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Der Hassprediger

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Das idealisierte Luther-Bild, das im Jubiläumsjahr allerorten gezeichnet wird, hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun: Die Schriften des Reformators strotzen vor Hass und Fanatismus, vor Tötungsmanie und Obrigkeitsdenken. Unser Autor kippt etwas Wasser in den Jubelwein.

"Wie? Kritik an Luther? Was sollte, was könnte man denn gegen Luther haben?" So etwa lautet der Tenor spontaner Kommentare zu der Absicht, Martin Luther nicht wie üblich als Glücksfall der Weltgeschichte zu beschreiben. Allenthalben gilt Luther als Lichtgestalt – gewiss mit einigen Schattenseiten, wie gern mit Kennermiene hinzugefügt wird. Seine Agenda, um diesen heutigen Begriff zu bemühen, sei der erfolgreiche Versuch gewesen, aus dem finsteren Mittelalter heraus zu dem vorzudringen, was wir heute Neuzeit nennen. Modernität das eine Kennzeichen, Freiheit das andere – darin besteht eine Übereinstimmung, die weit über die protestantische Gemeinde hinaus bis tief in kirchenferne, säkulare Schichten reicht.

"Dies ist der wesentliche Inhalt der Reformation; der Mensch ist durch sich selbst bestimmt, frei zu sein." Kein Geringerer als der Philosoph Hegel hat dem Professorenkollegen diesen Kranz geflochten. Gegenüber dieser bis heute dominierenden Sicht werden die kritischen Töne aus Expertenreihen neuerdings lauter und zahlreicher. Im Meer des Enthusiasmus anlässlich des Jubiläumsjahrs 2017 haben sie dennoch kaum eine Chance.

Würden hingegen die Scheuklappen von Traditionalismus und Autoritätsgläubigkeit abgelegt und bliebe das verständliche Bedürfnis des kirchlich organisierten Luthertums nach Weihrauch für seinen Begründer beiseite, dann würde der Blick frei: auf Luthers Fixierung auf Strafe und Tod, auf seine ins Krankhafte gesteigerte Sündenangst; auf seine Verbohrtheiten, Phobien und Stigmatisierungsgelüste; das hochspekulative, um nicht zu sagen: krause und krude Bild von Gott und dessen Beziehung zum Menschen; den exzessiven Teufelsglauben; den nicht zu zügelnden Drang, Widerstände und Andersdenkende niederzuringen: Da agierte Luther mit seiner Waffe, dem geschriebenen und gesprochenen Wort, nur zu oft wie ein Hassprediger von heute.

Konservativ, autoritär, hochmütig

Nicht zuletzt kommt in der Regel zu kurz, wie konservativ und autoritär er sein konnte, wie maßlos in seiner hochmütigen Intoleranz. Als der Humanistenfürst Erasmus von Rotterdam Luthers Lehre zurückwies, Gott habe jeden einzelnen Menschen von allem Anfang an zu Heil oder Verdammnis bestimmt, da wählte der Reformator diese Worte: "Wer den Erasmus zerdrückt, der würget eine Wanze, und diese stinkt noch tot mehr als lebendig!"

Eine breite Allianz einflussreicher Akteure besitzt indessen die Deutungshoheit in Sachen Reformation: Evangelische Kirche, akademische Theologie, etablierte Politik, wohlwollende Publizistik und absatzbewusstes Verlagswesen führen in ihrem Mutterland mehrheitlich den Luther-Kult fort. Dies und die fatale Unkenntnis eines zu Schulzeiten durchweg oberflächlich und unkritisch unterrichteten Publikums nähren und bedingen sich gegenseitig.

Dabei sind die Meriten dieses ungemein fleißigen, vielseitig begabten und kreativen Mannes ja nicht kleinzureden. Mit dem zynischen Ablasshandel bekämpfte er Kommerzialisierung und Verflachung des Glaubens, in Worms bot er mutig Kaiser und Reichstag die Stirn, mit seiner Bibelübersetzung schenkte er den unfertigen Deutschen eine markante Schriftsprache, mit seiner Zwei-Reiche-Lehre legte er den Grundstein für die segensreiche Trennung von Kirche und Staat, mit seinen poetischen Talenten hinterließ er kraftvolle Kirchenlieder. Er war der Rammbock, der die Mauern um die Papstkirche zum Einsturz brachte. Durch ihn, durch seinen Wagemut und seine Energie, büßte sie ihr Alleinstellungsmerkmal als geistliche Mittlerin zwischen Gott und Mensch ein. Damit begann der Prozess, der zu ihrem Ausscheiden aus dem Reigen weltlicher Mächte in Europa führte. Indem der Augsburger Religionsfrieden von 1555, der den Protestantismus legalisierte und den Landesherrn die Konfession seiner Untertanen bestimmen ließ, die Existenz zweier Konfessionen anerkannte, erhob er religiöse Vielfalt zum Prinzip und beförderte so im Ergebnis religiöse Freiheit. Toleranz und Pluralismus sind so, im Gefolge von Reformation und Aufklärung, herausragende Merkmale der Moderne geworden.

Dringliche Empfehlung zum Denkverzicht

Martin Luther dachte und handelte aber in vielem ganz anders, als es der populäre Luther-Mythos wahrhaben will und mit erstaunlichem Erfolg propagiert. Zwei Luther'sche Merksätze mögen als Kostproben die Zumutungen illustrieren, die er bereithält: "Das ist der höchste Grad des Glaubens, zu glauben, jener Gott sei gütig, der so wenige rettet und so viele verdammt; zu glauben, daß der gerecht ist, der durch seinen Willen uns notwendig verdammenswert macht." Und: "Lehren soll man zwar von Gottes unausforschlichem Willen; aber sich unterstehen, denselben zu begreifen, das ist sehr gefährlich und man bricht sich dabei den Hals." Der erste Satz stellt eine massive Drohung dar. Und der zweite enthält die dringliche Empfehlung eines Denkverzichts, ausgesprochen ausgerechnet von einem, der gefeiert wird als Wegbereiter der Neuzeit.

Entgegen den gängigen Vorurteilen resümierte der Historiker Heinz Schilling in seiner großen Biografie: "Luther wurde wider Willen zum Geburtshelfer der pluralistischen und liberalen Moderne; nur indirekt und gegen seine Intention trug er zum Aufstieg von Toleranz, Pluralismus, Liberalismus und Wirtschaftsgesellschaft der Moderne bei." Denn ihm sei "Toleranz im heutigen Sinne fremd" gewesen, heißt es an anderer Stelle, und "eine Pluralität religiöser Wahrheit" habe er sich "nicht vorstellen können".

Beizeiten hatte Margot Käßmann, die EKD-Botschafterin zum Jubiläum, wegweisende Worte gefunden: "Wir müssen Luthers großartige historische Leistung, seine theologische Genialität und seinen großen Mut abwägen gegen seine problematischen Äußerungen und Irrtümer. Für mich überwiegen ganz klar die positiven Leistungen." In Wittenberg sei es darum gegangen, "dass Menschen selbst nachdenken dürfen, selbst fragen dürfen", und eben dies sei der reformatorische Schritt vom Mittelalter in die Neuzeit gewesen. Luther hatte aber ganz anderes im Sinn gehabt, und das drehte sich im Wesentlichen darum, wie der Majestät Gottes Genüge getan werden kann. Völlig fern lag ihm der Gedanke eines angeborenen Grund- und Menschenrechts aller Individuen auf freies Denken und Reden.

Tief hat er viele Zeitgenossen enttäuscht mit seinen Tiraden gegen die Bauern. Dass er sie wie gewohnt theologisch begründete, also unter Berufung auf passende Bibelstellen, dürfte bei vielen seiner analphabetischen Zeitgenossen kaum angekommen sein. Und auch, dass er so viele seiner Gegner zu Werkzeugen des Teufels erklärte und sie deshalb des Henkers Schwert oder dem Scheiterhaufen empfahl, hindert seine notorische Verklärung nicht. Dasselbe gilt für die Fragwürdigkeit seines für uns Heutige kaum mehr nachvollziehbaren theologischen Erbes, und in besonderer Weise für seine monströse Judenhetze. Erst recht nach dem Holocaust böte sie schon für sich allein Anlass, Abstand zu nehmen von Luther-Jubiläen. Denn solange es sie gibt, werden sie kaum umhin können – und wollen –, dessen objektive Mitverantwortung für die ungeheuerlichen Verbrechen des europäischen Antisemitismus letztlich doch zu verharmlosen.

Die übliche einseitige Betonung positiver Aspekte der Luther'schen Wirkungsgeschichte führt schließlich dazu, dass zwischen der Reformation und dem von der Kirchenspaltung (mit)verursachten Elend der Religionskriege wiederum nur selten ein kritischer Zusammenhang hergestellt wird. Ohne Luther, heißt es in Thomas Manns Doktor Faustus, wäre "der Menschheit unendliches Blutvergießen und die entsetzlichste Selbstzerfleischung erspart geblieben". Die zahlreichen nur wenige Monate nach seinem Tod im Winter 1546 einsetzenden militärischen Konflikte, mit dem Dreißigjährigen Krieg als grausigem Höhepunkt, haben im kollektiven Gedächtnis der Europäer nur einen hinteren Platz.

Luther hielt sein Bibelverständnis für unfehlbar

Auch jenseits des Kriegsgeschehens ist Luther durchaus als mitverantwortlich für Not und Tod ungezählter Menschen anzusehen. Um einen Einzelfall zu erwähnen: Während der berühmte Rebell es sich, seiner Familie und seinen Gästen gut gehen ließ im alten Wittenberger Augustinerkloster, schmachtete auf derselben Eisenacher Wartburg, auf der er einst untergetaucht war als Junker Jörg, Fritz Erbe einem qualvollen Tod entgegen. Auf dringlichen Rat Luthers und seines Freundes Melanchthon war Erbe einsam eingesperrt im Angstloch, einem lichtlosen Verlies tief unter der Erde. Das Verbrechen des frommen Bauern bestand in seinem friedlichen Eintreten für die Taufe nicht schon für Neugeborene, unter Berufung auf die Bibel. Die beiden Großtheologen, von der fürstlichen Obrigkeit um Stellungnahme ersucht, fanden dies todeswürdig.

Wie so viele andere wurde auch Erbe ein Opfer von Luthers durchaus schwankendem, dann aber auch wieder eitel auftrumpfendem Selbstbewusstsein. Das äußerte sich etwa in seinem koketten Eigenlob, in tausend Jahren habe Gott "keinem Bischof solche Gaben gegeben wie mir". In seiner Überzeugung, kraft göttlicher Ermächtigung unfehlbar zu sein bei der Auslegung der Heiligen Schrift und überhaupt bei seinen wichtigsten religiösen Aussagen, verkündete er mit einer gehörigen Portion Hochmut: "Ich will meine Lehre ungerichtet haben, auch von allen Engeln. Denn da ich ihr gewiss bin, will ich durch sie euer und auch der Engel Richter sein, dass, wer meine Lehre nicht annimmt, nicht möge selig werden. Denn sie ist Gottes und nicht mein; darum ist mein Gericht auch Gottes, und nicht mein."

Solche Propheten wecken den Verdacht, ihr Sendungsbewusstsein, ihre verwegenen Botschaften, ihr selbstgerechtes und herrisches Auftreten gingen auf Störungen in ihrer Persönlichkeit zurück. Luther macht da keine Ausnahme. Die voluminöse Patientengeschichte des Reformators, der klagte, "in tausend Jahren" sei die Welt "niemandem so feind gewesen wie mir", zählt für das breite Publikum zu den großen Unbekannten seiner Biografie. In Zusammenhang mit seinem Lehren und Handeln wird sie aber höchst selten gebracht, und wenn, dann auch nur seltsam zurückhaltend und gehemmt.

Seit der Aufklärung vor rund 250 Jahren blieb noch jedes Luther-Jubiläum hinter ihr zurück. Nicht nur wegen des geradezu hysterischen Teufelsglaubens, dem der gläubig-abergläubische Professor huldigte, und der bei diesen Feiern wohlweislich beschwiegen worden sein dürfte, wie so vieles andere. Sondern ebenso wegen der strukturellen Vernunftfeindlichkeit in der Theologie Luthers, galt ihm doch die Vernunft als "die höchste Hur', die der Teufel hat", als "das größte Hindernis in Bezug auf den Glauben, weil alles Göttliche ihr ungereimt erscheint, dass ich nicht sage: dummes Zeug". Mit dem Menschenbild der Aufklärer war dieser Pessimismus unvereinbar. Und zudem hätten sie gewiss nicht akzeptiert, wie Luther sich bei Bedarf immer wieder auf die Bibel als unbezweifelbares Zeugnis von Wahrheit und Weisheit zurückzog.

Würdigungen voraus geht üblicherweise die Prüfung der Frage, ob eine(r) würdig ist. Für Jubiläen oder Namenspatronagen genügt es eben nicht, tiefe und breite Spuren in der Geschichte hinterlassen zu haben. Es müsste ja sonst wimmeln von Schulen, Plätzen und Straßen, die Namen der schlimmsten Figuren der Geschichte trügen. Jubiläen sind aber keine Seminare. Sie haben dann ihre Berechtigung, wenn die Bedeutung des Jubilars bejaht und er wertgeschätzt wird. Wie müsste eine um Objektivität bemühte Gesamtbilanz bei Luther ausfallen? Mit Antworten darauf macht man es sich im Mutterland der Reformation traditionell entschieden zu leicht.

 

Peter Henkel, früher langjähriger Korrespondent der Frankfurter Rundschau in Stuttgart, ist Sachbuchautor und hat neben einem Porträt Winfried Kretschmanns (gemeinsam mit Johanna Henkel-Waidhofer) mehrere religionskritische Bücher verfasst. Der obige Text ist ein Auszug aus seinem am 12. Juni erschienenen Buch "Schluss mit Luther: Von den Irrwegen eines Radikalen", Tectum Verlag, Baden-Baden 2017, 198 Seiten, 18,95 Euro


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4 Kommentare verfügbar

  • Rolf Schmid
    am 15.06.2017
    Antworten
    So ziemlich alle Religionsstifter, mit Sicherheit alle die sich des christlich-jüdischen Glaubens und dessen muslimischen Abwandlungen widmeten, waren Eiferer, meinetwegen auch Neuerer, in jedem Fall - massvolle oder masslose - Kritiker des Bestehenden, des Praktizierten und/oder von der Obrigkeit…
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