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Die Kehrseite der Medaille

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In Freiburg soll der Martin-Heidegger-Weg nicht mehr Martin-Heidegger-Weg heißen. In Stuttgart hingegen erscheint eine Kunstmedaille zu Ehren des SS-Sturmführers Andreas Stihl. Er solle nur als Erfinder geehrt werden, sagt Finanzministerin Edith Sitzmann.

Mehr als 1000 Straßennamen hat eine <link http: www.freiburg.de pb external-link-new-window>Freiburger Expertenkommission vier Jahre lang geprüft, um festzustellen, "welche Würdigungen von Personen und Ereignissen durch die Benennung einer Straße aus heutiger Sicht nicht mehr angemessen erscheinen." Am 6. Oktober 2016 empfahl sie, zwölf Straßennamen zu ändern. Es handelt sich überwiegend um Freiburger Persönlichkeiten, unter anderem Ärzte und Professoren. Aber auch Paul von Hindenburg ist dabei, ebenso wie der frühere SPD-Politiker und Funktionär von Wohnungsgenossenschaften Julius Brecht. Am meisten Aufsehen aber erregte der Martin-Heidegger-Weg.

Drei Wochen später würdigten die Staatlichen Münzen Baden-Württemberg Andreas Stihl, den Begründer des Waiblinger Kettensägenherstellers, mit einer <link http: www.staatlichemuenzenbw.de de shop kunstmedaillen stihl-feinsilber.html external-link-new-window>Kunstmedaille "Erfinder aus Baden-Württemberg". "Ich bin entsetzt", schreibt der Waiblinger Lokalhistoriker Ebbe Kögel, Mitglied des Bürgerprojekts AnStifter, als er von der Angelegenheit erfährt, an die Finanzministerin Edith Sitzmann: "Haben Sie eigentlich keine Rechercheabteilung bei den Staatlichen Münzen bzw. in Ihrem Ministerium? Andreas Stihl war ein überzeugter Nazi, NSDAP-Mitglied seit 1933, seit 1935 SS-Mitglied mit dem Rang eines Hauptsturmführers (seit 1939). Nach dem Krieg wurde er von der US-Armee für 3 Jahre interniert."

Ob Persönlichkeiten, die in der NS-Zeit eine Rolle spielten, weiterhin durch Straßennamen oder in anderer Form geehrt werden sollen, ist nicht nur in Freiburg und Waiblingen umstritten. Zum Beispiel Hindenburg. Nach dem Generalsfeldmarschall, der durch seine harte Haltung im Ersten Weltkrieg das Deutsche Reich in den Untergang geführt hat, der die Dolchstoßlegende mit in die Welt setzte und 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannte, sind noch an vielen Orten Straßen benannt, etwa in Esslingen und Herrenberg.

Heidegger: Philosoph und nationalsozialistischer Uni-Rektor

In Heilbronn nennt sich der Hindenburgplatz bereits seit 1948 wieder Rathenauplatz wie vor 1933. In Stuttgart heißt der Hindenburgbau auf Antrag der Fraktion SÖS Linke seit 2010 offiziell nicht mehr so, die Plakette mit dem Namen wurde abgeschraubt. In Berlin konnte sich die Linke dagegen 2015 mit dem Antrag, Hindenburg die Ehrenbürgerwürde zu entziehen, nicht durchsetzen. In Ludwigsburg kam es im selben Jahr zu einem Patt.

Ähnlich kontrovers wird Julius Brecht diskutiert, nach dem in Stuttgart das größte Wohnhochhaus im Stadtteil Freiberg benannt ist. Der Genossenschaftsfunktionär war 1937 in die NSDAP eingetreten, um Leiter des Reichsverbandes des deutschen gemeinnützigen Wohnungswesens zu werden. 1947 wurde er SPD-Mitglied, später Bundestagsabgeordneter und schließlich Direktor des Gesamtverbands gemeinnütziger Wohnungsunternehmen. Allerdings soll er in der NS-Zeit daran mitgewirkt haben, jüdische Mitbürger aus ihren Wohnungen zu vertreiben. Neben Freiburg diskutieren nun auch Hamburg und Hannover, ob Straßen, die seinen Namen tragen, umbenannt werden sollten.

Den Martin-Heidegger-Weg in Freiburg, ein Spazierweg im Stadtteil Zähringen, gibt es seit 1981. "Diese Ehrung erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die kritische Auseinandersetzung mit Heidegger als erstem nationalsozialistischen Universitätsrektor und seinem Anspruch, 'den Führer geistig führen' zu wollen, wegen der gesperrten Akten im Universitätsarchiv noch nicht begonnen hatte", schreibt die Kommission in ihrer Begründung. Erst danach habe die Aufarbeitung begonnen.

Als Aussage von Experten muss dies schon ein wenig verwundern. Eine Kontroverse zu Heideggers Rolle im Nationalsozialismus gab es in Frankreich bereits 1943, als Jean-Paul Sartre eine zu große Nähe zu dem deutschen Philosophen vorgeworfen wurde. In Deutschland begann die Diskussion 1953 mit einem Artikel des 24-jährigen Jürgen Habermas in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ). Seitdem ist die Debatte nicht mehr verstummt, in die sich immer wieder Berühmtheiten dies- und jenseits des Rheins einmischten, von Theodor W. Adorno bis zu dem Soziologen Jean-Pierre Bourdieu.

Welcher Teufel hat Heidegger da geritten, fragt Hannah Arendt

Die von der Kommission genannte Kontroverse der achtziger Jahre, die sich im Kontext des so genannten Historikerstreits um den Heidegger-Schüler Ernst Nolte entwickelte, der versucht hatte, den Holocaust zu relativieren, war also keinesfalls der Beginn einer kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers Rolle im Nationalsozialismus. Mit den "Schwarzen Heften", Heideggers bislang unveröffentlichten Notizbüchern aus den Jahren 1938 bis 1948, hat die Diskussion schon gleich gar nicht begonnen.

Heideggers anfängliche Sympathien für die Nazis und seine dubiose Rolle als Rektor der Freiburger Universität – allerdings vorgeschlagen von seinem sozialdemokratischen und jüdischen Vorgänger Wilhelm von Möllendorf – sind längst durchgekaut. Auch die bisher 94 Bände der Gesamtausgabe sind in allen Einzelheiten durchleuchtet. Bei den "Schwarzen Heften", Heideggers "Überlegungen" seit 1938, den je 500 Seiten starken Bänden 95 bis 97, geht es nun um sieben Textstellen, in denen der Philosoph über das Judentum schwadroniert.

Wegen dieser Aufzeichnungen ist der Martin-Heidegger-Lehrstuhl der Freiburger Universität durch eine Juniorprofessur für Logik und sprachanalytische Philosophie ersetzt worden. Dagegen haben mehr als 2600 Philosophen eine Petition unterschrieben. Sie fürchten um die von Heidegger und seinem jüdischen Lehrer Edmund Husserl geprägten Traditionen der Phänomenologie und der Hermeneutik.

Günter Figal, der Lehrstuhlinhaber, trat zugleich vom Vorsitz der Martin-Heidegger-Gesellschaft zurück. Sein Nachfolger Helmuth Vetter verweist jedoch auf eine Textstelle, in der Heidegger schreibt: "Anmerkung für Esel: mit 'Antisemitismus' hat die Bemerkung nichts zu tun. Dieser ist so töricht und so verwerflich, wie das blutige und vor allem unblutige Vorgehen des Christentums gegen 'die Heiden'."

Die Debatte wogt hin und her. Der Ton ist scharf, wie in akademischen Debatten üblich. Der herausgebende Verlag Vittorio Klostermann meint: "Die Härte der Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Vorgängen wird mitunter dem Besprochenen nicht gerecht." Der Freiburger Philosophie-Publizist Wolfram Eilenberger geht noch einen Schritt weiter, indem er auch jüdische Philosophen wie Jacques Derrida, Emmanuel Lévinas oder Hannah Arendt unter Verdacht stellt: Sie seien von Heideggers antisemitischer Fundamentalkritik der abendländischen Metaphysik infiziert.

Arendt selbst, Heideggers Schülerin und einstige Geliebte, brach 1933 den Kontakt ab, nahm ihn jedoch 1950 wieder auf. Eine Auseinandersetzung über den Nationalsozialismus sei mit ihm nicht möglich, klagte sie später, "weil er wirklich nicht weiß und auch kaum in einer Position ist, herauszufinden, welcher Teufel ihn da hineingeritten hat." Sie kam immerhin zu dem Schluss: seinen "'Irrtum' hat Heidegger zwar nach kurzer Zeit eingesehen und dann erheblich mehr riskiert, als damals an den deutschen Universitäten üblich war".

Zu Andreas Stihls NS-Vergangenheit gibt es keine Debatte

Auch Andreas Stihl trat wie Heidegger bald nach Hitlers Machtergreifung in die NSDAP ein. 1934 wurde er SS-Sturmführer, 1939 Hauptsturmführer. Seine Kontakte zu den Machthabern nutzte er zur Vermarktung seiner Kettensägen: Im Russlandfeldzug, wo ständig Holz für die Holzvergaser-Fahrzeuge gebraucht wurde, leisteten sie gute Dienste und verhalfen Stihl zu einer guten Auftragslage. Von 250 Mitarbeitern im Jahr 1939 wuchs die Belegschaft im Krieg auf 500, vorwiegend Frauen und Zwangsarbeiter.

Über Stihls NS-Vergangenheit gibt es keine ausufernden Debatten. Er hat kein 100-bändiges Gesamtwerk hinterlassen, das man nach verdächtigen Stellen durchforsten kann. Es fällt ganz im Gegenteil schwer, überhaupt etwas in Erfahrung zu bringen. Am 27. Mai 1945 von den französischen Besatzern verhaftet, wurde er von den Amerikanern drei Jahre lang interniert. Im Spruchkammerverfahren bezeichnete ihn ein Betriebsrat, wie Ebbe Koegel den Akten entnimmt, als "fanatischen, aktiven Kämpfer für die nationalsozialistische Ideologie". Dennoch wurde er als Mitläufer eingestuft und gegen eine Geldbuße von 500 DM entlassen.

Ministerin Sitzmann lässt Koegel antworten: "Ihre Kritik hinsichtlich der politischen Haltung von Andreas Stihl in der Zeit des Nationalsozialismus ist für mich absolut nachvollziehbar." Sie will aber die Medaille "nicht als eine Würdigung der Gesamtpersönlichkeit verstanden wissen. Insbesondere soll seine Rolle als Unternehmer in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft dadurch keinesfalls relativiert werden." Ihr Fazit: "Mit der Münze wird also ausdrücklich der Erfindergeist von Andreas Stihl gewürdigt."

Wenn sich das so leicht trennen ließe, hätte der Freiburger Lehrstuhl nicht umbenannt werden müssen. Er könnte Martin Heidegger – bei allem Streit weder SS-Mann noch fanatischer Vorkämpfer der NS-Ideologie – weiterhin als Philosophen ehren, ohne seine Rolle in der NS-Zeit zu relativieren.

Aber vielleicht geht es um etwas ganz Anderes. Stihl war nicht nur Erfinder und SS-Sturmführer, sondern wie Alfred Kärcher und Ferdinand Porsche, die in den Vorjahren geehrt wurden, Gründer eines der führenden Unternehmen des Landes. Und damit Stammvater einer der reichsten und einflussreichsten Familien in Baden-Württemberg.


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9 Kommentare verfügbar

  • Ron
    am 12.01.2022
    Antworten
    Ganz klar: Hedegger behauptete immer Kein überzeugter Nazi gewesen zu sein, aber zu wenig gegen die Nazis getan zu haben. Wenn das stimmt, dann darf er auch kein Problem damit haben, wenn ihm die Ehrendoktoren und Verdienstkreuze aberkannt werden !
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