der Verantwortung. So wie die globale Welt zusammengewachsen ist und die Demokratien daraus die Kraft ziehen müssen, sich gegenseitig zu stärken, müssen wir erkennen, wie weit die Auswirkungen von Entscheidungen reichen, in der Klimapolitik, beim Verkehr, in der Sozialpolitik oder der Wissenschaft.

Kommt Kulturschaffenden eine besondere Rolle zu? Oder werden sie überschätzt? Oder neigen viele von ihnen zur Selbstüberschätzung?

Mut zu zeigen, ist das Gebot der Stunde, zu reden und zu widersprechen. Das zeigen überraschenderweise zahlreiche junge Initiativen, von der Offenen Gesellschaft bis hin zu vielen individuellen Zusammenschlüssen, aber kann man langfristig darauf bauen? Die Parole müsste heißen: Kein Verpissertum zulassen! Gerade der Kulturbetrieb kann viel mehr als das, was jene ängstlichen und auf sichere Distanz bedachten Kollegen sich zutrauen. Demokratische Institutionen haben diese Distanz nicht verdient. Es ist zu schade, dass viel von diesem Intelligenzapparat in Kultur und Wissenschaft überhaupt nicht genützt wird. Es ist eben außer Mode gekommen, sich zu positionieren. Genau das Gegenteil müsste aber der Fall sein. Jeder, dem die Freiheit in Kultus, Kultur und Wissenschaft zugute kommt, müsste diese Freiheit zur Verteidigung der Demokratie nützen. Ich habe eine Ausstellung über Street Art in Libyen gemacht, kurz nach Ghadafis Sturz und Ermordung. Street Art war ein probates Mittel des nächtlichen Straßenkampfs. Also war es sinnvoll, sich diesem Thema zu stellen. Wir zeigten die Ausstellung in Tripoli und Bengazi. Das war ein gefährliches Unterfangen, aber ich würde es wieder tun.

Da liegt die Latte sehr hoch: Kunst zu organisieren unter Inkaufnahme von Gefahr für Leib und Leben.

Ich verlange solche Aktionen doch nicht von jedem Kollegen. Was man allerdings einfordern muss, ist, dass der Kulturbetrieb bereit ist, Antworten auf die vielen Fragen zu geben, die derzeit Menschen allen Alters umtreiben. Überschrift: Wider das Vergessen, zum Wohle eines gemeinsamen Europa. Am 75. Jahrestag der Massenverhaftungen von Juden in Paris hat Staatspräsident Emmanuel Macron die französische Verantwortung dafür bekräftigt. Da liegt die Latte. Gerade auch für Kulturschaffende und gerade in Ländern wie Polen oder Ungarn. Dort steht so viel auf dem Spiel. Dort müssen Leute, die widersprechen, nicht so wie in der Türkei gleich mit dem Gefängnis rechnen – jedenfalls ist es jetzt noch nicht so weit. Zu vieles von unserem Wissen ist wie in einem Tresor, von meinen Kollegen von der Universität gerne auch Wissensspeicher genannt, aufbewahrt. Oder richtiger fast: eingesperrt. Wir müssen es hinaustragen, das Wissen muss dazu da sein, dass es Menschen hilft, mit Ängsten umzugehen, zu erklären, wie wichtig Europa ist, und was jeder von uns leisten kann, um die Politik in bedrohlichen Zeiten zu unterstützen – egal welchen Alters und welcher Herkunft. 

 

"Widerrede!: Eine Familie diskutiert über Populismus, Werte und politisches Engagement" von Martin Roth, 96 Seiten, Euro 9,95, erscheint am 28. August im Verlag der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart.


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2 Kommentare verfügbar

  • Andromeda Müller
    am 21.08.2017
    Antworten
    Jeremy Cobyrn spaltet die Partei ? Hm , wer akzeptiert denn nicht seine Wahl zum Parteivorsitzenden und das Votum der Parteimitglieder ? Ebenso nicht das Votum der
    Wähler , das Labour einen riesen Zuwachs gebracht hat ?
    Die falschen Fuffziger , die Neo"liberalen" , -Entschuldigung ein altes Wording…
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