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Völkisches Erwachen

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Wenn in Sachsen-Anhalt die AfD zweitstärkste Partei ist, wenn im sächsischen Bautzen ein geplantes Flüchtlingsheim brennt und Schaulustige hämisch lachen, wundert sich unser Autor nicht. Im Osten hat er den Hass auf alles Fremde schon 1974 erlebt.

Sommer 1974. Mit Joachim, dem Pianisten unseres Jazzquintetts, erstmals eine Reise in den unbekannten Ostblock. Ein Abenteuerurlaub. Von Heidelberg über Pilsen nach Prag. Vier Tage in der "goldenen Stadt" auf der Suche nach Jazz: Reduta, Malostranska Beseda, Viola; Jirí Stivin und seine Gruppe im Jazzkeller; viele tschechische Oppositionelle, Studenten, Boheme. Der "Prager Frühling" ist gerade sechs Jahre vorbei und, wie mir scheint, die Lage nur oberflächlich ruhig. Viele politische Diskussionen, die Neugierde auf den Westen, die Hoffnung auf Demokratie. In Heidelberg propagieren im selben Moment die Maoisten den "Sieg im Volkskrieg" überall.

Im Studentenwohnheim Jura Hronca in Bratislava lernen wir zwei Studenten aus Cottbus kennen. Gleich nach den ersten Minuten des Kennenlernens ziehen sie, wie getrieben, verbal vom Leder – sozusagen als sofortige Erkennungsmarke gegenüber den Studenten aus dem kapitalistischen Westen. Sie ätzen über ihren Scheißstaat, die beschissenen Produkte dort, vor allem Autos, den Sozialismus, die Funktionäre, das ganze Leben in der DDR – das ist noch verständlich. Aber dann: Hetztiraden gegen die vielen "Fidschis" und "Kanaken" in ihrem Land, gegen die Menschen in den restlichen Ostblockstaaten, alles nur minderwertige Gestalten, die ihnen nicht das Wasser reichen könnten. Von diesem "Gesocks" könne man sich nur auf radikale Weise distanzieren. Sie repräsentierten schließlich das deutsche Volk, auch wenn es leider noch in zwei Staaten zu leben gezwungen sei. Wir sind das deutsche Volk, so ihr Tenor. Und wir sind nicht die Einzigen, die so denken. Es sind viele, sagen sie.

Mein Kumpel Joachim, Schwabe und immer bedächtig und ausgleichend, versucht, die beiden etwas von ihrem chauvinistischen "Flow" herunterzuholen. Ohne Erfolg. Denn jetzt geht es erst richtig los. Wir kommen aus einer bundesrepublikanischen Situation, in der die NPD Wahlerfolge feiert, rechtsradikale Bürgerwehren Jagd auf Langhaarige und "Kommunisten" machen, und wir treffen hier in Bratislava auf zwei junge DDR-Bürger, die weit über all dies hinausgehen. Sie präsentieren eine Gedankenwelt, in der die NPD nur ein liberaler Kompagnon wäre. Neonazis pur. Mir klingeln die Ohren. Auf so etwas sind wir nicht vorbereitet. Ratlosigkeit.

Wir schweigen und ziehen von dannen, lassen uns ein neues Zimmer geben. Joachim ist irritiert, später verwundert er sich darüber, dass so etwas in der DDR "erlaubt" sei. Ich beschließe in meinem Zorn spontan, im slowakischen Studentenwohnheim, mit "diesen Idioten und Nazis" keine wie auch immer geartete Wiedervereinigung gutzuheißen oder gar aktiv zu unterstützen. Denn, so meine Überlegung, Probleme mit solchen Leuten haben wir im Westen genug. Später auf der Reise durch Ungarn, am Balaton, erleben wir in Restaurants, wie DDR-Bürger die Bedienungen schikanieren und sich als Herrenmenschen aufspielen. Das ist auch dem konservativen schwäbischen Spießbürger mit seiner Familie am Tisch nebenan ziemlich unangenehm, er übt sich im Fremdschämen. Ostblock 1974.

"Wir sind das Volk" war nie unschuldig

Februar 2016 im deutschen Fernsehen. Ein CDU-Politiker empört sich darüber, dass bei einem Brandanschlag auf ein geplantes Flüchtlingsheim im ostdeutschen Bautzen eine Menge johlend die Flammen begrüßt, ausländerfeindliche Parolen grölt und dann: "Wir sind das Volk." Der Politiker bezichtigt den rassistischen Mob, diese Parole von der friedlichen Revolution in Deutschland 1989 "geklaut" zu haben.

Das ist eine Theorie von Einfaltspinseln, denn diese Parole musste nicht geklaut werden. Sie war nie unschuldig, nie rein und allein in demokratisch-humanistischen Weihwassern getauft. "Wir sind das Volk" – das war von Anfang an ein Schlagwort, das auch die Abgrenzung gegenüber anderen mit sich trug, ein Slogan, in dem sich auch chauvinistische, rassistische und rechtsradikale Mentalitäten in nicht geringem Umfang verbargen. Wie übrigens ebenso der so vehemente und fiebrige Wunsch nach der D-Mark auch Ausdruck einer chauvinistischen Absonderung vom restlichen und minderwertigen Währungsschrott der ehemaligen Bündnisstaaten war. Jetzt war man etwas Besseres. Bei jeder Montagsdemo in Leipzig oder sonst wo marschierten Ende der 80er-Jahre diese Mentalitäten auch mit, skandierten: "Wir sind das Volk." So gesehen sind die rassistischen Ausschreitungen von heute auch die Fortführung dieses völkischen Erwachens von damals.

Diese Erbschaften der DDR werden uns noch weiter verfolgen. Spätestens seit Bautzen jedoch, Februar 2016, hat die Parole "Wir sind das Volk" ihren Heiligenschein verloren. Denn tatsächlich: Sie alle, sie sind auch das Volk. Und nicht zu vergessen: "Wir sind das Volk" ist das Motto der deutschen Wiedervereinigung. Pegida aus dem Osten, Jahrgang 2014, die "patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" treffen sich heute mit den Nachkommen des rassistischen "Heidelberger Manifests", Jahrgang 1981, als im Westen über Überfremdung und "Auslöschung des deutschen Volkes" geschwafelt wurde. Motto damals: "Europa den Europiden."

Jetzt haben sich beide gefunden, die Demo geht weiter – "wiedervereinigt".


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11 Kommentare verfügbar

  • Michael Wenk
    am 30.03.2016
    Antworten
    "Kaum ein Satz wird von RechtsextremistInnen in der Konfrontation mit AntifaschistInnen häufiger zitiert als der Ignazio Silone zugeschriebene Satz.

    Der Satz findet sich in Nazi-Foren wie etwa thiazi oder der rechtsextremistischen „Weltnetzenzyklopädie“ Metapedia“ wie auch in Reden und…
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