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Der Patient, das revolutionäre Subjekt

Der Patient, das revolutionäre Subjekt
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Das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) hat Anfang der 70er-Jahre das politische Klima in Heidelberg maßgeblich beeinflusst. Wie aus einer Selbsthilfegruppe eine mörderische politische Sekte erwuchs, beschreibt der Medizinhistoriker Christian Pross. Sein Buch "Wir wollten ins Verderben rennen" ist von hoher Aktualität.

Karl Jaspers (1883–1969), Psychiater, Existenzphilosoph und mehr als vierzig Jahre in Heidelberg lebend, sagte einmal über seine Stadt, sie sei ein optimaler Nährboden für Sekten und seltsame Gruppen aller Art. Er sprach 1922 vom "Sich-Wegwerfen an Kreise und Meister". Christian Pross, der ab 1968 in Heidelberg studiert hat und in Berlin lebt, bestätigt in vielen Punkten das von Jaspers beschriebene sektenhafte Phänomen: "Es gibt in der Tat dieses Heidelberger Zirkelwesen, das ist schon ganz alt. Es gab nach dem Krieg diesen Zirkel um die Viktor-von-Weizsäcker-Schüler, den Kütemeyer-Kreis, die hatten alle so etwas Verschwörerisches."

In vierjähriger Forschungsarbeit hat Pross, in seiner "Doppelrolle als Forscher und Zeitzeuge", die Geschichte des SPK aufgearbeitet. "Ich bin damals schon involviert gewesen", erzählt er bei unserem Besuch in Berlin, "und das Buch ist sicherlich auch eine Form der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Biografie. Manchmal erschrecke ich, wenn ich in meinen Tagebüchern von damals lese, was ich da geschrieben habe." Das SPK übte auch auf den jungen Medizinstudenten Pross Ende der 60er-Jahre eine besondere Faszination aus. Die Rebellion an den Universitäten ergriff alle Fakultäten, auch die medizinische Fakultät mit ihren Kliniken, ihre wie Feudalherrscher agierenden Chefärzte und Professoren.

Ausgerechnet an der psychiatrischen Uni-Klinik, unter der Leitung von Walter von Baeyer, entzündete sich eine Auseinandersetzung, die später fatale Folgen haben sollte. Pross beschreibt von Baeyer als herausragende Erscheinung unter den Heidelberger Ordinarien: "Die psychiatrische Uni-Klinik war nach dem Krieg eine der fortschrittlichsten Kliniken dieser Art in Deutschland und sozusagen das Zentrum und die Werkstatt der Psychiatriereform." Dort arbeitete der Arzt Wolfgang Huber von 1961 an, bis er 1966 an die Poliklinik versetzt wurde. Und dort gründete er 1968 das ursprüngliche Patientenkollektiv.

Es war die Zeit der Studentenrevolte, das Infragestellen falscher Autoritäten, alter Nazis in Professorenrang, die Forderung nach Mitsprache und Mitgestaltung, nach radikaler Theorie und Praxis. Pross: "Huber hatte eine bestimmte Gabe zu erkennen, früher als andere, um was es sich bei einem Patienten handelte, obwohl er keine therapeutische Ausbildung hatte. Aber ein Psychiater sollte seine eigenen Autoritätskonflikte und Probleme bearbeitet haben, bevor er in Kontakt mit Patienten tritt. Und da lag das Problem bei Huber. Er hat seine eigenen Konflikte über die Patienten geleitet."

"Huber war in gewissem Maße größenwahnsinnig"

Huber, notiert Pross, ist durch die in die Gruppe strömenden Studenten radikalisiert und politisiert worden. In Heidelberg gab es – im Unterschied zu anderen Universitätsstädten – keine psychotherapeutische Beratungsstelle für Studenten. Es herrschte eine totale Unterversorgung für psychisch angeschlagene, vereinsamte oder durch Drogengebrauch gezeichnete Studenten. Eine solche Beratungsstelle hatte von Baeyer schon vor dem SPK gefordert, war aber vom Rektorat nicht einmal angehört worden. Und in der Poliklinik, wo Huber nun war, entstand fast urwüchsig eine Art Studentenberatung, sozusagen ein Geheimtipp. Aber, so Pross: "Huber war in gewissem Maße größenwahnsinnig, bei dieser Masse von zum Teil schwerkranken Patienten auf die Unterstützung eines professionellen Rahmens und Hilfe von Kollegen zu verzichten."

Huber war in seiner konfrontativen Art den Honoratioren ein Dorn im Auge. Zwanzig Klinikdirektoren unterstützten die im Februar 1970 ausgesprochene Kündigung gegen ihn, die Situation eskalierte. Im Juni 1970 bezeichnet sich Hubers Gruppe erstmals als Sozialistisches Patientenkollektiv, das SPK wurde nun zum Katalysator politischer Machtkämpfe in der Universität, landespolitischer Direktiven, psychiatrisch-fachspezifischer Auseinandersetzungen, Gutachterscharmützeln – und nicht zuletzt zu einem Konfliktzentrum, das die eigene Gruppe zu verschlingen drohte.

Pross beschreibt detailgenau den gesamten Entwicklungsprozess des SPK, seiner Aktivitäten und Theorien im Zuge der langsam ausklingenden Studentenbewegung. Anhand vieler Zeitzeugeninterviews und intensiven Archivstudien gelingt es ihm, ein schillerndes Bild der Stadt zu zeichnen. Heidelberg war zu jener Zeit ein Zentrum der Sekten: maoistische und leninistische Studentengruppen, Psychogruppen aller Art, etwa die Anhänger von Otto Mühls AAO-Kommune; die Pune-Gemeinde der Sanyasin hatte nicht wenige Aktivisten, schließlich die aus dem SPK kommenden Militanten. Die Generalfrage jener Zeit war, wer das revolutionäre Subjekt sei. Die Maoisten und marxistischen Dogmatiker erwählten das Proletariat; manch andere vermuteten die technische Intelligenz (zusammen mit den Arbeitern) als revolutionäres Subjekt; andere suchten in den Psychogruppen danach – und das SPK ernannte kurzerhand die Kranken zum Subjekt der Revolution.

"Aus der Krankheit eine Waffe machen"

17 Monate existierte das SPK, bis es verboten wurde – und diese Zeit, von Februar 1970 bis Juni 1971 – war ein Lauf im Zeitraffer: eine Betroffenengruppe erhebt verständliche und gerechtfertigte Forderungen, radikalisiert sich erstens durch die Ignoranz ihrer Umgebung und zweitens durch eine innere Dynamik der Bedrängung. Pross schildert eindrücklich, wie im SPK die "Pragmatiker", wie er sie nennt, von den Radikalen ausgeschaltet wurden – manchmal durch Fausthiebe; wie sich die Parole "Aus der Krankheit eine Waffe machen" zum Leitmotiv entwickelte – und darunter viele wirklich psychisch Kranke zu leiden hatten. "Die psychisch Kranken wurden von den politisch Radikalen instrumentalisiert", sagt er. Und "Verräter" mussten neutralisiert werden. Im SPK herrschte Angst und Abhängigkeit.

Eine Zeitzeugin aus dem SPK: "Diese politisch Radikalen waren wahrscheinlich gar nicht psychisch krank." Es wurde stundenlang Hegel gelesen, es wurden Schießübungen im Odenwald veranstaltet, "wie Räuber und Gendarm", so ein Teilnehmer. Ein immenser Gruppendruck entwickelte sich, ein "innerer Kreis" dominierte den Rest der Gruppe; Huber war, ob er wollte oder nicht, der Meister, der Guru, bezeichnete sich aber nichtsdestotrotz selbst als Patient, um das Autoritätsgefälle zu seinen Patienten zu mindern. Und wie in den meisten Sekten das Thema sexueller Missbrauch: Huber hatte sexuelle Beziehungen zu mehreren Patientinnen und verstieß somit radikal gegen das therapeutische Abstinenzgebot. 

Aus dem SPK erwuchsen die Terroristen Taufer, Schiller und Jünschke

Unter den politisch Radikalen im SPK waren die späteren Terroristen Lutz Taufer, Margit Schiller und Klaus Jünschke. Sie alle kamen von der Basisgruppe Psychologie an der Mannheimer Universität und beherrschten die Gruppe mit ihren revolutionären Theorien. Ein einziger "Theorie-Wahn", so Pross. Jünschke hat sich als Erster in glaubhafter Weise mit seiner Geschichte und deren Folgen beschäftigt. Taufer lebte nach dem SPK-Verbot noch einige Zeit in der Heidelberger Altstadt, zusammen mit jenen Personen, die 1975 als "Kommando Holger Meins" mit ihm in der deutschen Botschaft in Stockholm ein Blutbad anrichteten.

Noch 2010 antwortete Taufer, der 1992 öffentlich der Gewalt abschwor, in einem Interview mit dem schwedischen Fernsehen auf die Frage nach den Gründen der mörderischen Attacke in Stockholm: "Es reicht mir nicht, einfach zu sagen: hätten wir das nicht gemacht. Das reicht mir nicht. Es gab gewichtige Gründe zu handeln, etwas zu tun. Und ich finde diese Gründe auch heute noch notwendig für ein Handeln. Ich würde aber heute anders handeln [...] Ich finde es heute nach wie vor richtig, dass wir stark beunruhigt waren darüber, dass es in diesem Land nach Auschwitz noch immer etwas gab, wo man nicht ausschließen konnte, irgendwie ist das noch nicht Vergangenheit. Leider muss man heute diese Befürchtung wieder stärker haben."

Erst im Jahr 2012 bekannte sich der Exterrorist ohne Wenn und Aber zu seiner Mitschuld am Tod von Menschen und der "Zerstörung der Hoffnung auf eine menschlichere Welt". Doch zu den theoretischen Amokläufen in seiner SPK-Zeit, der Theorie eines Klassenkampfes gegen die "Ärzteherrschaft", der versuchten Instrumentalisierung psychisch Kranker als "revolutionäre Subjekte" finden sich in Pross' Buch von Taufer nur matte und abwiegelnde Allgemeinheiten: "Infolge der Ideologisierung durch den Druck von außen (sei) die menschliche Zuwendung und Aufmerksamkeit zu den Ängsten, Nöten und Problemen der Einzelnen zu kurz gekommen." Viele in Heidelberg empfanden damals schon allein die seltsamen Theorien und die Sprache des SPK als Instrumente des Terrors, ebenso das hermetische Auftreten des "Heidelberger Komitees gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD" – unter den Studenten als "Folterkomitee" ironisiert. Diese Gruppe war für Taufer und seinesgleichen das Sprungbrett in die RAF – nicht das SPK.

Die Fragen von damals stehen wieder auf der Tagesordnung

So geht in der Chronologie SPK–"Folterkomitee"–RAF bei ihren Protagonisten gerne die Ausgangsposition verloren. Pross aber lässt sich davon nicht beirren. Im psychiatrischen Feld sieht er auch heute viele Probleme. Vielerorts sind die Ansätze sozialer Psychiatrie mehr und mehr am Verschwinden, obwohl es immer noch beispielhafte Kliniken gibt, die sich um die Menschen kümmern. Etwa die lange (und früher zu Recht) verteufelte Psychiatrie-Klinik in Wiesloch, heute "Psychiatrisches Zentrum Nordbaden". Die "biologische Psychiatrie", das heißt die generelle Verabreichung von Psychopharmaka, schreitet wieder voran. Und um die Ecke lauert die bewährte "Verwahr-Psychiatrie".

Christian Pross hat mit seinem Buch eine außerordentlich lesenswerte Geschichte über die Entwicklung einer ehemaligen Betroffenengruppe, die sich zur politischen Sekte auswuchs, geschrieben. Angenehm vor allen Dingen sein Bemühen, weder in Glorifizierung noch in Verteufelung zu enden. Er sieht in seinem Buch, das von der Reemtsma-Stiftung gefördert wurde, nicht nur eine historische Thematik, für ihn steht das alles auch heute auf der Tagesordnung: "Die Fragen, die das frühe SPK aufgeworfen hat, nämlich die Rechte gerade der psychisch Kranken zu achten, nicht unnötig Zwang anzuwenden, nicht unnötig ihre Freiheit einzuschränken, ist auch heute ein hochaktuelles Thema und muss immer wieder neu bearbeitet und erkämpft werden."

 

Info:

Christian Pross (unter Mitarbeit von Sonja Schweitzer und Julia Wagner): Wir wollten ins Verderben rennen. Die Geschichte des Sozialistischen Patientenkollektivs Heidelberg; Psychiatrie Verlag 2016, 504 Seiten, 39,95 Euro.


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17 Kommentare verfügbar

  • Sophie
    am 09.11.2016
    Antworten
    Herr Damolin beginnt seinen Artikel mit einem Zitat von Karl Jaspers, ein Zitat aus dem Jahre 1922, also gut 50 Jahre vor dem SPK und somit schon rein zeitlich ohne jeden Bezug zum SPK. Aber Herr Damolin meint anscheinend, einen Philosophen und Psychiater bemühen zu müssen, um seine Hetze gegen das…
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