KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Verfolgt der Liebe wegen

Verfolgt der Liebe wegen
|

Datum:

Beim Christopher Street Day in Stuttgart feiern Menschen jeder Sexualität gemeinsam. Die Verfolgung von Homosexuellen bis in die sechziger Jahre ist aber immer noch kaum aufgearbeitet. Seit Januar dokumentiert eine Homepage Schicksale aus Baden-Württemberg.

Franz Wolff liebte Männer. Deshalb wurde der Stuttgarter Kaufmann gleich mehrmals in der NS-Zeit wegen "widernatürlicher Unzucht" verurteilt. Von 1938 an verbrachte er bis Kriegsende die meiste Zeit in Haft, unter anderem in den berüchtigten Emslandlagern, einer Gruppe von Strafgefangenenlagern im heutigen Niedersachsen. Viele Schwule kamen auch in Konzentrationslager, wo sie durch den "Rosa Winkel" sofort von den anderen Häftlingsgruppen zu unterscheiden waren.

Während Tausende Schwule der NS-Verfolgung zum Opfer fielen, überlebte Wolff den Krieg, wenn auch mit schweren gesundheitlichen Schäden. Doch als die Nazis besiegt waren, war Wolffs Leidenszeit längst nicht vorbei. 1950 sah er sich wegen der gleichen Vorwürfe "schwerer Unzucht" wieder in Stuttgart vor Gericht und wurde zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. In einem Vermerk von damals ist zu lesen: "W. ist ein Mann mit homosexueller Triebrichtung, der über seinen anlagemäßigen abnormen Drang nicht Herr wird. [...] Die jetzige Strafe von 9 Monaten Gefängnis erhielt W. wegen erschwerter Unzucht mit Männern. Wenn er von der Strafe beeindruckt ist, so nicht etwa, weil er in sich ging, sondern weil nach seiner Auffassung eine Bestrafung auf Grund des § 175 eine Kulturschande der deutschen Gesetzgebung ist." Und "um seinen phantasievollen Gedankengängen nicht freien Lauf zu lassen", kam er für zwei Monate in Einzelhaft.

Ein grausiges Dokument der Kontinuität von Unrecht, aber kein seltener Fall. Wie Wolff ging es vielen homosexuellen Männern in Westdeutschland. 1935 hatten die Nazis den seit der Kaiserzeit bestehenden Strafrechts-Paragraphen 175 "Unzucht unter Männern" verschärft und das Verbot beischlafähnlicher Handlungen auf alle sexuellen Handlungen ausgeweitet; strafbar konnte nun auch sein, wenn das "allgemeine Schamgefühl" verletzt wurde, selbst ein Liebesbrief konnte zu einer Verurteilung führen. Während nach dem Krieg in der DDR diese Verschärfung wieder rückgängig gemacht wurde, blieb in der Bundesrepublik die NS-Fassung des Gesetzes bestehen. Verurteilungen aus der Nazizeit, KZ- und Gefängnishaft konnten dabei sogar strafverschärfend wirken, weil die Verurteilten als "rückfällig" betrachtet wurden.

Baden-Württemberg war Spitzenreiter bei der Verfolgung

Baden-Württemberg tat sich dabei besonders hervor und wurde, bis die verschärfte Fassung des Paragraphen 175 im Jahre 1969 aufgehoben wurde (erst 1994 wurde er komplett aufgehoben), zum bundesweiten Spitzenreiter bei der Verfolgung Homosexueller. Zwischen 1953 und 1969 gab es hier beinahe 20 000 Ermittlungsverfahren und über 7300 Verurteilungen.

Dazu kam, dass Männer, die wegen Homosexualität im KZ waren, sich strafbar machen konnten, wenn sie Entschädigung beantragen wollten – solche stand nur politisch und rassisch Verfolgten zu. So wurde etwa Wilhelm Kurt Lamm im Dezember 1946 vom Amtsgericht Stuttgart wegen Betrugs verurteilt, weil "er sich bei der K.Z.-Betreuungsstelle und auf dem Städt. Wohlfahrtsamt laufend als politischer K.Z.-Häftling ausgab, und dadurch ihm nicht zustehende Unterstützungsleistungen erhielt."

Die Schicksale von Wolff und Lamm sind zwei von über 250, die auf der Homepage <link https: www.der-liebe-wegen.org external-link-new-window>"Der Liebe wegen" dokumentiert sind. Initiiert und betrieben vom Stuttgarter Schwullesbischen Zentrum "Weißenburg" und dem Verein "Rosa Hilfe Freiburg", ist sie seit Januar dieses Jahres online. Ziel ist, die Lebensaspekte von LSBTTIQ-Menschen (lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer) sichtbar zu machen, die in NS- und Nachkriegszeit wegen ihrer Liebe und Sexualität im heutigen Baden-Württemberg kriminalisiert, verfolgt und ausgegrenzt wurden.

"Das in Nazi-Zeit und nach dem Krieg an LSBTTIQ-Menschen im heutigen Baden-Württemberg begangene Unrecht wurde bislang noch nicht von staatlichen Stellen in angemessener Form aufgearbeitet", so der Leiter des Internetprojekts Ralf Bogen. Dazu komme, dass die Geschichte von Abwertung und Ausgrenzung noch unterschwellig in Form von Vorurteilen der Gesellschaft weiterwirke.

Im Mittelpunkt der Website steht eine digitale Gedenkkarte. "An der sieht man, dass es in Baden-Württemberg keine von Verfolgung unberührte Region gibt", so Bogen. Dazu kommen auf der Homepage viele Dokumente aus Archiven, zudem ausführliche geschichtliche Abrisse, um den Kontext der Diskriminierung und Verfolgung deutlich zu machen.

Aufgedeckt: bis 1968 Kastrationen im Hohenasperg

Neu aufgedeckt durch das Projekt wurde dabei auch ein besonders erschreckendes Detail: Bis 1968 wurden im Gefängnis Hohenasperg homosexuelle Strafgefangene kastriert. Der Historiker Jens Kolata stieß per Zufall auf diese Angaben in der Studie eines Psychologen von 1980. Vermeintlich geschahen diese Kastrationen "freiwillig", tatsächlich stimmten die Betroffenen dem meist unter dem Druck laufender oder drohender Haft zu "und erhofften sich durch den Eingriff vielfach einen Strafnachlass oder eine Entlassung", so Kolata.

Die Projektwebsite zeigt auch die von der Forschung bislang unterbelichtete Situation von Lesben in den wechselnden Systemen im 20. Jahrhundert. "Es ist kaum bekannt, dass es in der Weimarer Republik auch in Stuttgart lesbische sogenannte Freundinnentreffs gab", so Bogen. Diese Subkultur wurde ebenfalls durch die nationalsozialistische Diktatur zerschlagen, auch wenn die Verfolgung nicht so sytematisch war wie bei den homosexuellen Männern.

Mit dem Seitentitel "Der Liebe wegen" hat es eine besondere Bewandtnis: "Wir wollen uns damit gegen weit verbreitete Vorurteile wenden", sagt Bogen. "Homosexuellen Männern wird die Liebes- und Bindungsfähigkeit abgesprochen, wir werden auf Sex reduziert. Lesbischen Frauen wiederum wird abgesprochen, eine autonome Sexualität zu haben." Diese Vorurteile hätten sich durch die Nichtaufarbeitung durch staatliche Stellen verbreitet gehalten, nun würden sie Rechtspopulisten wieder aufgreifen und versuchen, sie salonfähig zu machen. Zum Beispiel die Bildungsplangegner, die auf ihren "Demos für alle" auch das alte Stereotyp vom "Kinderschänder" bemühen.

Erst unter Grün-Rot kam Aufarbeitung in Gang

Dass eine Aufarbeitung in Baden-Württemberg nun doch allmählich in Gang kommt, hängt auch mit Abwahl der schwarz-gelben Landesregierung 2011 zusammen. 2010 noch hatte der damalige CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus durch seine Ablehnung, ein Grußwort für den Christopher Street Day (CSD) beizusteuern, sein Unbehagen mit dem Thema demonstriert. Im grün-roten Koalitionsvertrag indes stand explizit, diesen Teil der Geschichte aufarbeiten zu wollen. "Dadurch habe ich auch die Chance gesehen, finanzielle Unterstützung für unser Internetprojekt zu bekommen", sagt Bogen. Und tatsächlich kamen 10 000 Euro vom Land für die Einrichtung der Homepage und die Archivrecherchen. Mit dem "Aktionsplan für Akzeptanz und gleiche Rechte" brachte das Land 2015 auch <link http: www.lsbttiq-bw.de external-link-new-window>ein Forschungsprojekt am Historischen Institut der Uni Stuttgart auf den Weg: "LSBTTIQ in Baden und Württemberg. Lebenswelten, Repression und Verfolgung im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland".

Mit eingeflossen in die Website "Der Liebe wegen" sind auch Recherchen der Hotel-Silber-Initiative. Gruppen wie der Weißenburg-Verein, die Interessengemeinschaft CSD, der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) Baden-Württemberg und der schwulenfreundliche Kings Club gehörten vom Beginn 2008 an zu den aktivsten Mitgliedern der Initiative, die sich für den Erhalt der ehemaligen Gestapo-Zentrale stark machte. Der Abriss des Gebäudes ist seit 2011 abgewendet, 2018 soll hier die erste Dauerausstellung zur Geschichte des Hauses eröffnet werden, und die bietet laut Bogen "die historische Chance, dass erstmals in Baden-Württemberg auf das begangene Unrecht konkret und in angemessener Form eingegangen wird". In bestehenden NS-Gedenkstätten im Land würden Homosexuelle zwar teils als Opfergruppe genannt, so Bogen, aber nie anhand konkreter Beispiele. Im Hotel Silber lässt sich auch die Kontinuität der Verfolgung zeigen, denn ausgerechnet hier residierte nach dem Krieg die Kriminalpolizei, die sich im "Sachgebiet Homosexuelle" besonders aktiv zeigte.

 

Info:

Der diesjährige <link https: www.csd-stuttgart.de external-link-new-window>Christopher Street Day in Stuttgart steht unter dem Motto "Perspektiv-Wechsel". Höhepunkt ist der Demozug an diesem Samstag. Los geht's um 15:30 Uhr am Erwin-Schoettle Platz. Und dann durch Tübinger Straße bis zum Schlossplatz.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!