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Lernen aus Tschernobyl

Lernen aus Tschernobyl
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Vor 30 Jahren ereignete sich der Super-GAU von Tschernobyl, dann kam Fukushima. Zwei Katastrophen hat es gebraucht, damit Deutschland, die Schweiz und die Niederlande den Atomausstieg beschlossen. Inzwischen ist das globale Ende der Atomkraft absehbar. Ein paar gute Nachrichten.

Vor fünf Jahren liefen weltweit noch 438 AKW, heute sind es noch 391, und die Hälfte von ihnen muss in den nächsten 15 Jahren aus Sicherheits- und Altersgründen stillgelegt werden. Nur wenige neue AKW werden noch gebaut – und diese mit bis zu zehn Jahren und mehr Verspätung. Atomstrom ist zu teuer und mit den Erneuerbaren nicht mehr konkurrenzfähig. Die Alternativen sind deshalb preiswerter, weil Sonne und Wind keine Rechnung schicken und so gut wie keine Entsorgungskosten anfallen. Zudem sind Solaranlagen und Windräder weit schneller zu errichten als Atomkraftwerke.

Vor Fukushima erzeugten AKW weltweit 18 Prozent des Stroms. Heute sind es noch elf Prozent, Tendenz stark rückläufig. Neue Anlagen können nur noch dort gebaut werden, wo der Staat sie finanziert, privaten Anlegern ist das Risiko zu hoch. Die deutschen Betreiber sind mit Milliarden Euro verschuldet. Die französische Électricité de France sitzt sogar mit 37 Milliarden Euro in der Schuldenfalle.

China stellt 2016 noch acht Milliarden Dollar für Atomtechnik zur Verfügung, aber 83 Milliarden für erneuerbare Energie. Japan hat nach dem Fukushima-Debakel alle 48 Kraftwerke stillgelegt und bis heute nur zwei wieder ans Netz gebracht. Andererseits hat sich seit dem Jahr 2000 der Anteil des Solarstroms global verhundertfacht, die Windenergie verzehnfacht, der Bau von energieeffizienten Passivhäusern misst 160-mal so viele wie zur Jahrtausendwende. Diese positive Entwicklung verläuft global nicht linear, sondern exponentiell. Der Anfang vom Ende der Atomenergie ist erstmals in Sicht. Hierzulande will nur noch die AfD mit der Atomkraft in die Zukunft.

Gibt es nachhaltige Wirtschaft?

Können wir uns also eine Wirtschaft vorstellen, die nicht nur dem Kapital, sondern auch dem Gemeinwohl und den Menschen dient? Deren Wohlbefinden verbessert, den sozialen Fortschritt unterstützt und in der wir einen verantwortungsvollen und nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen lernen? 

Ja, das ist möglich, sagt der englische Zukunftsforscher John Elkington mit seiner These "Die Welt bleibt grün". Ernst Ulrich von Weizsäcker hat diese Möglichkeit schon vor Jahren in seinem Bestseller "Faktor Fünf" beschrieben. Ebenso der deutsche Chemieprofessor und Umweltforscher Michael Braungart und der US-amerikanische Architekt William McDonough in ihrem Buch "Intelligente Verschwendung – The Upcycle: Auf dem Weg in eine neue Überflussgesellschaft".

Braungart und McDonough sind die Begründer des "Cradle to Cradle"-Konzepts ("Von der Wiege in die Wiege"), das aufzeigt, dass wir Menschen zu weit eleganteren und effizienteren Umweltlösungen als bisher in der Lage sind. Der Klimawandel wurde von Menschen verursacht, also können ihn Menschen auch wieder stoppen. Es waren menschliche Entscheidungen, in die Atomkraft einzusteigen, also können Menschen auch wieder beschließen, aus der Atompolitik auszusteigen. So die Theorie der beiden Wissenschaftler. Die Hauptthese des "Cradle to Cradle"-Prinzips: Abfall war gestern – ab jetzt gibt es nur noch Nährstoffe, die bisher lediglich am falschen Platz waren. Alle Produkte verbleiben in einem steten Kreislauf. Nur noch gesunde, recycelbare und unbedenkliche Materialien werden eingesetzt.

Die drei Autoren zeigen an vielen konkreten Beispielen, dass wir schon heute Produkte so herstellen können, dass alle verwendeten Materialien wieder genutzt werden. Autos und Teppichböden, Waschmaschinen und Solaranlagen, auch Häuser können so gebaut werden. Teppiche und Farben können dazu beitragen, eine bessere Raumluft zu erzeugen. So wie ein Kirschbaum, der einen positiven Einfluss auf das Ökosystem um sich herum hat. In den USA und in Europa, in Indien, China und Japan setzen bereits viele Firmen mit Erfolg auf dieses neue Kreislaufprinzip. Dabei geht es nicht nur um eine neue Wirtschaft, sondern auch um ein neues Menschenbild: Der Mensch ist nicht länger Schädling, er wird Nützling.

Weniger Ich, mehr Wir

Alle Menschen können künftig zu einem nie gekannten ökologischen Wohlstand finden. Wir müssen freilich lernen, nicht länger gegen die Natur, sondern mit der Natur zu leben, zu arbeiten und zu wirtschaften. Das heißt natürlich auch: weniger Konkurrenzdenken und -handeln, sondern mehr Kooperation. Weniger Ich, mehr Wir. 

2014 und 2015 waren bereits bescheidene Wendejahre. 2015 beim Weltklimagipfel in Paris haben es erstmals in der Menschheitsgeschichte alle 195 Staaten und die EU geschafft, sich als Menschheitsfamilie zu verstehen und gemeinsam einem Klimaschutzabkommen zuzustimmen, das diesen Namen auch verdient. Doch die entscheidende Frage bleibt: Schaffen wir auch eine generelle und dauerhafte Wende? 

In den vergangenen beiden Jahren wurde weltweit bereits mehr Geld in erneuerbare Energien investiert als in fossil-atomare. 2014 ging der Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase seit Jahrzehnten erstmals leicht zurück – trotz steigender Wirtschaftskraft. Der Preis für eine Kilowattstunde Solarstrom sank in Deutschland von 70 Cent im Jahr 2000 auf etwa acht Cent heute, in sonnenreichen Ländern auf vier Cent und weniger. Deshalb ziehen jetzt immer mehr Investoren ihr Geld aus fossilen und atomaren Anlagen zurück – wie zum Beispiel der weltgrößte staatliche Vermögensfonds in Norwegen von Kohleinvestitionen. Soeben hat die weltgrößte Kohlefirma Pleite gemacht. Ja, sogar die Rockfeller-Stiftung und die deutsche Allianz-Versicherung werden sich von Kohle-Investitionen verabschieden.

Die Menschen wollen die Energiewende – in Deutschland zu über 80 Prozent, ähnlich in Japan und allmählich sogar in den USA. Diese positiven Entwicklungen werden auch von der größten Volkswirtschaft der Welt vorangetrieben, von China. Dort gab es 2014 sieben Prozent wirtschaftliches Wachstum, aber acht Prozent weniger Treibhausgase als im Vorjahr. Ein überraschender Fortschritt, kein Beweis für eine dauerhafte und globale Trendwende. Doch auf der Pariser Weltklimakonferenz hat China erstmals die Verhandlungen nicht mehr blockiert, sondern mit vorangetrieben.

Papst und Dalai-Lama sind sich einig

Auf geistiger Ebene, wohl der entscheidenden, unterstützt der Papst in seiner Enzyklika "Laudato si" ohne Wenn und Aber die Energiewende und den Klimaschutz ebenso wie auch der Dalai Lama in dem soeben erschienenen Buch "Ethik ist wichtiger als Religion", das ich mit ihm zusammen in acht Weltsprachen publizierte habe. 

Ökostrom ist kein Luxus mehr für wenige, sondern preisgünstige und umweltfreundliche Energie für alle. In Indien und in Afrika werden bereits Tausende Dörfer komplett mit Ökoenergie versorgt. Die Energiewirtschaft befindet sich weltweit in der Phase einer industriellen Revolution – von unten, wie jede erfolgreiche Revolution. Afrika und die Sonne: welch eine Vision! Wir können mit einer solaren Energiewende erstmals in der Menschheitsgeschichte den Hunger überwinden und ins Museum der Geschichte stellen. Voraussetzung dafür ist preiswerte und ausreichende Energie, Wasserversorgung und Bildung. Dieser Dreiklang verändert alles.

Der Ausstieg aus der Braunkohle ist der nächste Ausstieg nach dem Atomausstieg. Strom aus Braunkohle ist die mit Abstand klimaschädlichste Form der Stromerzeugung. Doch die unheilige Allianz aus kurzsichtigen Gewerkschaftlern und Kohlepolitikern in CDU und SPD ist noch immer stärker und einflussreicher als alle vernünftigen Gegenargumente der Klimaschützer. "Der gleichzeitige Ausstieg aus Atom und Kohle geht nicht", sagen Kanzlerin und Vizekanzler unisono. Doch diese Politik passt überhaupt nicht zusammen mit dem, was der G-7-Gipfel in Elmau verkündet hat, und auch nicht mit dem erklärten Ziel der Bundesregierung, bis 2050 bis zu 95 Prozent allen Stroms in Deutschland erneuerbar zu erzeugen. Die Weltbank hat schon vor Jahren ausgerechnet, dass keine Energiewende wegen der Folgekosten der alten Energieträger fünfmal teurer wird als eine rechtzeitige und intelligente Energiewende. Fakt ist auch: Durch erneuerbare Energieträger entstehen weit mehr Arbeitsplätze, als in den alten Energien verloren gehen.

Die Energiewende macht uns also zu Gewinnern: Es entstehen mehr Arbeitsplätze, wir schützen das Klima, leben in größerer Sicherheit und Unabhängigkeit. Und wir schaffen Wohlstand für alle. Allein die Sonne schickt uns jeden Augenblick unseres Hierseins 15 000-mal mehr Energie, als zurzeit alle Menschen verbrauchen. Eigentlich gibt es von Natur aus gar kein Energieproblem. Wir machen uns nur eines. Die Energiewende ist also keine Last, wie uns von Interessenvertretern und ihren politischen Helfern oft erzählt wird, sondern die großartige Chance, ein für allemal eines der größten Probleme unserer Zeit zu lösen. Unser Zentralgestirn liefert uns noch über sechs Milliarden Jahre alle Energie, die wir brauchen: preiswert, umweltfreundlich, ausreichend, für alle und für alle Zeit.


Franz Alt, Jahrgang 1938, engagiert sich seit vielen Jahren für ökologisches Wirtschaften. Die Bücher des früheren SWR-Journalisten (bis 2003) wurden in zwölf Sprachen übersetzt und erreichten eine Auflage von zwei Millionen. Sein Buch "Ethik ist wichtiger als Religion" hat er zusammen mit dem Dalai-Lama erarbeitet.

Seine Homepage ist <link http: www.sonnenseite.com de _blank>hier zu finden.


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2 Kommentare verfügbar

  • Müller
    am 27.04.2016
    Antworten
    Sehr guter Artikel. Über 80% der Bevölkerung wollen die Energiewende. Es tut gut, wenn bei einem so wichtigen Thema überwiegend Konsens herrscht. Sensationell, wie in Deutschland in den letzten zehn Jahren der Anteil der erneuerbaren Energien gestiegen ist. Und das ist hoffentlich erst der Anfang.
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